Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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Sinne von Urlaub. »Hör mal, ich hab gedacht, vielleicht wär’s ganz schön, für ein paar Tage wegzufahren, wenn auf der Arbeit alles geregelt ist. Urlaub zu machen.«

      Sie sah mich an, schwenkte die schäumenden Tabletten im Glas, machte sich auf den bitteren Geschmack gefasst. Zu meinem Leidwesen muss ich berichten, dass sie lachte, es war nur ein kleiner Lacher, von dem ich vermute, dass sie ihn lieber nicht herausgelassen hätte, aber nun stand er zwischen uns, dieser eine Lacher.

      »Ich glaube nicht«, sagte sie.

      »Warum nicht?«, fragte ich. »Um der alten Zeiten willen. Würde uns beiden guttun.«

      »Tatsächlich, Herr Doktor?«

      »Ja, es würde uns guttun. Ganz bestimmt.«

      Plötzlich fiel mir das Sprechen schwer, als wäre jedes Wort in meinem Mund ein kleiner Schlammklumpen.

      »Es tut mir leid, William«, sagte sie, und das war ein schlechtes Zeichen, der volle Vorname, nicht mehr Will, sondern William, wie um sich zu distanzieren, »ich möchte nicht. Ich hasse es, all die Kinder zu sehen.«

      »Die was?«

      »Die Leute mit ihren Kindern.«

      »Warum?«

      Ach ja, unermesslich dumme Frage. Kinder. Die wir nicht haben. Unendlich viel Mühe haben wir darauf verwendet. Unendlich viel. Ohne belohnt worden zu sein.

      »William, du bist kein Dummkopf.«

      »Wir fahren irgendwohin, wo keine Kinder sind.«

      »Wohin? Auf den Mars?«, fragte sie.

      »Irgendwohin, wo keine sind«, sagte ich und hob das Gesicht zur Zimmerdecke, als wäre die ein möglicher Ort. »Ich weiß nicht, wo das ist.«

       Roseannes Selbstzeugnis

      Und dann geschah das Grauen aller Grauen.

      Bis heute, ich schwör’s bei meinem Gott, weiß ich nicht, wie es geschah. Andere wissen es bestimmt oder wussten es, als sie noch lebten. Und vielleicht ist das genaue Wie ja gar nicht so wichtig, war es nie, sondern nur, was bestimmte Leute glaubten.

      Nicht, dass es jetzt noch darauf ankommt, denn über all die Leute ist die Zeit hinweggegangen. Aber vielleicht gibt es ja einen anderen Ort, wo alles auf ewig Bedeutung hat, vielleicht so etwas wie das himmlische Gericht. Es wäre ein nützliches Gericht für die Lebenden, aber die werden es nie zu sehen bekommen.

      Es waren Unbekannte, die damals gegen die Tür hämmerten und mit barschen Militärstimmen etwas brüllten. Wir drinnen stoben in alle Richtungen wie aufgeschreckte Kellerasseln, ich selbst wich zurück wie die Tragödin in einem der zweitklassigen Theaterstücke, die man in miefigen Gemeindesälen zu sehen bekommt, die drei Irregulären duckten sich hinter den Tisch, mein Vater zog Father Gaunt in meine Nähe, als könne er mich hinter dem Priester und seiner eigenen Liebe verstecken. Denn jedem war klar, dass gleich Schüsse fallen würden, und gerade, als ich diesen Gedanken dachte, wurde die eiserne Tür in ihren großen, knarrenden Scharnieren aufgestoßen.

      Ja, es waren Jungs von der neuen Armee in ihren schlecht sitzenden Uniformen. Als sie hereinkamen, sah es ganz so aus, als hätten sie reichlich Patronen, jedenfalls richteten sie in einem Moment wilder Konzentration ihre Gewehre auf uns, und für meine jungen Augen, die zwischen den Beinen meines Vaters hindurchlugten, wirkten die Gesichter der sechs oder sieben Burschen, die den Tempel betreten hatten, im Licht des Kaminfeuers nur völlig verängstigt.

      Der aufgeschossene, magere Bursche vom Berg, dem die Hosenbeine nicht einmal bis zu den Knöcheln reichten, sprang hinter dem Tisch hervor und stürzte sich, aus welchem verrückten Grund auch immer, den Neuankömmlingen entgegen, als kämpfe er auf einem regulären Schlachtfeld. Der Bruder des Toten folgte dicht hinter ihm, vielleicht nahm sein Leid ihm jede Vorsicht. Es ist schwierig, den Lärm zu beschreiben, den Gewehre in einem kleinen, abgeschlossenen Raum erzeugen, aber Ihnen würden davon die Knochen aus dem Fleisch fallen. Mein Vater, Father Gaunt und ich drückten uns gleichzeitig mit dem Rücken an die Wand, und die Kugeln, die in die beiden Burschen eindrangen, müssen eigenartige Spuren durch sie hindurchgezogen haben, denn im Putz der alten Mauer neben mir sah ich jäh explodierende Pocken. Erst die Kugeln, dann eine dünn rieselnde Kaskade von leichtestem Blut auf meiner Schuluniform, meinen Händen, meinem Vater, meinem Leben.

      Die beiden Irregulären waren nicht tot, sondern krümmten sich ineinander verschlungen auf dem Boden.

      »Um Gottes willen«, rief Father Gaunt, »lasst ab – es ist ein junges Mädchen hier, und gewöhnliche Leute.« Was immer er mit Letzterem meinte.

      »Legt die Waffen nieder, legt die Waffen nieder«, rief einer der neuen Soldaten, fast war es ein Aufschrei. Gewiss warf nun auch der letzte Mann auf unserer Seite des Tisches sein Gewehr hin, zog seine Pistole aus dem Hosenbund, stand unverzüglich auf und hob die Hände. Eine Sekunde lang blickte er sich zu mir um, und ich glaubte schon, dass ihm die Augen tränten, irgendetwas taten seine Augen, jedenfalls durchbohrten sie mich, scharf, sehr scharf, als könnten Blicke töten, als wären sie wirksamer als die Patronen, die sie nicht besaßen.

      »Hört zu«, sagte Father Gaunt. »Ich glaube – ich glaube, die Männer hier haben keine Kugeln. Bitte jeder mal einen Moment lang nichts tun!«

      »Keine Kugeln?«, fragte der Kommandeur der Männer. »Weil sie die alle unseren Männern oben auf dem Berg in den Leib gejagt haben. Seid ihr die Schweine, die oben auf dem Berg waren?«

      Oje, oje, wir wussten, dass sie es waren, doch aus irgend einem Grund sagte keiner von uns ein Wort.

      »Ihr habt meinen Bruder umgebracht«, sagte der Mann namens John am Boden. Er hielt sich den Oberschenkel, und direkt unter ihm schwamm eine große, seltsam dunkle Lache aus Blut, Blut so schwarz wie Amseln. »Ihr habt ihn kaltblütig erschossen. Ihr hattet ihn gefangen, er war wehrlos, und ihr habt ihm in den Bauch geschossen, verfluchte drei Mal!«

      »Damit ihr uns nicht nachgeschlichen kommt und uns an Ort und Stelle umlegt!«, sagte der Kommandeur. »Haltet die Männer am Boden, und du«, brüllte er demjenigen zu, der sich ergeben hatte, »betrachte dich als festgenommen. Bringt sie alle raus zum Lastwagen, Jungs, und wir klären das hier. Wir erwischen euch im Dunkel der Nacht in diesem dreckigen Bau, zusammengedrängt wie Ratten. Sie, Mann, wie heißen Sie?«

      »Joe Clear«, sagte mein Vater. »ich bin der Friedhofswärter hier. Das ist Father Gaunt, einer der Kuratgeistlichen in der Gemeinde. Ich hab ihn gerufen, damit er sich um den toten Jungen kümmert.«

      »In Sligo beerdigt ihr also solche wie den«, sagte der Kommandeur mit außerordentlichem Nachdruck in der Stimme. Und er stürzte um den Tisch herum und drückte Father Gaunt die Pistole an die Schläfe. »Was für ’ne Art Priester sind Sie überhaupt, dass Sie Ihren eigenen Bischöfen nicht gehorchen? Sind Sie einer von diesen dreckigen Renegaten?«

      »Wollen Sie etwa einen Priester erschießen?«, fragte mein Vater erstaunt.

      Father Gaunt hatte die Augen fest geschlossen und kniete jetzt genauso, wie er es in der Kirche tun würde. Er kniete, und ich weiß nicht, ob er lautlos betete, aber er sagte nichts.

      »Jem«, sagte einer der anderen Soldaten des Freistaats, »bisher ist in Irland von uns noch kein Priester erschossen worden. Erschieß ihn nicht.«

      Der Kommandeur trat zurück und löste seine Waffe von Father Gaunts Schläfe.

      »Kommt, Jungs, ladet sie auf, wir verziehen uns.«

      Und die Soldaten hoben die beiden Verwundeten einigermaßen sachte auf und geleiteten sie zur Tür hinaus. Als der dritte Mann abgeführt wurde, wandte er mir sein Gesicht zu.

      »Möge Gott dir vergeben, was du getan hast, ich werde es nie.«

      »Aber ich hab doch gar nichts getan!«, rief ich.

      »Du hast ihnen verraten, dass wir hier sind.«

      »Hab ich nicht, ich schwör’s bei Gott.«

      »Gott ist nicht


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