TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. Группа авторов
beantworten: durch Aufnahme oder Absage von Angeboten.
Über Geld spricht man in Marbach nicht, aus gutem Grund; manchmal werden trotzdem Zahlen bekannt. Ist der Bund an einem Ankauf beteiligt, so lassen sich aus dessen Anteil Rückschlüsse ziehen.6 Für acht Millionen Euro erwarb Marbach 2009 die Archive der Verlage Suhrkamp und Insel. Zuvor wurden sie am Verlagssitz in Frankfurt am Main verwaltet, als Dauerleihgabe in der Goethe-Universität, ebenso das Uwe-Johnson-Archiv, das Siegfried Unseld bereits 1984 als Depositum übergeben hatte.7 Die Mittel für den Ankauf kamen vom Land Baden-Württemberg, vom Bund, aus Stiftungen und von privaten Sponsoren. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach richtete – in Kooperation mit mehreren Universitäten – ein Promotionskolleg zur Erschließung der Verlagsarchive ein, für das die Volkswagen-Stiftung 950 000 Euro zur Verfügung stellte. Knapp drei Jahre später wurde das Johnson-Archiv wieder abgezogen – es fehlten Marbach die finanziellen Mittel, um es zusätzlich zum Verlagsarchiv zu erwerben – und wanderte zur Universität Rostock, wo Uwe Johnson einstmals Germanistik studierte.
Das verstärkte Interesse an Verlagsarchiven bezeugt auch einen Blickwechsel: Galt das Interesse früher der individuellen Dichterpersönlichkeit und der Werkgenese, waren entsprechend Manuskripte und Briefwechsel die bevorzugten Sammelobjekte, so rückt zunehmend der Kontext literarischer Produktion und die Vernetzung im Literaturbetrieb in den Fokus. Im wissenschaftlichen Umgang mit Verlagsarchiven haben, wie der Leipziger Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis betont, die alten Bundesländer Nachholbedarf: »Dass seit 1990 schlagartig zahlreiche Archive von DDR-Verlagen und staatlichen Kulturinstitutionen zur Verfügung standen und erforscht werden konnten, hatte im Westen zunächst keine Parallele.«8 »Eine Archivexpedition« unternahmen das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin gemeinsam ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung.9 Die DDR ist ein abgeschlossenes Sammelgebiet mit einer besonderen Quelle. »Zu den größten deutschen Literaturarchiven zählt das Bundesarchiv mit seiner Dienststelle Berlin-Lichterfelde. Hier lagern die Druckgenehmigungsakten der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur. Fast zu jedem Buch, das zwischen 1951 und 1989 in der DDR erschienen ist (…), finden sich hier ein Antrag, manchmal das Manuskript und mindestens zwei Gutachten.«10 Lokatis schätzt, dass die Hinterlassenschaft der Hauptverwaltung im Bundesarchiv allein für die Schöne Literatur 20 000 Druckgenehmigungsvorgänge umfasst.
Zurück zur Gegenwart, die im Archiv zur Vergangenheit wird. Zur Einlieferung von Christian Kracht,11 der zuvor schon seine in Nepal gesammelte »Kathmandu Library« Marbach überließ, gehört, was man von einem Schriftsteller erwarten kann: Typo- und Manuskripte, darunter »Vampyr«, ein erster Entwurf zum Roman »Die Toten«, das Korrekturexemplar des Romans mit Anmerkungen des Lektors, ein Drehbuch, frühe Essays, Notizbücher sowie, bei Kracht wenig überraschend, Reiseunterlagen, Flugtickets, Visitenkarten von Hotels aus aller Welt. Urkunden und Bescheinigungen, von einer argentinischen Pilotenschule und der Besteigung des Kilimandscharo, außerdem im grünen Karton eine kleine Figur: Sigmund Freud in Plastik, noch eingeschweißt. Was geschieht nun mit dem Nippes? Auch Plastik-Freud wird ordentlich katalogisiert und archiviert und somit der Nachwelt überliefert »Mag sein (…), daß die Literatur das Archiv als wilder Kerl betritt«, sinniert Raulff in seinem Essay »Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?«: »Aber wenn sie es verlässt, ist sie eine Kulturtatsache.«12
Das Archiv – eine Begriffsverwirrung
»Das Archiv zirkuliert. Der Schlüsselbegriff der Wissensgeschichte kursiert in Philosophie und Epistemologie, in Kunst- und Kulturwissenschaft, in Medien-, Wissenschaftsgeschichte. In allen diesen Bereichen ist er zur geläufigen Metapher für kulturelles Gedächtnis, Bibliothek und Museum, ja für jede Art der Speicherung geworden«, beklagen Knut Ebeling und Stephan Günzel in ihrer Einleitung zu dem Band »Archivologie«.13 Schon der Titel ihres Buches verweist auf Jacques Derrida und dessen Buch »Dem Archiv verschrieben«. Die von ihm projektierte Archivologie verstand er als »eine allgemeine und interdisziplinäre Wissenschaft des Archivs«.14
Vorausgegangen war ein viel zitiertes Diktum von Michel Foucault, das den Diskurs in den 1990er Jahren bestimmte. Archiv bezeichnet bei ihm nicht einen materiellen Aufbewahrungsort, sondern er verwendet den Begriff metaphorisch. Denn unter Archiven versteht Foucault »nicht die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will«.15 Der Philosoph betont, dass er ebenfalls »nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit (…) bewahrt hat«, als Archive bezeichnen würde.16 Foucault begreift das Archiv als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«, als »System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht«. Jenseits der abstrakten Metapher hat Foucault mit seinem Text das traditionelle Verständnis des real existierenden Archivs erschüttert. »Das Archiv ist nicht der Ort, auf den man stets zurückgreifen kann, um die Fakten zu finden, es ist der aktive Vorgang, welcher für eine permanente Umschichtung und fortlaufende Transformation der Fakten sorgt.«17
Derrida schreibt Foucault fort, wenn er konstatiert: »Eine Wissenschaft des Archivs muß die Theorie dieser Institutionalisierung, das heißt zugleich die Theorie des Gesetzes, das sich anfangs darin einschreibt, und des dadurch autorisierten Rechts, einschließen.«18 Er koppelt das »Gesetz des Sagbaren« wieder an das reale Archiv: »In der Überkreuzung des Topologischen und des Nomologischen, vor Ort und Gesetz, Träger und Autorität, wird ein Schauplatz verbindlicher Ansiedlung sichtbar und unsichtbar zugleich.«19 Das Archiv ist ein Ort der Produktion einer Erzählung, es entscheidet, was und »in welcher Form Geschichte verfügbar ist und was unter Verschluss bleibt«.20 Schon der Untertitel von Derridas Buch: »Eine Freudsche Impression« offenbart, dass Verdrängung dessen, was nicht ins Archiv kommt, ebenso aussagekräftig ist wie die dort bewahrten Archivalien.
Das Archiv ist Aleida Assmann zufolge »ein kollektiver Wissensspeicher«.21 Prinzipiell lassen sich zwei Arten von »institutionalisierte(m) Gedächtnis« feststellen, das »Funktionsgedächtnis« und das »Speichergedächtnis«.22 Ersteres zeichnet sich durch einen »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« aus.23 »In totalitären Staaten, die eine zentrale Kontrolle über das soziale und kulturelle Gedächtnis ausüben, oder dort, wo die Kriterien der Aufnahme zu einer engen Begrenzung führen, wird das Archiv die Form eines Funktionsgedächtnisses annehmen.«24 Das Speichergedächtnis wiederum ist ein »Gedächtnis zweiter Ordnung (…), das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat«.25 Die Zuordnungen sind jedoch nicht beständig, ein Übergang in beide Richtungen ist möglich.
Boris Groys kritisiert Foucaults Definition. Denn einerseits