Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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bedingte,4 gingen die Vorstellungen von der politischen Gestaltung des Neuanfangs stark auseinander.5 In Konkurrenz zu einem ‚föderativen‘, einem ‚großserbischen‘ und einem ‚separatistischen‘ Modell zielte das dominante ‚integrative Modell‘ auf die „vollkommene wechselseitige Integration auf der Basis des Jugoslawismus und damit Überwindung der Einzelnationalismen“ ab.6

      Im Bereich kulturpolitischer Vorstellungen scheint die Dominanz projugoslawischer Positionen noch deutlicher gewesen zu sein. Diese Positionen waren allerdings auch selbst breit gefächert:7 Das Kontinuum reichte von der Unifizierung, über kulturelle Zusammenarbeit der ‚Volksstämme‘ bis zur bloßen gegenseitigen Toleranz.8 Dem o.g. ‚integrativen Modell‘ im Politischen entsprach die Befürwortung einer Unifizierung im kulturellen Bereich. Je nachdem, welcher Stellenwert dabei den einzelnen Teilkulturen gegeben wurde, können nach B. A. Wachtel bei den Befürwortern der Unifizierung die folgenden Modelle unterschieden werden: 1. ein romantisch-leitkulturelles, 2. ein multikulturelles und 3. ein transkulturelles Modell.9 Während das erste von einer (serbischen) Leitkultur ausging und das dritte eine Überwindung jeglicher Nationalkultur im Zeichen des kommunistischen Internationalismus anstrebte, zielte das dominante ‚multikulturelle‘ Modell auf eine Synthese der drei offiziellen jugoslawischen ‚Stammeskulturen‘ der Serben, Kroaten und Slowenen ab.

      Die kroatische Hauptstadt war schon in der Vorkriegszeit ein wichtigstes Zentrum projugoslawischer Agitation gewesen und bleibt dies im kulturellen Bereich auch nach der weitgehenden Abwendung der kroatischen politischen Elite vom jugoslawischen Projekt nach 1921. Unter den projugoslawischen Literaturzeitschriften in Zagreb10 hebt sich „Književni Jug“ durch die substanziell und zeitlich kompakte, d.h. radikale und zugleich kurzlebige, auf die Übergangszeit beschränkte Variante des ‚multikulturellen‘ Modells ab. Gegründet wurde die Zeitschrift von Vertretern der „nationalistische[n] Jugend jugoslawischer Orientierung“,11 die nach der am 2. Juli 1917 von Kaiser Karl verkündeten Amnestie für politische Verbrechen nach Zagreb gekommen waren. Herausgeber waren in chronologischer Folge: der kroatische und serbische Schriftsteller Niko Bartulović (1890–1943), der spätere serbische Historiker Vladimir Ćorović (1885–1941), der spätere jugoslawische Klassiker Ivo Andrić (1892–1975), der slowenische Schriftsteller Anton Novačan (1887–1951) und der spätere serbische Klassiker Miloš Crnjanski (1893–1977). Nicht wenige der rund 150 Namen, die auf den insgesamt 1836 Seiten der nominellen Halbmonatsschrift publiziert hatten, waren etablierte oder aber vielversprechende junge Autoren, die heute zu den Klassikern zählen: Neben den Herausgebern Andrić und Crnjanski gehören zu dieser Riege auch Ivo Vojnović, Isidora Sekulić, Tin Ujević und Miroslav Krleža.

      Der zukünftige Status der Autoren ist im vorliegenden Zusammenhang freilich nur als Indiz für die Verbreitung des projugoslawischen Standpunkts in der literarischen Elite um 1918 relevant. Relevanter ist der Vergangenheitsbezug der Autoren: Als habsburgische und serbische Untertanen waren sie Erben einer Staatenordnung, die einen südslawischen Zusammenschluss einerseits verhinderte, andererseits zunehmend attraktiv erscheinen ließ. Vor dem Hintergrund der alten Ordnung entfaltete sich nun der Effekt einer Koselleck‘schen ‚Erinnerungsschleuse‘:12 die Identifikation mit einer südslawischen Volksgemeinschaft, deren bedeutende Teile just aus dem imperialen ‚Völkerkerker‘ ausbrechen und im geopolitischen Brachland ihren südslawischen Brüdern und Schwestern entgegen eilen. Für die radikalen Verfechter der integralistischen Option öffnete dieser Standpunkt den Blick in eine völlig neue Zukunft.

      2. Separation: im Umfeld der postimperialen ‚Stunde Null‘

      Folgt man der Typologie von Hans-Ulrich Wehler,1 so ist der südslawische Integrationsprozess insgesamt, und ganz unmittelbar in seiner dramatischen Kulmination von 1918, eine Kombination des ‚sezessionistischen‘ und des ‚unifizierenden‘ Typus des Nationalismus gewesen: Mit dem Zerfall der multiethnischen Reiche ergab sich die historische Chance einer nationalstaatlichen Vereinigung südslawischer Ethnien über die Grenzen der alten Staatenordnung hinweg. Der notorische Zusammenhang von Sezession und Unifikation im Jahr 1918 musste im Rahmen des ‚integrativen Modells‘ der Vereinigung, ausgerichtet auf die „vollkommene wechselseitige Integration auf der Basis des Jugoslawismus“,2 eine Zuspitzung erfahren, da die ‚vollkommene Integration‘ eine restlose Lösung aus alternativen Zusammenhängen vorauszusetzen schien.

      Exemplarischen Ausdruck findet das Phantasma von einer postimperialen ‚Stunde Null‘ in einer Umfrage zur Freiheit, gestartet von der Redaktion der Zeitschrift „Književni Jug“ Ende 1918 mit der Frage nach den persönlichen „Gefühle[n] und Gedanken zur Volksbefreiung“.3 Die erste abgedruckte Antwort stammt von Ivo Vojnović, einem der bedeutendsten Autoren der ästhetizistischen Moderne und überzeugtem jugoslawischen Patrioten,4 gestaltet in Form eines lyrisch getönten Kurzessays unter dem ironischen Titel Dasselbe, nur ein wenig anders.5 Das erzählende Ich schaut durchs Fenster und betrachtet die gewandelte Landschaft der historischen Gegenwart. Auf die Ansicht der neuerwachten Natur folgt das ebenso naturmetaphorisch konturierte Bild historischer Müllentsorgung: „Dann aber ruhte ich mich aus von der schweren Bürde des Glücks und richtete mein geistiges Auge auf den angeschwollenen, schlammigen Fluss der Niederlage […].“6 Der Anblick entsorgter imperialer Altlasten, dominiert von den flüchtenden Habsburgern und ihren von Handlangern der imperialen Macht zu Möchtegern-Republikanern gewandelten Untertanen, führt zu der folgenden erinnerungspolitischen Bilanz:

      Vor dieser ekelhaften aber gesundheitsfördernden Ansicht äußerster Schande und des Endstadiums jener Krankheit, die in der Pathographie des endgültigen Untergangs des Metternichschen Reiches für alle Zeiten den Namen: lues Austriaca erhalten wird, – erschauderte ich ob der Jahrhunderte unserer Blindheit, unserer Charakterlosigkeit, die uns die Herrschaft solcher Herren, die Züchtigung durch solche Knechte ertragen ließ, – und weit öffnete ich nun das Fenster in dem entfesselten Drange, in diesen Strom aus Fäulnis und Dreck zu spucken – doch es hatte auf der Flur zu schneien begonnen… […]

      – Im Vergessen die Rettung! – erscholl der Ruf des schwarzen Schattens der Vergangenheit durch die wirbelnden Flocken aus vereisten Tränen und ausgezehrten Leiden, welche fielen und fielen und alle Missgestalten, alle Leiden, allen Schmutz des Lebens und der Welt überdeckten.

      Nur dies rief ich dem Schatten zu: – So ist es! Und ich schloss das Fenster.7

      Das Bild der historischen Müllentsorgung und der Behandlung einer „lues Austriaca“, unterstützt vom Vergessen als therapeutischer Maßnahme zur Tilgung der historischen Schande der Fremdherrschaft: Dieses Bild impliziert eine posthabsburgische Genesung, ja Neugeburt im Rahmen einer selbstbestimmten Ordnung. Die politischen Konturen dieser Ordnung bleiben allerdings eigentümlich unterbelichtet – nicht nur in Vojnovićs Abrechnung mit der Vergangenheit, sondern im gesamten Erscheinungszeitraum der Zeitschrift.

      Die charakteristische Leerstelle korrespondiert mit dem Wandel der politischen Umstände – vom letzten Kriegsjahr, in dem noch Zensurbestimmungen in Kraft waren, bis zur Gründung des südslawischen Staates, die von Konflikten um seine politische Verfassung begleitet war. Im Eingangstext der ersten Nummer vom 1. Januar 1918 benennt der Herausgeber die Aufgaben der Zeit (so der Titel) als „Aufgaben des Jugoslawentums“,8 geht aber der politischen Dimension dieser Aufgaben aus dem Weg. Der Text beginnt mit einer ausführlichen Darlegung der universellen Dimension ‚zeitgemäßen Wirkens‘ (die im vorliegenden Fall in der Förderung von „Gerechtigkeit“, „Freiheit und Fortschritt“ bestehe), bevor mit dem Hinweis, dass kulturelle Aufgaben „zu Einheit und Freiheit“ führen,9 ein bekanntes Entwicklungsmuster gehemmter Nationsbildung evoziert wird – hier im Mikrokontext der noch nicht überschrittenen Schwelle zur Auflösung der Monarchie.

      Große Zurückhaltung war allerdings nicht mehr nötig, da nach vier Jahren Krieg – so der Herausgeber im April 1918 – das immer dringlichere „Problem der kulturellen Einheit“ nun „erfolgreicher, sicherer, offener und auf andere Weise als vor vier Jahren“ gelöst werden könne.10 Nicht nur das programmatische Ziel der südslawische Einigung im kulturellen Bereich, sondern auch die gemeinsame „Heimat“ oder eine „dreieinige Volksgemeinschaft“ konnten bereits angesprochen werden.11 Allerdings wurde jede


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