Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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wenn er unbegleitet damit fuhr und die Polizei ihn erwischte, gäbe es noch mehr Ärger. Wo sollte er bloß hin, bis die Beulen abgeschwollen und die Wunden verheilt sein würden? Bis er sicher sein konnte, dass keiner der Jungs das Video verschickte.

      Götzls Hof. Aus dem Nichts kam ihm der Kuhstall des Bauern in den Sinn, der einen fantastischen Heuboden hatte. Wie oft war er dort gewesen, hatte Strohballen übereinander getürmt, um durch die Dachluke auf sein Zuhause auf der anderen Straßenseite hinunterzuschauen. Spiel nicht dort, hatte die Mutter ihn ermahnt, als er noch ein Kind gewesen war. Der Götzl ist ein Säufer. Glaubte sie denn, dass er immer tat, was sie sagte? In all den Jahren war der Kuhstall mit dem Heuboden darüber sein eigenes Reich gewesen. Unbemerkt vom Rest der Welt hatte er ein Volk aus Kühen, Mäusen und Ratten regiert, während niemand ihn vermisste. Manchmal hatte er seine Playmobil-Ritter ruhmreiche Taten vollbringen lassen. Die Figuren lagen sicher noch immer in dem alten Versteck. Die Playmobil-Ritter, zweite Generation. Heimlich hatte er sie auf dem Heuboden deponiert. Und heimlich musste er jetzt selbst dorthin gelangen.

      Er zog sich die Kapuze auf den Kopf, als er aus dem Wald trat und an der Straße entlang zurück ins Dorf ging. Jeder Schritt tat weh, aber er musste sich beeilen. Falls er jetzt wenigstens ein bisschen Glück hatte und vor seiner Mutter zu Hause war, konnte er noch Proviant holen. Und vor allem das Notebook. Bestimmt reichte das WLAN bis hinüber zu Götzls Hof, und wenn nicht, konnte er den Stick nehmen, um ins Netz zu gehen und nachzuschauen, ob das Video irgendwo auftauchte. Bei der Vorstellung wurde ihm schwindelig. Shit! Hätte er Mama und Paps doch einfach alles gesagt. Er blieb stehen und seufzte. Einfach war ja Unsinn. Einfach war es eben nicht.

      Gerade als er zu Hause ankam, begann es zu regnen. Er blickte auf und registrierte, dass keines der Fenster im Haus erleuchtet und seine Mutter weit und breit nicht zu sehen war. Erleichtert schloss er auf, schaltete das Licht im Flur ein, betrachtete sich selbst im Garderobenspiegel und erschrak. Das linke Auge sah krass aus, die Unterlippe verkrustet von geronnenem Blut. Der helle Wahnsinn, dachte er, Klitschkos Gegner nach dem K.o. Ging das von selber wieder weg oder musste er doch zum Arzt?

      Mit einem Ruck löste er sich von seinem Spiegelbild, zog sich am Treppengeländer hoch und biss die Zähne zusammen, senkte den Blick und sah, dass aus dem Profil seiner Schuhe schwarze Klumpen auf die Fliesen rieselten, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er ging in sein Zimmer. Das Notebook lag auf dem Schreibtisch. Er nahm die Schulsachen aus dem Rucksack, um Platz zu schaffen. Jetzt war er froh, dass er immer das Kabel benutzte, wenn er zu Hause arbeitete. Der Akku musste vollständig geladen sein. Jacob verstaute das Notebook im Rucksack und stieg die Treppe vorsichtig wieder hinunter; bloß keine Erschütterungen. Im Kühlschrank fand er eine volle Flasche Wasser und den Rest der Quiche vom Mittagessen. Er packte beides ein, bog ins Wohnzimmer ab, nahm auch die Äpfel und Bananen aus der Kristallschale mit. Eine überreife Birne ließ er liegen.

      Wieder im Flur, hielt er inne. Musste er nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen? Er betrachtete den Notizblock auf der Kommode in der Diele. Wie üblich lagen die beiden Kugelschreiber parallel zu seiner Kante bereit – der blaue für gewöhnliche Notizen, der rote für besonders dringliche Mitteilungen, deren Beachtung keinerlei Aufschub duldete. Er nahm den roten Stift in die Hand und dachte nach. Was sollte er denn schreiben? Hallo Mama, ich bin völlig ramponiert, ich muss mich verkriechen, es wird Aufregung geben? Er legte den Stift wieder hin. Nein, keine Nachricht heute.

      Behutsam schob er sich den Rucksack über die Schulter, holte eine alte Decke aus der Abstellkammer und machte sich auf den Weg.

      Viel schwerer als früher fiel es ihm, die Stalltür zu öffnen. Die Kühe muhten laut, als er eintrat, liefen durcheinander, die einen zu den Futtertrögen, die anderen Richtung Melkstand, sie wateten in ihrem eigenen Dreck. O Mann, wechselte denn der Götzl jetzt nicht mal mehr das Stroh aus? So hatte es hier doch damals nicht gestunken. Jacob legte eine Hand vor Mund und Nase, aber dennoch nahm eine quälende Übelkeit ihn mit jedem Atemzug stärker in Besitz. Götzls grauweiße Katze lief auf ihn zu, strich ihm um die Beine. Unmöglich, sich zu bücken, um sie zu streicheln. Mit dem Fuß schob er sie sachte beiseite und schleppte sich vorwärts, erblickte die Leiter, die zum Heuboden hinaufführte, schaute nach oben. War das immer schon so hoch gewesen? Umständlich klemmte er sich die Decke unters Kinn, umfasste die Leiter mit beiden Händen. Komm schon, du schaffst das, feuerte er sich an, als er die erste Sprosse erklomm. Wieder stach ihm der Schmerz in die linke Seite. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und nun war es nicht mehr aufzuhalten. Er ließ die Decke fallen, eilte so schnell es ging zum nächsten Futtertrog und erbrach sich hinein. Das Würgen war ekelhaft, und doch kam es ihm richtig vor. Die Sache mit Philipp, die Schläge und Tritte am Weiher, das gestohlene Handy; zum Kotzen war das alles, raus damit, zum Kotzen das ganze Leben in diesem Nest, raus, raus, igitt.

      Als nichts mehr aus seinem Magen nach oben drängte, schlurfte er zum Wasserhahn und drehte ihn auf, spülte sich den Mund aus und schaufelte sich das kühle Nass ins Gesicht. Ja, jetzt war es besser. Jetzt würde er den Gestank ertragen können, und die Leiter würde zu schaffen sein. Sprosse für Sprosse und mit Bedacht. Als er oben angekommen war, ließ er sich ins Stroh sinken, schob sich die Decke unter den Kopf und sah Sterne. Dann wurde es dunkel.

       Freitag, 14. November 2014, 19.01 Uhr

      Karin schloss die Wohnungstür auf und schaltete das Licht in der Diele ein. Wie sah denn der Fußboden aus! Hatte Jacob einen Trupp Bauarbeiter zu sich ins Zimmer eingeladen oder was hatte all dieser Dreck zu bedeuten? Sie rief nach ihm und erhielt keine Antwort. Hatte der Junge das angerichtet und war dann noch mal fortgegangen? Sie streifte die Stiefeletten von den Füßen und stellte sie auf der Fußmatte ab. So geht das, Freundchen, ganz einfach. Hieß es nicht, mit siebzehn seien die schlimmsten Symptome der Pubertät allmählich vorbei? Dann musste Jacob in dieser Hinsicht wohl ein Spätentwickler sein. Anscheinend konnte er das Provozieren noch immer nicht lassen. Sie schaute auf das leere oberste Blatt des Notizblocks. Na bitte, auch das noch. Keine Nachricht, wo er war, wann er nach Hause kommen würde, ob er zu Abend gegessen hatte. Sie stellte den Musterkoffer und die Handtasche auf der Kommode ab, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe, holte das Handkehrset aus dem Schrank hinter der Küchentür.

      Sie sollte das nicht tun. Wenn er diese Schweinerei veranstaltet hatte, sollte er sie gefälligst auch selbst beseitigen. Aber andererseits hatte sie auch keine Lust, mit anzusehen, wie Sand und Erdklumpen sich überall im Haus verteilten. Du liebe Güte, war er denn an diesem trüben Tag im Wald gewesen?

      Sie kehrte den Schmutz zusammen und zog sich um, brachte die Liste mit den Bestellungen ins Arbeitszimmer im Obergeschoss und betrachtete sie zufrieden. Der Herbst war eine gute Jahreszeit, um Kosmetik zu verkaufen. Wenn die Gesichter blass wurden, die Kälte die Haut spröde werden ließ und die Feiertage vor der Tür standen, brachten sich all die Tuben und Dosen und Flakons leicht an die Frau. Gönnen Sie sich ruhig mal was, sagte sie zu ihren Kundinnen. Das hatte sie in der Schulung der Firma gelernt. Es half tatsächlich; ein Augenzwinkern, ein verschwörerischer Unterton, und schon war wieder ein Bestellzettel ausgefüllt. Die Arbeit für heute war getan. Jetzt hatte sie Hunger, aber wo blieb der Junge?

      Sie ging in die Diele zurück, holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte seine Nummer. Es klingelte einmal, zweimal, hörte auf.

      »Hallo – Jacob?«, sagte sie in die Stille hinein. »Jacob?«, noch einmal. Keine Antwort.

      Aber da war doch jemand dran!

      »Was soll das? Jacob, jetzt melde dich schon.« Sie betrachtete das Display. Zumindest auf ihrer Seite war das Netz stabil. Sie lauschte. »Jacob, hörst du mich?«

      Kicherte da jemand? Sie bekam eine Gänsehaut, drückte das Gespräch weg und rieb sich die Oberarme. Was war denn bloß los? Sie ging in die Küche, und während sie zwei Scheiben Brot abschnitt, ließ sie den Tag Revue passieren. Sie hatten zusammen gefrühstückt, ein paar eilige Happen, dann war er wie immer losgerannt, um den Schulbus noch zu erwischen. Keine besonderen Vorkommnisse also, auch beim Mittagessen nicht. Vielleicht war er ein bisschen schweigsam gewesen, aber auch das war nichts Neues. Jedenfalls erzählte er ihr gewöhnlich nicht, was er erlebte, was er dachte, vorhatte,


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