Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


Скачать книгу
sackten beinahe die Knie weg. Sprachlos stolperte er einen Schritt rückwärts.

      Philipp grinste hämisch. »Ich kann das ja mal den anderen erzählen. Das wird sicher ein Spaß.«

      Jacob schüttelte den Kopf. Er musste sofort etwas erwidern, irgendetwas, damit sich diese Idee nicht in Philipps Kopf ausbreitete. Und er musste cool bleiben dabei, durfte sich bloß nicht anmerken lassen, wie erschrocken er war.

      »Was geht denn bei dir ab?«, brachte er mühsam hervor und merkte selbst, wie wenig überzeugend er klang. So ging das nicht, da musste er mächtig zulegen. »Du spinnst doch! Hast wohl selbst von den Dingern genascht, die du sonst auf dem Schulhof vertickst.« Er deutete auf Philipps Lederjacke. »Meinst du, ich weiß nicht, was da drin ist? Wie wär’s, wenn ich darüber mal rede.«

      Ja, das war schon besser. Nun verging Philipp das Lachen, es gefror förmlich auf seinem Gesicht. Jacob sah es erleichtert, er hatte einen Treffer gelandet. Eigentlich wollte er nicht drohen, er wollte auch keinen Stress mit Philipp, ganz im Gegenteil. Aber dass Philipp ihn outete, konnte er auf keinen Fall riskieren. Betont lässig schwang er sich den Rucksack über die Schulter, stieß Philipp im Vorbeigehen an und verließ den Umkleideraum in der Hoffnung, dass die Sache damit erledigt war.

      Aber dann erhielt er diese Nachricht, als er zu Hause über seinen Schularbeiten brütete. Komm um fünf zum Weiher, hatte Philipp geschrieben. Lass uns reden. Und: Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß.

      Er presste das Tuch gegen die aufgeplatzte Augenbraue, und die Scham breitete sich in ihm aus wie ein schleichendes Gift. Was hatte er sich denn eingebildet? Wie hatte er nur darauf hereinfallen können und glauben, was da stand? Hätte er bloß auf seine innere Stimme gehört, die Alarm geschlagen hatte, die voll auf Abwehr gegangen war. Schließlich passte die Nachricht nicht zu Philipp. Er war nicht schwul. Eigentlich war er nicht einmal nett. Er war ein fieser Macho mit einer großen Klappe. Ein Fußballspieler. Jacob hasste Fußball, und trotzdem ging er seit Monaten immer wieder zum Sportplatz, wenn die A-Jugend spielte. Das war doch alles völlig bescheuert. Er begriff ja selber nicht, warum er sich ausgerechnet in Philipp …

      Er seufzte. Eigentlich find ich dich ja auch ganz süß. Eine üble Falle hatten sie ihm gestellt, und er war hineinspaziert wie in Trance. Welche Wahl hatte man denn, wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand? Da konnte die innere Stimme warnen, so viel sie wollte. Das Herz hörte eben schlecht, wenn es so wild vor sich hin pochte.

      Ein Blick in den Spiegel. Gel ins Haar. In Windeseile mit dem Rennrad die Hauptstraße entlang und aus dem Dorf hinaus. Ein Auto hupte ausdauernd, als er quer über die Straße in den Wald abbog, ohne es vorher anzuzeigen. Gerade noch pünktlich kam er am Weiher an, stapfte über die unebene Wiese, die von Wildschweinen umgepflügt worden war. Philipp erwartete ihn schon, und sie waren so allein, wie Jacob es sich immer erträumt hatte. Die Lichtung lag im Dämmerlicht, aus dem Wasser stieg der Abendnebel in die nasskalte Luft. Jacob strahlte, aber Philipp lächelte nur, lächelte auf eine fremde Weise, hart und kalt. Das Misstrauen keimte auf und wurde Gewissheit. Hier stimmte etwas nicht.

      »Glaubst du wirklich, du kannst mir drohen?« Philipp winkte mit dem Arm in Richtung der Büsche, und seine beiden Kumpel vom TSV Eschenreuth traten heraus. Die zwei wohnten nicht im Dorf, Jacob kannte sie nur vom Fußballplatz, Nummer sechs und Nummer acht, wenn er sich richtig erinnerte. Jetzt gesellten sie sich an die Seite ihres Torwarts, und Jacob begriff, was kommen würde, war schon besiegt, bevor sie begannen, auf ihn einzuprügeln.

      Fuck! Er warf das Halstuch auf den Boden und befühlte die Braue; ein dickes Ei, aber wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Sein linkes Auge war zugeschwollen, mit dem rechten schaute er sich um. Inzwischen war es schon ziemlich dunkel. Er musste hier weg, bevor der Wald auch noch das letzte Licht des Tages schluckte.

      Na los, steh auf, sagte er zu sich selbst. Das hier ist ein Kaff. Ein halbes Jahr noch, dann bist du achtzehn. Im nächsten Sommer hast du das Abi in der Tasche und kannst hier weg. In die Stadt, so wie Annette damals, als sie kaum älter war als er. Oder so wie Paps. Wenn Mama einverstanden gewesen wäre, dass sie alle bei Paps in Prag lebten, wäre das gar nicht passiert. Dann ginge er dort zur Schule und nicht auf dieses öde Gymnasium, in das er mit dem Schulbus gebracht wurde wie alle anderen aus dem Dorf. Auch Philipp. Wie sollte das denn werden in der nächsten Woche? Das ging doch nicht!

      Er stand vorsichtig auf. Die linke Seite fühlte sich an, als stäche jemand im Sekundentakt mit einer Mistgabel gegen seinen Brustkorb. Er sah hinüber zu seinem Rad, das er am Wegesrand gegen eine Birke gelehnt hatte. Er würde sich nicht darauf halten können. Also zu Fuß den weiten Weg nach Hause. Wie viele Schritte waren denn zwei Kilometer? Viel zu viele mit diesem Schmerz.

      Vielleicht sollte er Holger anrufen, überlegte Jacob. Auf Holger war doch Verlass, der alte Freund seiner Mutter würde ihn bestimmt mit dem Moped abholen. Auf einem Moped würde Jacob sich halten können, und Holger würde ihn nicht mit Fragen nerven und auch nicht im Dorf herumtratschen, was geschehen war. Vielleicht wäre es auch nicht schlecht, ihn in der Nähe zu haben, wenn die Mutter von ihrer letzten Kundin nach Hause kam, wenn sie ihn sah und die Wahrheit ans Licht musste.

      Seine Mutter, oje. Wie sollte er ihr das beibringen? Das hatte er doch völlig anders geplant.

      Er fasste in seine Jackentaschen. Das Portemonnaie war da und auch sein Schlüsselbund, aber wo war das Handy? Er fasste tiefer hinein und fand es nicht, prüfte die Innentasche – nichts. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. War das Handy herausgefallen oder …?

      Hektisch suchte er die umgewühlte Wiese ab, seine Finger ertasteten feuchte Blätter und verwittertes Holz, einen Kronkorken, einen Regenwurm, aber sein Handy nicht. Er suchte weiter und weiter, tastete, fluchte. Nahm das blutverschmierte Halstuch hoch, aber auch darunter kam das Handy nicht zum Vorschein. Er schleuderte das Tuch wieder weg.

      O nein, nicht das Handy, dieses teure Teil mit dem schnellen Internet und dem großen Speicher! All seine Musik. All seine Bilder und Videos. DAS Video. Wenn sie ihm das Handy geklaut hatten, hätten sie ihn eigentlich auch gleich totschlagen können. Es war eingeschaltet, und sie würden nicht lange brauchen, um den Pin-Code zu erraten. Philipps Geburtsdatum. Keine sehr originelle Idee, aber wer hätte denn ahnen können, dass ausgerechnet Philipp mit seinen Freunden ihm das Ding wegschnappen würde. Vier Ziffern, dann konnten sie alles aufrufen. ALLES. Dabei hatte er das Video doch nur für seine Eltern aufgenommen. Eines Tages wollte er es ihnen schicken. Irgendwann, wenn er sich stark genug fühlte und seine Mutter in guter Verfassung war. Er konnte es ihr nicht ins Gesicht sagen. Nicht den ersten Moment erleben, wenn sie es erfuhr, von Angesicht zu Angesicht. Seine eigene Rede. Mama, Paps, ich will euch was sagen

      Er versuchte, sich zu beruhigen. Vielleicht ahnten sie es ja längst. Und außerdem hatten sie nichts gegen Schwule. Immerhin war seine Mutter mit Annette befreundet, und das schon beinahe ihr ganzes Leben lang. Er hätte wenigstens Annette schon einweihen sollen, um eine Verbündete zu haben, wenn es darauf ankam. Aber gerade das hatte er eben nicht gewollt. Erst seine Eltern, danach alle anderen. So hatte er es sich gewünscht für die Zeit, in der er endlich den Mut fand. Denn Mut gehörte nun einmal dazu.

      Mama, Paps, ich will euch was sagen … Die halbe Schule war in seinem Adressbuch, die Oma, der Opa, alle Leute, die er kannte. Wie sollte er es aushalten, zu Hause zu sitzen wie auf einer Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte? Das Tuscheln im Dorf. Das Gucken und Drucksen. Mamas Kundinnen, ihre Freundinnen, ihre Eltern. Das würde sie nicht durchstehen. Sie war ja schon ausgeflippt, als er sich das Nasenpiercing hatte stechen lassen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Dieser eisige Blick. Das lange quälende Schweigen. Und natürlich wieder Tabletten. Sie regte sich doch schon auf, wenn Paps in Jogginghosen zur Tankstelle ging, um die Zeitung zu holen. Das war ja zu gewöhnlich. Das gehörte sich nicht.

      Er suchte weiter und immer weiter, aber das Handy war nicht da. Hilfe, schrie etwas in seinem Inneren, und er wollte fliehen vor dem, was sich da anbahnte, stolperte über die Lichtung zum Weg hinauf. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Einfach weg, irgendwohin, wo niemand ihn finden würde und wo es das Video nicht gab. War es denn nicht genug, dass sie ihn halbtot geschlagen hatten? Halbtot, jawohl, so fühlte er sich. Und eben deshalb käme er nicht weit. Allein


Скачать книгу