Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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Schale gegen die Wand. Das Kristall zerbarst in einem Scherbenregen, die Birne rollte zu ihr zurück, aber der Druck auf ihre Kehle verminderte sich. Sie schmiss auch das Glas und die Buddenbrooks. Wasser spritzte durch den Raum, das Buch polterte zu Boden. Nun griff sie das Telefon und holte erneut zum Wurf aus. Aber das Wort war schon geflohen. Sie hielt inne und sammelte sich, spürte, wie der Puls ihr im Hals hämmerte, und hörte das Rauschen in den Ohren. Alles, alles, nur nicht mehr das Wort.

      Ihr Herz beruhigte sich nur langsam. Sie betrachtete die Tasten des Telefons, erinnerte sich an das letzte Mal, als sie Pavel wegen Jacob angerufen hatte.

       In Prag wäre das nicht passiert. Warum seid ihr nicht hier?

      Pavel war nicht wie ihr Vater. Er würde es nicht aussprechen, und doch lägen seine Worte wie ein Surren in der Leitung. Das würde sie jetzt nicht auch noch ertragen. Es surrte schon genug in ihrem Kopf. Aber sie musste mit jemandem reden, auch wenn es mitten in der Nacht war. Noch einmal Holger anrufen? Oder doch lieber Annette? Immerhin war sie Jacobs Patentante und gewöhnlich viel besser über alles informiert, was ihn betraf. Bei ihr war er nicht wortkarg, wenn sie ins Dorf kam. Es wurmte Karin gewaltig, aber jetzt war nicht die Zeit für solch einen Ärger. Vielleicht wusste Annette ja wirklich mehr als sie.

      Sie drückte die Kurzwahltaste für Annettes Nummer und wartete. Als eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung in den Hörer nuschelte, traten ihr die Tränen in die Augen. Das hier war nicht auszuhalten.

      Es aussprechen.

      Jacob.

      Verschwunden.

       Samstag, 15. November 2014, 3.23 Uhr

      Annette schrak aus dem Tiefschlaf hoch, als das Telefon klingelte. Sie öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit hinein. Wer rief denn so früh am Morgen an, um Himmels willen! Oder war es etwa noch mitten in der Nacht? Sie blinzelte auf den Wecker. Tatsächlich erst kurz vor halb vier. War etwas mit ihrem Vater? Ein neuerlicher Herzinfarkt vielleicht?

      Sie hangelte nach dem Telefon, das neben ihrem Bett auf dem Fußboden lag. Das Display zeigte die Nummer der Buceks. Sie nahm das Gespräch an und murmelte ein müdes Hallo.

      »Jacob muss etwas passiert sein – er ist weg«, hörte sie Karin sagen. Ihre Stimme klang gepresst. Nicht einmal für eine Begrüßung hatte sie sich Zeit genommen.

      Annette rieb sich den Schlaf aus den Augen, schaltete die Leselampe ein, die sie erst vor dreieinhalb Stunden ausgeschaltet hatte. Bildbände lagen aufgeschlagen um sie herum, ihr Bleistift klemmte in der Spalte zwischen Matratze und Bettgestell, und die Spiralbindung des Notizblocks drückte gegen ihre Hüfte. »Weg? Wie meinst du das? Was ist los?«

      »Ich habe keine Ahnung.« Nur ein Wispern.

      Annette war plötzlich hellwach, schob die Decke zur Seite und stand auf, presste das Telefon fest ans Ohr.

      »Schsch«, machte sie und hob beschwichtigend die freie Hand, als könnte Karin sie sehen. »Keine Angst, keine Sorge.« Sie kramte das Handy aus ihrer Tasche und sah nach, aber sie hatte keine Nachricht von Jacob und auch keinen Anruf verpasst.

      »Sag mir, was das zu bedeuten hat«, jammerte Karin ihr ins Ohr. »Bitte, ich verstehe es nicht. Was soll ich denn machen?«

      »Jetzt beruhige dich erst mal. Es ist Wochenende. Und er ist schließlich kein Kind mehr. Vielleicht war er auf einer Party und übernachtet bei einem Freund.«

      »Bestimmt nicht. Jacob geht nicht auf Partys. Und wenn ausnahmsweise doch mal, dann hätte er mir Bescheid gesagt.«

      »Vielleicht hat er ja auch jemanden kennengelernt. Ich glaube nicht, dass er seine Mutter anruft, wenn er gerade angenehm beschäftigt ist.«

      »Nein, da ist auch noch was anderes. Ich habe immer wieder versucht, ihn zu erreichen. Es ist jemand an sein Handy gegangen, aber er hat sich nicht gemeldet. Und später war die Mailbox an.«

      »Hast du eine Nachricht hinterlassen?«

      »Nein. Wie käme ich mir denn da vor? Ich lasse mich doch von meinem Sohn nicht zum Besten halten.«

      Annette runzelte die Stirn. Jetzt redete Karin wie ihre eigene Mutter. Plötzlich diese Strenge im Ton – hörte denn das nie auf? »Warte mal kurz«, sagte sie und legte das Telefon beiseite, wählte mit ihrem eigenen Handy Jacobs Nummer und wartete die Ansage am anderen Ende der Leitung ab. »Jacob, wenn du das hier hörst, dann melde dich mal, ja? So bald wie möglich – es ist wichtig.«

      Sie beendete das Gespräch und nahm den anderen Hörer wieder auf. »Was ist eigentlich mit Pavel? Hast du ihn gefragt, ob er was weiß?« Vielleicht war Jacob ja zu seinem Vater gefahren, überlegte sie.

      »Nein«, antwortete Karin knapp und trotzig.

      »Also hör mal, was machst du die Pferde scheu, das wäre ja wohl die erste …«

      »Jacob ist nicht in Prag. Das wüsste ich. Er hat kein Waschzeug dabei.«

      »Kein Waschzeug? Na, dein Mann hätte ja wohl eine Zahnbürste und ein Handtuch für seinen Sohn. Frag doch mal nach.«

      »Das kann ich nicht, es ist mitten in der Nacht.«

      »Ach, tatsächlich«, sagte Annette in ironischem Ton. »Meinst du, bei mir ist es Mittag?« Einmal mehr spürte sie den alten Zwiespalt, wusste genau, dass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit füreinander da waren, noch immer und trotz allem. War das nun immerwährende Freundschaft, Nähe und Vertrautheit? Oder bloß noch ein Reflex? Am anderen Ende der Leitung blieb es lange stumm, dann war ein Schniefen zu hören.

      »Ach, Karin«, sagte sie nun sanfter und fragte sich, wann sie zum letzten Mal erlebt hatte, dass ihre alte Freundin weinte. Es musste vor einer Ewigkeit gewesen sein. »Geh doch bei Holger vorbei, besprich dich mit ihm. Er wird dir zuhören.« Warum machte Karin es immer so kompliziert? Es waren keine zehn Minuten zu Fuß von ihrem Haus bis zum Sportplatz, neben dem Holgers Wohnung lag. Weshalb kam sie nicht von selbst auf diese Idee?

      »Ich kann doch um diese Zeit nicht im Dorf herumspazieren. Wenn jemand …«

      Annette wartete, aber Karin sprach den Satz nicht zu Ende. »Dich sieht, willst du sagen, ja? Du rufst hier an, weil Jacob nicht da ist, bist völlig aufgelöst, aber trotzdem scherst du dich um das Gerede der Leute. Immer und immer wieder.« Ein uralter Groll stieg in ihr auf.

      »Ich habe bereits mit Holger telefoniert«, sagte Karin sachlich. »Er weiß auch nicht, wo Jacob sein könnte.«

      »Na schön, aber du wärst nicht allein. Und morgen früh klärt sich bestimmt alles auf.«

      »Nein, das glaube ich nicht.« Jetzt weinte Karin wieder, ihre Stimme klang brüchig. »Es ist bestimmt etwas passiert. Kannst du nicht herkommen?«

      Annette hörte die Tränen und hörte die Angst. Unwillig brummte sie in den Hörer. Eigentlich musste sie das ganze Wochenende arbeiten. Der Bericht über Geogia O’Keeffe anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung zu ihren Ehren musste am kommenden Dienstag fertig sein. Die Redaktion kannte kein Erbarmen, wenn es um die Abgabefristen der Texte ging, selbst die Bilder für den Beitrag hatte sie noch nicht ausgewählt. Sie konnte es sich nicht erlauben, den Auftrag zu vermasseln, und das Honorar war auch schon lange verplant.

      »Nein, das geht nicht«, sagte sie und spürte selbst, wie wenig überzeugend sie klang.

      »Bitte!«, flehte Karin jämmerlich. »Bitte komm her.«

      Annette seufzte, und der Druck auf ihr Gewissen verscheuchte jedes ihrer Argumente. »Na gut, ich komme«, sagte sie widerwillig, beendete das Gespräch und schlurfte leise fluchend ins Bad.

      Die Strecke kannte sie genau, Berlin – Eschenreuth, vierhundert Kilometer nach Süden, kein allzu weiter Weg und doch jedes Mal die Reise in eine völlig andere Welt, dorthin, wo die Hügel, die Häuser und die Straßen alte Geschichten flüsterten. Wo die Blicke der früheren Nachbarn sich noch heute verfinsterten, wenn sie auf der


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