Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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denn wenn sie es tut, werden wir hier alle umgebracht. Sie werden uns ohne viel Federlesens umbringen, genauso wie Willie auf dem Berg, das steht fest. Ich würde Ihnen ja sagen, dass wir Sie umbringen, wenn sie redet, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich fertigbrächten.«

      Mein Vater sah ihn erstaunt an. Und es schien eine so ehrliche und höfliche Bemerkung, dass ich mir vornahm, mich an die Anweisung zu halten und mit niemandem zu reden.

      »Außerdem haben wir gar keine Kugeln, weswegen wir uns wie die Hasen im Heidekraut versteckt und uns nicht gerührt haben. Ich wünschte, wir hätten uns gerührt, Jungs,« sagte der Bruder des Toten, »und hätten uns aufgerappelt und uns auf sie gestürzt, denn das ist keine Art, in der Welt zu sein: Willie tot und wir am Leben.«

      Und er brach wieder zusammen und weinte erbarmungswürdig.

      »Lasst man gut sein«, sagte mein Vater. »Ich werde Roseanne zu Father Gaunt schicken. Geh nur, Roseanne, tu, was ich dir sage, lauf zum Pfarrhaus und hol Father Gaunt, sei ein braves Mädchen.«

      Also rannte ich hinaus auf den windigen, winterlichen Friedhof und durch die Alleen der Toten und hinaus auf die Kuppe der hügeligen Straße, die nach Sligo hin abfällt, eilte hinab und erreichte schließlich das Haus des Priesters, lief durch sein kleines Eisentor und den Kiesweg entlang und warf mich gegen seine massive Tür, die dunkelgrün gestrichen war wie das Blatt einer Schusterpalme. Nun, da ich mich von meinem Vater entfernt hatte, dachte ich nicht mehr an Brennscheren und Haare, sondern an sein Leben, denn ich wusste, dass die drei Überlebenden Gräuel erfahren hatten, und wer Gräuel erfahren hat, der mag sie mit ebensolchen vergelten, das ist das Gesetz des Lebens und des Krieges.

      Gott sei Dank zeigte Father Gaunt schon bald sein hageres Gesicht an der Tür, und ich schnatterte drauflos und flehte ihn an, mitzukommen zu meinem Vater, er werde dort dringend gebraucht, und würde er kommen, würde er kommen?

      »Ich werde kommen«, sagte Father Gaunt, denn er war keiner von denen, die vor einem zurückscheuen, wenn man sie braucht, wie so viele seiner Amtsbrüder, die zu stolz sind, um den Regen in ihrem Mund zu schmecken. Und tatsächlich, als wir den Hügel hinaufgingen, schlug uns der Regen ins Gesicht, und bald glänzte die Vorderseite seines langen schwarzen Mantels vor Nässe, und ich auch, denn was mich betrifft, so hatte ich keinen Mantel an gezogen, sondern zeigte der Welt nur meine nassen Beine.

      »Welcher Mensch braucht mich denn?«, fragte der Priester misstrauisch, als ich ihn durch das Friedhofstor führte.

      »Der Mensch, der Sie braucht, ist tot«, antwortete ich.

      »Wenn er tot ist, wozu dann die große Eile, Roseanne?«

      »Der andere Mensch, der Sie braucht, lebt noch. Es ist sein Bruder, Hochwürden.«

      »Verstehe.«

      Auch die Grabsteine auf dem Friedhof glänzten vor Nässe, und auf den Wegen tanzte der Wind, sodass man nicht wusste, wo der Regen einen erwischen würde.

      Als wir zu dem kleinen Tempel gelangten und eintraten, hatte sich die Szene kaum verändert: als wären die vier Lebenden und ganz gewiss der Tote, als ich hinausging, eingefroren und hätten sich nicht von der Stelle gerührt. Als Father Gaunt eintrat, wandten ihm die irregulären Soldaten ihre jungen Gesichter zu.

      »Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Es tut mir leid, dass Sie herkommen mussten. Die Burschen hier haben mich gebeten, Sie rufen zu lassen.«

      »Halten sie Sie etwa gefangen?«, erkundigte sich der Priester, erzürnt über den Anblick von Gewehren.

      »Nein, nein.«

      »Ich hoffe, Sie werden mich nicht erschießen«, sagte Father Gaunt.

      »In diesem Krieg ist noch kein Priester nich’ erschossen worden«, antwortete der Mann, den ich bei mir den dritten Mann nannte. »So schlimm es auch ist. Nur der arme Kerl hier ist erschossen worden, Johns Bruder Willie. Er ist mausetot.«

      »Ist er schon lange tot?«, fragte Father Gaunt. »Hat jemand ihm den letzten Atemzug genommen?«

      »Ich«, antwortete der Bruder.

      »Dann schenken Sie ihm seinen Atemzug jetzt wieder«, sagte Father Gaunt, »und ich werde ihn segnen. Und seine arme Seele zum Himmel auffahren lassen.«

      Also küsste der Bruder seinen Bruder auf den leblosen Mund und schenkte ihm den letzten Atemzug wieder, den er im Augenblick seines Todes eingeatmet hatte. Und Father Gaunt segnete ihn, beugte sich zu ihm und schlug das Zeichen des Kreuzes über ihm.

      »Können Sie ihn lossprechen, Hochwürden, damit er geläutert in den Himmel kommt?«

      »Hat er einen Mord begangen, hat er in diesem Krieg einen anderen Mann getötet?«

      »Im Krieg einen Mann zu töten ist kein Mord. Es ist nur der Krieg selbst.«

      »Mein Freund, Sie wissen sehr wohl, dass die Bischöfe uns verboten haben, euch loszusprechen, denn sie haben entschieden, dass euer Krieg unrecht ist. Aber ich will ihn lossprechen, wenn ihr mir versichert, dass er, soweit ihr wisst, keinen Mord begangen hat. Das will ich tun.«

      Da blickten die drei einander an. Auf ihren Gesichtern stand eine seltsam dunkle Furcht. Es waren junge Katholiken, und sie fürchteten sich vor diesem Priester, sie fürchteten sich davor, ihm eine Lüge aufzutischen, und sie fürchteten sich davor, in ihrer Pflicht zu versagen, ihrem Kameraden zum Himmel zu verhelfen, und ich bin sicher, dass sich jeder von ihnen auf der Suche nach einer wahrheitsgetreuen Antwort das Hirn zermartete, denn nur die Wahrheit würde den Toten ins Paradies befördern.

      »Nur die Wahrheit wird euch dienlich sein«, sagte der Priester, und ich zuckte zusammen, da seine Worte ein Echo meiner eigenen Gedanken waren. Es waren die schlichten Gedanken eines schlichten Mädchens, aber vielleicht ist der katholische Glaube in seinen Grundannahmen ja selbst schlicht.

      »Keiner von uns hat ihn irgendetwas Derartiges tun sehen«, sagte der Bruder schließlich. »Sonst würden wir’s sagen.«

      »Dann ist es ja gut«, sagte der Priester. »Und Sie haben mein aufrichtiges Beileid. Und es tut mir leid, dass ich fragen musste. Sehr leid.«

      Er trat dicht an den Toten heran und berührte ihn mit äußerster Behutsamkeit.

      »Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

      Und alle Anwesenden, mein Vater und ich eingeschlossen, sagten Amen dazu.

      FÜNFTES KAPITEL

       Dr. Grenes Aufzeichnungen

      Es wäre eine sehr gute Sache, wenn ich wenigstens manchmal davon überzeugt wäre, dass ich weiß, was ich tue.

      Ich habe das Gesundheitsministerium vollkommen unterschätzt, was ich, um aufrichtig zu sein, nie für möglich gehalten hätte. Man hat mir mitgeteilt, die Bauarbeiten vor Ort würden in Kürze beginnen, am anderen Ende von Roscommon, ein sehr guter Standort, wird mir versichert. Damit aber nicht alles nach guten Nachrichten klingt: Es wird dort nur eine sehr geringe Anzahl von Betten geben, dabei haben wir hier so viele. Tatsächlich gibt es hier Räume mit leeren Betten, nicht weil wir sie nicht füllen könnten, sondern weil die Räume jenseits von Gut und Böse sind, mit einsturzgefährdeten Zimmerdecken und grässlich feuchten Wänden. Alles, was Eisen ist, etwa die Bettgestelle, rostet dahin. All die neuen Betten in dem neuen Gebäude werden hochmodern sein, rostfrei, brandneu und schön, aber es werden weniger sein, sehr viel weniger. Also werden wir wie verrückt aussieben müssen.

      Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich versuche, mir anvertraute Geschöpfe zu verstoßen, die fern von mir nicht gedeihen werden. Das mag verständlich sein, zugleich aber bin ich mir selbst suspekt. Ich habe die wirklich idiotische Angewohnheit, meinen Patienten gegen über väterliche, ja sogar mütterliche Gefühle zu hegen. Nach all den Jahren, die, wie ich genau weiß, die Impulse und Instinkte anderer in diesem Bereich tätigen Menschen abtöten, bin ich noch immer geradezu eifersüchtig auf die Sicherheit, auf


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