Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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versäumten und die Frauen nach der Messe das Mittagessen kochten, sobald sie nach Hause kamen. Alle Frauen. Auch Karin. Annette wäre am liebsten auf der Stelle umgedreht, als sie daran dachte. Sie fuhr nicht mehr oft nach Eschenreuth, seit ihre Mutter gestorben und ihr Vater zu Rosis Familie nach Nürnberg gezogen war. Ihre Schwester hatte alles geregelt, das Elternhaus über der Backstube, in die ihr Vater jeden Morgen um drei hinuntergestiegen war, gehörte wie auch der Laden mit dem Café längst einer jungen Familie, und diese Leute waren die einzigen Menschen im Dorf, die Annette nicht kannten. Alle anderen wussten genau Bescheid über das Vogl-Mädchen, das so jung schon ausgeflogen war. Ausgeflogen in eine eingemauerte Stadt mitten in der Ostzone. Keinen Mann hatte das Vogl-Mädchen, aber es wurde gemunkelt über diese andere Sache, über die man gar nicht wirklich munkeln konnte, weil es dafür keine Worte gab in Eschenreuth. Wohl aber rümpfte man die Nase oder riss schon mal Witze oder beides, je nach Laune und Tagesform. Doch wenn sie durch den Ort ging, hoben die alten Männer die Hüte an und die Frauen nickten sacht. Ihr Vater hatte für sie alle das tägliche Brot gebacken, die wenigen kleinen Pensionen mit frischen Semmeln versorgt und den Leuten manche Hochzeitstorte kreiert. Ihre Mutter war stets freundlich gewesen, wenn sie im Laden bediente oder im Café die Bestellungen aufnahm, immer gut gelaunt, immer flott und niemals krank. Ja, man grüßte das Vogl-Mädchen, wenn es wieder angeflogen kam, mal zu Ostern, mal im Sommer, mal zur Weihnachtszeit. Kam sie am Dorfplatz vorbei, betrachtete man sie wie ein seltenes Gewächs, eine fleischfressende Pflanze vielleicht, und sie krallte die Hände fest um das Steuer des Wagens, als sie es sich vorstellte.

      Nach zweieinhalb Stunden auf der Autobahn rutschte die Tankanzeige in den roten Bereich. Es passte ihr nicht, die Fahrt unterbrechen zu müssen, aber sie hatte keine Wahl und setzte den Blinker, als die Ausfahrt zum Rasthof in Sicht kam. Erst als das Benzin durch den Zapfhahn lief, spürte sie, wie müde sie war, und sie stellte sich vor, wie Grit den Kopf schütteln würde und wie sie erfüllt wäre von bitterem Spott. Sie hatte Grit vertröstet wegen der Story über Georgia O’Keeffe. Einmal mehr keine Zeit wegen der Arbeit. Dagegen war nichts einzuwenden, und Grit hatte nichts eingewandt. Wie sollte sie ihr nun den plötzlichen Aufbruch erklären? Ein Notfall, gewiss. Aber irgendein Fall war es immer, wenn es um Karin ging, ein Ausnahmefall manchmal, ein spontaner Einfall hin und wieder, ein Rückfall zumeist. Was willst du da noch?, fragte Grit in eifersüchtigem Ton, und Annette konnte ihr keine Antwort darauf geben. Einst war dieses Dorf ihr erschienen wie das tote Ende der Galaxis, und so war sie losgezogen ins Zentrum der Milchstraße, die von Mauern umgeben war. Von einer Sonne zur nächsten war sie gedüst, eine aufregende Zeit, wunderbar, grausam und dann wieder schön. Die Sonnen waren hell gewesen und heiß, aber dann hatten sie sich aufgebläht und waren verglüht, eine nach der anderen. Supernova. Sternenstaub. Und das Dorf mit all seinen Menschen war immer noch da. Hier hatte sie laufen gelernt. Lesen gelernt. Lieben gelernt. Jaja, auch das.

      Als sie das Benzin bezahlt hatte, verspürte sie ein dringendes Verlangen nach heißem Kaffee, fuhr ein paar Meter weiter und balancierte kurz darauf ihr Tablett zu einem Tisch am Fenster des Restaurants. Durch die regennassen Scheiben betrachtete sie das monotone Grau des herbstlichen Himmels in der Morgendämmerung. Sie zog den Deckel von einem winzigen Sahnetöpfchen und gab seinen Inhalt in den Becher, ließ eine zweite Portion folgen und rührte um. Sie trank einen kleinen Schluck, aber der Kaffee war noch viel zu bitter. So ging sie noch einmal zur Selbstbedienungstheke und griff erneut in den Korb mit der Sahne. Die Kassiererin, eine junge Frau mit einer langen blonden Mähne und einem Pferdegesicht, unterbrach die gelangweilte Prüfung ihrer Fingernägel und schaute auf. Es lag etwas Tadelndes in ihrem Blick. Ein Becher Kaffee und drei Portionen Sahne. Unmäßigkeit hieß das Wort, das ihr aus den Augen stach. Warum verwendeten sie auch diesen Plastikmüll, dachte Annette, nahm den Korb in die eine Hand und wühlte mit der anderen darin, nahm Töpfchen für Töpfchen heraus und betrachtete die Bilder auf den Deckeln. Die Loreley legte sie ebenso zurück wie St. Bartholomä, aber Schloss Neuschwanstein wählte sie aus und den Hamburger Hafen, Nummer vier und fünf, die sie sicher nicht benötigte. Sie stellte den Korb zurück und lächelte die Kassiererin an. Das Pferd blähte die Nüstern.

      Das Restaurant lag noch im Schlaf, aus dem Radio rieselte ein Hit des vergangenen Sommers aus unsichtbaren Lautsprechern in den Raum. Der Parkplatz war beinahe leer, nur ein Mercedes-Transporter stand unweit ihres eigenen Wagens, eines saphirblauen Renault Clio, den der Regen gewaschen hatte. Bodenbeläge – Verlegung und Vertrieb, Herbert Müller, stand auf dem Lieferfahrzeug. Vermutlich war das der Mann, der unweit von ihr mit einem Spielautomaten beschäftigt war. Zusammengesunken kauerte er auf dem Barhocker, das obere Ende seines Hinterns lugte über den Rand der Arbeitshose. In der linken Hand hielt er einen Becher von der Sorte, wie er auch vor Annette stand, mit der rechten schob er in unregelmäßigen Abständen Münzen in einen Schlitz. Seine Augen spiegelten sich im blankpolierten Glas des Automaten, verfolgten gebannt das Blinken der Lichter, schnelle und langsame Sequenzen, untermalt von einem elektronisch verzerrten Ding-Dong, das abwechselnd in schneller Folge Spannung verhieß oder abfallend ein Bedauern zum Ausdruck brachte. Schade, leider nicht gewonnen. Die nächste Münze, bitte.

      Sie beobachtete, wie der Mann das Portemonnaie öffnete, dann wandte sie sich ihrem Frühstück zu. Sie hatte sich das vielversprechendste Brötchen ausgesucht, aber auch das erwies sich als Reinfall. Dem pappigen Teig fehlte Salz, die Butter war viel zu dick aufgetragen, und bei näherer Betrachtung musste sie erkennen, dass der Käse sich an den Rändern schon nach oben bog, während er in der Mitte wabbelig war, aufgeweicht von der Tomatenscheibe, die dem traurigen Häppchen als Dekoration dienen sollte und ihm doch nur den Rest gab.

      Das Brötchen schmeckte nicht. Nichts schmeckte ihr nach dieser viel zu kurzen Nacht. Jacob weg. Sollte sie sich nun sorgen, wie Karin es tat, oder sollte sie ärgerlich werden, weil der Junge mit seinem Verschwinden alles durcheinanderwirbelte? Es war schon merkwürdig, dass er nicht einmal ihr etwas gesagt oder geschrieben hatte. Waren ihre Besuche bei den Buceks zu selten geworden? Sie erinnerte sich, wie es gewesen war, als er mit einer schlimmen Grippe niederlag, ein blasses trauriges Kind in einem riesigen Federbett, die Augen fiebrig und feucht. Meine Playmobil-Ritter sind weg, hatte er gejammert, und sie hatte ihm zu seinem nächsten Geburtstag neue besorgt. Von Sascha hatte Jacob ihr erzählt, seinem Lieblingsonkel, diesem Aussteiger, wie die Leute im Dorf ihn nannten. Sascha macht bunte Lederschuhe in Spanien, hatte er geflüstert. Aber sag es nicht weiter. Vertrauen war schön, aber es konnte einen auch in die Zwickmühle bringen. Wann immer sie aus dem Kinderzimmer kam, hatte Karin sie verletzt angesehen. Warum verrätst du mir nicht, was er dir erzählt? Warum verrätst du mich? Stumme Fragen, doch Annette war standhaft geblieben. Schließlich hatte sie Jacob ihr Indianerehrenwort gegeben, und Indianerehrenwörter brach man nicht.

      Aber nun war Jacob kein Kind mehr. Inzwischen spürte sie, dass er sich auch vor ihr verschloss, oder lag es nur an der Pubertät? Vielleicht hatte sie ihn in letzter Zeit zu wenig beachtet. All die Ereignisse, über die sie schrieb und die ihre Aufmerksamkeit forderten, Konzerte und Varietés, Vernissagen und Finissagen, Lesungen, Filmpremieren und Theaterabende, dazu all die privaten Verabredungen. Und Grit. In Berlin fand ihr Leben statt – ein Leben, von dem Jacob nicht viel mitbekam. Seine Nachrichten waren nur wenige von all jenen, die ihren elektronischen Briefkasten überschwemmten. Es blieb nicht viel Raum für einen Teenager. Dabei war es gerade mit einem Jugendlichen wie mit allem anderen auch. Man musste sich ihm ganz widmen oder gar nicht. Alles andere war Wischiwaschi, alles andere schadete nur.

      Sie betrachtete den letzten Happen in ihrer Hand und seufzte. Sie sollte viel langsamer essen, sollte sich noch ein Brötchen kaufen und noch eines, egal, wie es schmeckte. Sie sollte sich einen riesigen Salat auftürmen, sich Rühreier von den Warmhalteplatten aufladen und das komplette Buffet in aller Ruhe verspeisen, nur um nicht dieser Ungewissheit entgegenfahren zu müssen. Was würde sein, wenn Karin recht behielte und wirklich etwas passiert war? Sie spürte es in jeder Zelle ihres Körpers. Nichts Gutes kam da auf sie zu.

      Hier war es doch gemütlich mit dem Pferd an der Kasse und mit Herbert Müller oder wer es auch war, der da sein Geld verschleuderte. Der Automat vor ihm blinkte nun wilder. Eine Sirene jubelte. Herbert Müller stellte den Becher auf einen zweiten Hocker neben sich und verdeckte mit der frei gewordenen Hand das Geschehen hinter dem Glas, während er mit der anderen im Rhythmus der Töne einen roten Knopf betätigte. Er drückte und presste, rutschte vor und zurück,


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