Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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stieß der Mann ein schreckliches Lachen aus, wie Regen, der einem ins Gesicht peitscht, und die anderen Soldaten führten ihn ab. Wir konnten hören, wie sie den Gefangenen unterwegs gut zuredeten. Ich zitterte am ganzen Leib. Als sich der Raum geleert hatte, streckte der Kommandeur Father Gaunt seine große Pranke entgegen und half ihm auf die Füße.

      »Tut mir leid, Hochwürden«, sagte er. »Das war eine schreckliche Nacht, Mord und Totschlag. Verzeihen Sie.«

      Er sprach so aufrichtig, dass mein Vater, da bin ich mir sicher, von den Worten ebenso berührt war wie ich.

      »Es war niederträchtig, wie Sie sich verhalten haben«, sagte Father Gaunt mit leiser Stimme, in der jedoch ein seltsam gewalttätiger Unterton mitschwang. »Niederträchtig. Ich unterstütze den neuen Staat voll und ganz. Das tun wir alle, bis auf diese verrückten fehlgeleiteten Burschen.«

      »Dann sollten Sie auf Ihre Bischöfe hören. Und den Verdammten keinen Beistand leisten.«

      »Überlassen Sie es ruhig mir, wie ich darüber denke«, sagte Father Gaunt mit einer Art schulmeisterlicher Arroganz. »Was haben Sie mit der Leiche vor? Wollen Sie die nicht auch mitnehmen?«

      »Was wollen Sie mit ihr anstellen?«, fragte der Soldat mit jenem plötzlichem Überdruss, jenem Energieverlust, der sich nach einer großen Anstrengung einstellt. Sie hatten einen unbekannten Ort voller Gott weiß was für Gefahren gestürmt, und nun schien die Vorstellung, Johns Bruder Willie mitschleppen zu müssen, eine Federbreit zu weit zu führen. Oder einen Hammerbreit.

      »Ich lasse den Arzt holen, ihn für tot erklären und herausfinden, zu wem er gehört, dann könnten wir ihn, falls Sie keine Einwände haben, vielleicht irgendwo auf dem Friedhof beerdigen.«

      »Sie beerdigen einen Teufel, wenn Sie das tun. Schmeißen Sie ihn lieber in eine Grube vor den Mauern, wie einen Verbrecher oder einen Bastard.«

      Father Gaunt sagte nichts dazu. Der Soldat ging hinaus. Mich hatte er kein einziges Mal angesehen. Als seine Stiefelschritte draußen auf dem Kiesweg verhallten, kroch das sonderbarste, kälteste Schweigen in den Tempel. Mein Vater stand stumm da, der Priester und ich saßen stumm auf dem kalten, feuchten Fußboden, und der Stummste von allen war Johns Bruder Willie.

      »Ich bin in höchstem Maße verärgert«, sagte Father Gaunt schließlich in seiner besten Sonntagsmessenstimme, »dass ich in diese Geschichte mit hineingezogen worden bin. In höchstem Maße verärgert, Mr Clear.«

      Mein Vater schaute verdutzt drein. Was hätte er anderes tun können? Das entgeisterte Gesicht meines Vater ängstigte mich ebenso wie Willies steif werdende Leiche.

      »Es tut mir leid«, sagte mein Vater. »Es tut mir leid, falls ich mich falsch verhalten haben sollte, indem ich Roseanne gebeten habe, Sie zu holen.«

      »Ja, Sie haben sich falsch verhalten, ja, falsch verhalten. Ich bin zutiefst gekränkt. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich es war, der Ihnen zu diesem Posten verholfen hat. Ich war es, und es bedurfte großer Überredungskünste, das kann ich Ihnen sagen. Sie haben es mir sehr schlecht gedankt, sehr schlecht.«

      Damit ging der Priester ins Dunkel und in den Regen hinaus und ließ meinen Vater und mich bis zum Eintreffen des Doktors allein mit dem toten Jungen zurück.

      »Vermutlich habe ich sein Leben in Gefahr gebracht. Vermutlich hatte er Angst. Aber das war nicht meine Absicht. Himmel, ich dachte, Priester wollen bei allem dabei sein. Das dachte ich wirklich.«

      Auch mein armer Vater klang verängstigt, diesmal aber aus einem anderen, einem neuen Grund.

      Wie sachte, wie langsam das Schicksal ihn zugrunde gerichtet haben musste.

      Es gibt Dinge, die sich vor unseren Augen, in menschlicher Geschwindigkeit, zutragen, andere Dinge jedoch tragen sich in so hohen Bögen zu, dass sie nahezu unsichtbar sind. Der Säugling sieht im dunklen Nachtfenster einen Stern blinken und streckt die Hand aus, um nach ihm zu greifen. So mühte sich auch mein Vater ab, Dinge zu erfassen, die in Wahrheit ganz außerhalb seiner Reichweite lagen und die, wenn sie ihr Licht ausstrahlten, längst alt und erloschen waren.

      Ich glaube, mein Vater brachte den Gang der Geschichte in Verlegenheit.

      Er war weder geneigt noch abgeneigt, den jungen Willie zu beerdigen, und zog einen Priester zurate, der ihm bei seiner Entscheidung helfen sollte. Es war, als hätte er als Presbyterianer sich in Fememorde eingemischt oder jedenfalls in Mordtaten so jenseits aller Sanftmut und Liebe, dass nur in ihrer Nähe zu sein schon verheerend, ja mörderisch war.

      Möglich, dass ich in späteren Jahren Darstellungen von jener Nacht hörte, die mit meiner eigenen Erinnerung nicht zusammenpassten, doch stets gab es eine feste Konstante: Auf dem Weg zu Father Gaunt hätte ich haltgemacht und meine Geschichte den Soldaten des Freistaats erzählt, sei es auf Geheiß meines Vaters oder aus eigenem Antrieb. Die Tatsache, dass ich die Soldaten nie gesehen, nie mit ihnen geredet, an dergleichen nicht einmal gedacht hatte – denn hätte das meinen Vater nicht womöglich in noch größere Gefahr gebracht? –, ist in der inoffiziellen Geschichte Sligos ohne Belang. Denn Ge schichte, soweit ich das beurteilen kann, ist nicht etwa eine Darstellung dessen, was geschehen ist, der Reihe nach und wahrheitsgetreu, sondern ein fabelhaftes Ge webe von Annahmen und Mutmaßungen, das dem Ansturm der vernichtenden Wahrheit als Banner entgegengehalten wird.

      Bei menschlichem Leben muss die Geschichte höchst erfinderisch sein, denn das bloße Leben ist eine Anklage gegen die Herrschaft der Menschen über die Erde.

      Meine Geschichte, die Geschichte eines jeden, fällt stets zum eigenen Nachteil aus, sogar was ich hier niederschreibe, denn eine Heldengeschichte habe ich nicht zu bieten. Keine Schwierigkeit, die ich mir nicht selbst eingebrockt hätte. Herz und Seele, beide Gott so teuer, sind durch den Aufenthalt hier verunreinigt, wie ließe sich das auch vermeiden? Dies hier scheinen gar nicht meine Gedanken zu sein, möglicherweise sind sie dem Büchlein von Sir Thomas Browne entnommen. Doch hören sie sich an, als wären es meine eigenen. In meinem Kopf klingen sie wie meine eigenen tönenden Gedanken. Es ist schon merkwürdig. Daher vermute ich, dass Gott ein Kenner unreiner Herzen und Seelen ist, dass er in ihnen das alte, ursprüngliche Muster erblickt und sie dafür lieben kann.

      Das sollte er in meinem Fall auch besser tun, sonst ende ich bald beim Teufel.

      Unser Haus war sauber, doch an dem Tag, als Father Gaunt zu Besuch kam, sah es nicht ganz so sauber aus. Es war Sonntagmorgen gegen zehn, sodass ich annehme, dass Father Gaunt zwischen zwei Messen von seiner Kirche aus den Fluss entlanggeeilt war, um an unsere Tür zu klopfen. Da meine Mutter auf einem gelben Ziegel in der Nische des Wohnzimmerfensters einen alten Spiegel aufgestellt hatte, konnten wir immer sehen, wer an der Tür war, ohne uns selbst zeigen zu müssen, und der Anblick des Priesters versetzte uns in hektischen Aufruhr. Ein vierzehnjähriges Mädchen ist sich seines Äußeren stets lebhaft bewusst oder glaubt es sein zu müssen, oder was auch immer, aber da wir gerade von Spiegeln reden, zu der Zeit war ich eine Sklavin des Spiegels im Schlafzimmer meiner Mutter, nicht etwa weil ich mir einbildete, gut auszusehen, sondern weil ich nicht wusste, wie ich aussah, und mich so manche Minute damit abmühte, mich einem Bild anzugleichen, dem ich trauen konnte oder mit dem ich zufrieden war, was mir aber niemals gelang. Das Gold meiner Haare kam mir vor wie nasses, verwildertes Gras, und nicht um alles in der Welt erkannte ich die Seele des Menschen, der mir da aus dem moosigen kleinen Spiegel meiner Mutter entgegenstarrte. Da die Ränder des Spiegels seltsam vermodert waren, hatte sie doch tatsächlich irgend eine ungewöhnliche Emaillefarbe gekauft, vielleicht in der Apotheke, und die Ränder des Spiegels mit winzigen schwarzen Stielen und Blättern verziert, was allem, das sich in diesem durchaus nicht poetischen Spiegel zeigte, einen Trauerflor verlieh. Mag sein, dass dies zum Berufsstand meines Vaters passte, jedenfalls bis da hin. Als erstes sauste ich also unsere paar kleinen Stufen hinauf zum Spiegel und bestürmte die Schrecken meiner vierzehn Jahre.

      Als ich wieder ins Wohnzimmer hinunterkam, stand mein Vater in der Mitte des Raumes und blickte um sich wie ein scheuendes Pony, die Augen zuerst auf das Motorrad gerichtet, danach auf das Klavier, schließlich auf den Abstand dazwischen. Dann zuckten seine Hände zu einem Kissen auf dem »besten« Sessel. Als ich in die winzige Diele hinauslugte,


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