TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
Eine erste Fassung, die er nach eigenen Notizen der Sekretärin diktiert hatte, wurde – so das typische Vorgehen – weiterer Bearbeitung unterzogen: Adorno nahm auf dem Typoskript eigenhändige Streichungen, Hinzufügungen, Ersetzungen und Umstellungen vor. Die entstandene Fassung ließ er von der Sekretärin abschreiben, die das Handschriftliche in ein neues Typoskript einarbeitete. Dieser Vorgang – das eigenhändige Bearbeiten und Abtippenlassen – konnte sich einige Male wiederholen.
Adornos Texte sind Arbeitsprodukte, in geduldiger Mühe entstanden. Ihr Werden lässt sich im Archiv gut nachvollziehen. Arbeitsprozesse mündeten in Fassungen letzter Hand. Diese für ihn verbindlichen und endgültigen Fassungen hatten sich von den ersten, rohen, der Sekretärin diktierten weit entfernt. Adorno schrieb einmal: »die zweiten Fassungen sind bei mir immer der entscheidende Arbeitsgang, die ersten stellen nur ein Rohmaterial dar, oder (…): sie sind ein organisierter Selbstbetrug, durch den ich mich in die Position des Kritikers meiner eigenen Sachen manövriere, die sich bei mir immer als die produktivste erweist.«8 Hinzuzufügen ist, dass es oft auch dritte, vierte (mitunter sogar fünfte, sechste) Fassungen gab, in denen Adorno noch Entscheidendes geändert hatte. So sind die Texte wiederholt durch den Engpass kritischen Sprachgefühls gegangen.
Dies Umschreiben hat den Tonus der Texte erhöht. Es machte sie straffer und dichter. Es brachte selten mehr Textvolumen, oft aber Gewinn an gedanklicher Konzentration und Intensität. Für Adornos Schreiben gilt: Er hat nicht nur versucht, Gedanken besser auszudrücken, sondern auch, durch sprachlichen Ausdruck Gedanken zu verbessern. Die korrigierenden Arbeitsgänge wollten auch auf Gedankenverbesserung hinaus.
Mit dem Abschluss einer Arbeit waren frühere Etappen für Adorno in der Regel abgetan. Dennoch sind sie rekonstruierbar geblieben. Er hat die Fassungen seiner Aufsätze und Bücher aufbewahrt. Mag er sie als Vorstufen betrachtet haben, für die Forschung im Archiv gewinnen sie lebendiges Interesse. Besonders auch durch das Gestrichene. Es weckt die Neugier: Warum hat Adorno es verworfen? Und lässt, was er strich, nicht den Text anders und besser verstehen? Ist es nicht mehr als die Schlacke, die abgefallen ist?
Aufschlussreich sind Frühfassungen besonders auch von Büchern, die Adorno nach Umarbeitungen erst Jahre später zum Druck befördert hat. Das ist der Fall bei bedeutenden Schriften über Søren Kierkegaard – »Konstruktion des Ästhetischen in Kierkegaards Philosophie« (1929 / 30) –, Edmund Husserl – »Husserlbuch« (1934–1937) – und Richard Wagner (1937 / 38). Die Drucktexte der Bücher »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen« (1933), »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie« (1956) und »Versuch über Wagner« (1952) werden später erheblich variieren. Man wird sie jedenfalls mit erweitertem Verständnis und Erkenntnisgewinn lesen, wenn man im Archiv auch auf den Fundus der Originalmanuskripte zurückgeht.
Auch ein literarischer Nachlass besteht selten nur aus Papieren. Der Adorno-Archivar registriert, dass das schriftliche Material (zumindest ab den 1950er Jahren) in großer Vollständigkeit hinterlassen wurde, Tondokumente jedoch nur in überschaubarer Zahl. Die Tonbänder, die Adorno hinterließ, sind schon bald nach seinem Tod mit solchen aus fremder Provenienz vermischt worden. Ein Teil dieses Audiomaterials, vor allem aus Rundfunkanstalten, wurde posthum von Gretel Adorno (mit der Hilfe von Alexander Kluge) zusammengetragen. Andere Teile der Sammlung kamen in den 1980er Jahren und später ins Adorno Archiv. Durch Recherchen bei Rundfunkarchiven konnten die vielen Lücken, die der nachgelassene Kernbestand ließ, geschlossen werden.
Adornos Vorlesungen ab 1958 sind als Transkriptionen vorhanden. (Von den älteren Vorlesungen sind oft nur die Stichworte erhalten, auf die er sich beim Sprechen stützte, oder auch Nachschriften, die mitstenografiert und danach getippt worden waren.) Die Abschriften nach Tonband haben Sekretärinnen erstellt. Nach der Transkription wurden die Aufnahmen gelöscht, indem man die Tonbänder, die, zumal in guter Qualität, damals nicht billig waren, neu bespielte. So kommt es, dass die »Einführung in die Soziologie« (1968) die einzige Vorlesung ist, die als Tonaufnahme vollständig – besser: nahezu vollständig – erhalten blieb. Es gibt zu den Vorlesungen fast nur schriftliches Material (12 064 Seiten Typoskripte und Manuskripte).
Was insbesondere Schriften aus späteren Jahren anlangt, so sind in sie nicht selten auch Formulierungen und Gedanken aus Vorlesungen oder Vorträgen eingegangen. Adorno ließ seine Vorlesungen auf Tonband aufzeichnen und danach transkribieren, um die Möglichkeit zu haben, sie für spätere Arbeiten zu nutzen. Die Transkriptionen waren für ihn selbst zur Wiedervorlage gedacht. Sie waren ein Reservoir. Auf den Typoskriptblättern finden sich mitunter diagonale Streichungen von Passagen oder Absätzen. Sie meinen nicht ein Verwerfen der betreffenden Gedanken, sondern weisen auf Übernahmen in Manuskripte von Werken. Aus den Ästhetik-Vorlesungen von 1961 / 62 etwa ist einiges in die »Ästhetische Theorie« eingegangen.
Auch improvisierende Vorträge, Gespräche oder Interviews konnten etwas enthalten, das Adorno noch ausarbeiten wollte. In einem Brief an Laurenz Wiedner vom Österreichischen Rundfunk schrieb er am 30. Oktober 1958: »(…) durch Zufall höre ich, daß das kleine Interview über Mahler, das ich im April diesen Jahres gab, am letzten Mittwoch übertragen worden ist. Es würde mich sehr interessieren zu erfahren, ob die Sache irgendwelche Resonanz fand und welcher Art sie war. Auch: ob Sie, wie es in Deutschland bei derartigen Radioveranstaltungen allgemein üblich ist, das Interview stenographisch aufgenommen haben und hektographieren ließen. Sollte das der Fall sein, so wäre ich für einen Durchschlag sehr dankbar, um so mehr als die Sache eine Reihe von Motiven enthält, die ich in einer größeren Arbeit über Mahler auszuarbeiten gedenke. Unter Umständen wäre mir auch mit dem Band geholfen, das ich hier umspulen und transkribieren lassen könnte.«9
Einige Vorträge und Gespräche wären nicht überliefert, wenn es nicht Transkriptionen geben würde, die Adorno (auf oder ohne seine Veranlassung) von den Veranstaltern zugeschickt worden sind. Die Bearbeiterinnen oder Bearbeiter dieser Nachschriften sind teils bekannt, teils anonym. Leider sind die Transkriptionen oft sehr unzulänglich. Stellenweise finden sich Aussparungen, Spatien für das, was nicht verstanden wurde. Die lücken- und fehlerhaften Transkriptionen machen es stellenweise schwierig zu rekonstruieren, was Adorno wirklich gesagt hat. Dies allerdings war das Ziel, das die Edition der »Vorträge 1949–1968« verfolgte.10
Die meisten seiner Vorträge hat Adorno nicht nur einmal gehalten. Sondern verschiedenenorts – und zwar in leicht variierter Version. »Kultur und Culture« darf als der Vortrag gelten, mit dem Adorno am häufigsten aufgetreten ist, insgesamt achtzehnmal.11 Für die »Amerika-Häuser« war die Thematik ideal. Dort wurde der Vortrag zumeist unter dem Titel »Deutsche und amerikanische Kultur – sind sie vergleichbar?« angekündigt.
Veranlasst durch einen Zeitungsbericht über einen dieser Auftritte, schrieb Joachim Günther, Herausgeber der »Neuen Deutschen Hefte«, an Adorno und bekundete Interesse, den Vortrag in seiner Zeitschrift zu bringen. Adorno antwortete ihm am 22. Mai 1957: »Leider kann ich Ihnen den Vortrag über die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen der amerikanischen und deutschen Kultur nicht geben. Und zwar keineswegs deshalb, weil bereits darüber disponiert wäre, sondern weil es diesen Vortrag in literarischer Form nicht gibt. Ich habe ihn in verschiedenen Amerikahäusern ganz frei gehalten, lediglich aufgrund von Notizen. Aus diesen Notizen einen Text zu machen, der sich drucken ließe, wäre eine unendlich langwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, zu der ich eben einfach nicht komme. Ganz abgesehen davon, daß diese Sache wirklich als Vortrag, im Sinne unmittelbarer Einwirkung auf Zuhörer, konzipiert ist, und nicht als Text, und daß ich diesen Grundcharakter antasten würde, wenn ich versuchte, ihn ›auszuarbeiten‹. Schon allein der Begriff ›Kultur‹ – das Wort kann ich allenfalls, wenn auch nicht ohne Scham, in den Mund nehmen, aber nicht in die Feder. Sie verstehen mich.«12
Der Brief an Günther weist auf das grundsätzlich Verschiedene von Vortrag und ausgearbeitetem Text hin. Adorno hat es immer wieder betont: Eine Rede sei keine Schreibe,