Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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Hause begraben werden konnten, waren diese Dutzende Männer gewissermaßen in meinem Vater begraben, im geheimen Friedhof seiner Gedanken. Jetzt, im Bürgerkrieg, noch mehr Tote, und immer die Jungen. Jedenfalls gab es in Sligo keinen Fünfzigjährigen, der im Bürgerkrieg gekämpft hatte.

      Nicht, dass er dagegen gewettert hätte, er wusste ja, dass es in jeder Generation Kriege gab; er widmete sich diesen Dingen vielmehr auf eine eigentümlich professionelle Art, denn schließlich war er zum Hüter der Toten berufen, ein König des Nicht-mehr.

      Father Gaunt selbst war noch jung, und man hätte erwartet, dass er sich den Gefallenen auf besondere Weise verbunden fühlte. Doch Father Gaunt war so glatt und gepflegt, dass menschliches Leid zu ihm gar nicht durchdrang. Er war wie ein Sänger, der zwar die Worte kennt und die Töne halten kann, aber unfähig ist, das Lied so zu singen, wie es im Herzen des Komponisten erdacht wurde. Meistens blieb er unberührt. Über Junge und Alte sprach er mit derselben trockenen Musik hinweg.

      Aber ich will nichts gegen ihn sagen. In Ausübung seines Amtes ging er in Sligo überallhin, in der Stadt trat er in düstere Zimmer, in denen verarmte Junggesellen sich an Bohnen aus Dosen mästeten, und am Fluss in verlauste Hütten, die selbst wie alte, verhungernde Männer aussahen, mit verrottendem Stroh als Haar und kleinen, stieren, trüben, schwarzen Fenstern als Augen. Dort ging er hinein, bekanntlich ohne je einen Floh oder eine Laus wieder mit hinauszunehmen. Denn er war reiner als der Tagmond.

      Und wenn man ihm in die Quere kam, war ein so kleiner, reiner Mann wie ein Sensenblatt; Gras, Dornengestrüpp und die Halme menschlicher Natur mähte er einfach nieder, wie mein Vater herausfinden sollte.

      Es geschah folgendermaßen.

      Eines Abends, als mein Vater und ich uns im Tempel die Zeit vertrieben, bis wir zum Abendessen nach Hause zurück kehren sollten, hörten wir draußen vor der alten Eisentür ein Schlurfen und Murmeln. Mein Vater sah mich an, wachsam wie ein Hund, bevor er anschlägt.

      »Was ist denn das?«, fragte er, mehr sich selbst als mich.

      Drei Männer kamen herein, die einen vierten trugen, und als würden sie von einer unsichtbaren Kraft vorangetrieben, fegten sie mich vom Tisch weg, und bevor ich wusste, wie mir geschah, streifte der Rücken meiner Schuluniform den feuchten Kalk der Wand. Die Männer waren wie ein kleiner Wirbelsturm an Betriebsamkeit. Sie waren alle jung, und der Mann, den sie trugen, war bestimmt nicht älter als siebzehn. Ein recht hübscher Kerl, hochgewachsen und in grober Kleidung, mit viel Schlamm und Grasflecken vom Torfmoor, und viel Blut. Sehr viel dünn aussehendes Blut auf seinem Hemd. Und offensichtlich war er mausetot.

      Die anderen drei Burschen kläfften und winselten fast hysterisch, was wiederum Hysterie in mir aufkeimen ließ. Mein Vater jedoch stand düster vor seinem Kamin, wie ein Mann, der sich anstrengt, geheimnisvoll zu wirken, das Gesicht so ausdruckslos wie möglich, aber wie ich fand, doch bereit, einem Gedanken nachzugehen und, falls erforderlich, dementsprechend zu handeln. Denn die drei Jungen waren mit alten Gewehren behängt, und ihre Taschen beulten sich von anderen Waffen, die sie vielleicht nach einem Scharmützel wahllos aufgelesen hatten. Ich wusste, Waffen waren die knappste Kriegswährung.

      »Was habt ihr vor, Jungs?«, fragte mein Vater. »Es gibt bestimmte Regeln dafür, wie Leichen hier hereingebracht werden, wisst ihr, und ihr könnt nicht einfach aus heiterem Himmel einen Jungen hier abladen. Habt Erbarmen.«

      »Mr Clear, Mr Clear«, sagte einer der Männer, ein Bursche mit ernstem Gesicht und mit der Läuse wegen kurz geschorenen Haaren, »wir konnten ihn nirgendwo anders hinbringen.«

      »Sie kennen mich?«, fragte mein Vater.

      »Ich kenne Sie gut genug. Jedenfalls weiß ich, wes Gottes Kind Sie sind, und die, die es wissen müssen, haben mir gesagt, dass Sie nicht gegen uns sind, anders als so mancher Narr hier in Sligo.«

      »Das mag schon sein«, sagte mein Vater, »aber wer seid ihr? Seid ihr Freistaatler, oder gehört ihr zu den andern?«

      »Sehen wir etwa aus wie Freistaatler, mit dem halben Bergmoor in den Haaren?«

      »Nein, das nicht. Also, Jungs, was wollt ihr von mir? Wer ist der Kerl da?«

      »Der arme Mann da«, antwortete derselbe Redner, »ist Willie Lavelle, und er war siebzehn Jahre alt und ist oben auf dem Berg umgebracht worden, von einem Haufen gemeiner, gedankenloser, schändlicher Schweinehunde, die sich Soldaten schimpfen, aber keine sind, und uns schlimmer behandeln als wie irgendein Black and Tan aus dem letzten Krieg. Jedenfalls genauso bös und übel. Denn wir waren so hoch oben auf dem Berg, dass uns bitterkalt war und wir Hunger hatten, und der Junge da hat sich ihnen ergeben, und wir haben uns im Heidekraut versteckt, aber die mussten ihn natürlich schlagen und treten und ihm Fragen stellen. Und gelacht haben sie, und einer hat dem Jungen die Pistole ins Gesicht gehalten, und er war der Tapferste von uns allen, aber bei allem gebotenen Respekt, Mädchen«, sagte er zu mir, »er hatte solchen Schiss, dass er sich in die Hosen gepinkelt hat, denn er wusste es genau, man weiß das immer, sagen die Leute, wenn jemand einen erschießen wird, Sir, und weil die meinten, niemand ist in der Nähe, niemand schaut zu, und niemand sieht ihre Schandtat, haben sie ihm drei Kugeln in den Bauch gejagt. Und sind fröhlich davongezogen, den Berg hinab. Bei Gott, wenn Willie beerdigt ist, nehmen wir ihre Spur auf, stimmt’s, Jungs? – und wenn wir sie finden, machen wir sie fertig.«

      Dann tat der Mann etwas Unerwartetes, er brach in heftige Tränen aus, warf sich über den Leichnam seines gefallenen Kameraden und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, wie man ihn weder davor noch danach je gehört hat, obwohl es doch ein kleiner Tempel des Schmerzes war.

      »Sachte, John«, sagte einer der anderen. »Wir sind in der Stadt, auch wenn der Leichenacker hier dunkel und still ist.«

      Aber der Erste fuhr fort zu jammern und lag auf der Brust des Toten wie – ich wollte schon sagen, wie ein Mädchen, aber so nun auch wieder nicht.

      Auf jeden Fall war ich bis zum Kragen meiner Schulbluse von Entsetzen erfüllt, natürlich war ich das. Mein Vater hatte seine Gelassenheit verloren und ging zwischen dem Kamin und seinem Sessel mit den wenigen flachgedrückten alten Kissen aus ehemals rotem Stoff rasch auf und ab.

      »Mister, Mister«, sagte der Dritte, ein aufgeschossener, magerer Bursche, der mir noch nie begegnet war und der mit seiner Hose, die ihm nicht einmal bis zu den Knöcheln reichte, aussah, als sei er geradewegs einem Berghof entsprungen. »Sie müssen ihn sofort beerdigen.«

      »Ich kann einen Mann nicht ohne Priester beerdigen, ganz zu schweigen davon, dass ihr bestimmt keine Grabstelle gekauft habt.«

      »Wie sollen wir Grabstellen kaufen, wenn wir für die Irische Republik kämpfen?«, fragte der erste Mann, der seine Tränen hinunterschluckte. »Ganz Irland ist unsere Grabstelle. Uns kann man überall verbuddeln. Denn wir sind Iren. Vielleicht verstehen Sie davon nichts.«

      »Ich hoffe doch, dass auch ich Ire bin«, sagte mein Vater, und ich wusste, dass die Bemerkung ihn gekränkt hatte. In Wahrheit waren Presbyterianer in Sligo nicht sonderlich gelitten, ich weiß nicht recht den Grund dafür. Es sei denn, es war darauf zurückzuführen, dass in der Vergangenheit eine Menge Bekehrungsarbeit geleistet wurde, im Westen gab es eine presbyterianische Mission und dergleichen, die, selbst wenn ihr kein durchschlagender Erfolg beschieden war, der Gemeinde in Zeiten schrecklicher Hungersnot doch eine Anzahl Katholiken beschert und so unter den Leuten Angst gesät und Misstrauen geschürt hatte.

      »Sie müssen ihn beerdigen«, sagte der dritte Mann. »Das da drüben auf dem Tisch ist Johns kleiner Bruder.«

      »Das ist Ihr Bruder?«, fragte mein Vater.

      Plötzlich war der Mann vollkommen reglos und still.

      »Ja«, antwortete er.

      »Das ist sehr traurig«, sagte mein Vater. »Das ist wirklich sehr traurig.«

      »Und er hat keinen Priester gehabt, der ihn losspricht. Wäre es möglich, einen Priester für ihn zu rufen?«

      »Der Priester hier ist Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Ein guter Mann. Wenn ihr möchtet, kann ich Roseanne zu ihm schicken.«

      »Aber


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