TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов

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Eine erste Fassung, die er nach eigenen Notizen der Sekretärin diktiert hatte, wurde – so das typische Vorgehen – weiterer Bearbeitung unterzogen: Adorno nahm auf dem Typoskript eigenhändige Streichungen, Hinzufügungen, Ersetzungen und Umstellungen vor. Die entstandene Fassung ließ er von der Sekretärin abschreiben, die das Handschriftliche in ein neues Typoskript einarbeitete. Dieser Vorgang – das eigenhändige Bearbeiten und Abtippenlassen – konnte sich einige Male wiederholen.

      Dies Umschreiben hat den Tonus der Texte erhöht. Es machte sie straffer und dichter. Es brachte selten mehr Textvolumen, oft aber Gewinn an gedanklicher Konzentration und Intensität. Für Adornos Schreiben gilt: Er hat nicht nur versucht, Gedanken besser auszudrücken, sondern auch, durch sprachlichen Ausdruck Gedanken zu verbessern. Die korrigierenden Arbeitsgänge wollten auch auf Gedankenverbesserung hinaus.

      Mit dem Abschluss einer Arbeit waren frühere Etappen für Adorno in der Regel abgetan. Dennoch sind sie rekonstruierbar geblieben. Er hat die Fassungen seiner Aufsätze und Bücher aufbewahrt. Mag er sie als Vorstufen betrachtet haben, für die Forschung im Archiv gewinnen sie lebendiges Interesse. Besonders auch durch das Gestrichene. Es weckt die Neugier: Warum hat Adorno es verworfen? Und lässt, was er strich, nicht den Text anders und besser verstehen? Ist es nicht mehr als die Schlacke, die abgefallen ist?

      Aufschlussreich sind Frühfassungen besonders auch von Büchern, die Adorno nach Umarbeitungen erst Jahre später zum Druck befördert hat. Das ist der Fall bei bedeutenden Schriften über Søren Kierkegaard – »Konstruktion des Ästhetischen in Kierkegaards Philosophie« (1929 / 30) –, Edmund Husserl – »Husserlbuch« (1934–1937) – und Richard Wagner (1937 / 38). Die Drucktexte der Bücher »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen« (1933), »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie« (1956) und »Versuch über Wagner« (1952) werden später erheblich variieren. Man wird sie jedenfalls mit erweitertem Verständnis und Erkenntnisgewinn lesen, wenn man im Archiv auch auf den Fundus der Originalmanuskripte zurückgeht.

      Auch ein literarischer Nachlass besteht selten nur aus Papieren. Der Adorno-Archivar registriert, dass das schriftliche Material (zumindest ab den 1950er Jahren) in großer Vollständigkeit hinterlassen wurde, Tondokumente jedoch nur in überschaubarer Zahl. Die Tonbänder, die Adorno hinterließ, sind schon bald nach seinem Tod mit solchen aus fremder Provenienz vermischt worden. Ein Teil dieses Audiomaterials, vor allem aus Rundfunkanstalten, wurde posthum von Gretel Adorno (mit der Hilfe von Alexander Kluge) zusammengetragen. Andere Teile der Sammlung kamen in den 1980er Jahren und später ins Adorno Archiv. Durch Recherchen bei Rundfunkarchiven konnten die vielen Lücken, die der nachgelassene Kernbestand ließ, geschlossen werden.

      Adornos Vorlesungen ab 1958 sind als Transkriptionen vorhanden. (Von den älteren Vorlesungen sind oft nur die Stichworte erhalten, auf die er sich beim Sprechen stützte, oder auch Nachschriften, die mitstenografiert und danach getippt worden waren.) Die Abschriften nach Tonband haben Sekretärinnen erstellt. Nach der Transkription wurden die Aufnahmen gelöscht, indem man die Tonbänder, die, zumal in guter Qualität, damals nicht billig waren, neu bespielte. So kommt es, dass die »Einführung in die Soziologie« (1968) die einzige Vorlesung ist, die als Tonaufnahme vollständig – besser: nahezu vollständig – erhalten blieb. Es gibt zu den Vorlesungen fast nur schriftliches Material (12 064 Seiten Typoskripte und Manuskripte).

      Was insbesondere Schriften aus späteren Jahren anlangt, so sind in sie nicht selten auch Formulierungen und Gedanken aus Vorlesungen oder Vorträgen eingegangen. Adorno ließ seine Vorlesungen auf Tonband aufzeichnen und danach transkribieren, um die Möglichkeit zu haben, sie für spätere Arbeiten zu nutzen. Die Transkriptionen waren für ihn selbst zur Wiedervorlage gedacht. Sie waren ein Reservoir. Auf den Typoskriptblättern finden sich mitunter diagonale Streichungen von Passagen oder Absätzen. Sie meinen nicht ein Verwerfen der betreffenden Gedanken, sondern weisen auf Übernahmen in Manuskripte von Werken. Aus den Ästhetik-Vorlesungen von 1961 / 62 etwa ist einiges in die »Ästhetische Theorie« eingegangen.

      Der Brief an Günther weist auf das grundsätzlich Verschiedene von Vortrag und ausgearbeitetem Text hin. Adorno hat es immer wieder betont: Eine Rede sei keine Schreibe,


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