Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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die Schultern gelegt und wegen ihr bekam er auch kein fleckig gerötetes Gesicht. Sie verstanden sich einfach gut, auch wenn es ihr manchmal auf die Nerven ging, dass er ständig von ihrer Schwester sprach.

      »Rosi ist unser Passagier«, protestierte er auch, wenn sie ihm erzählte, was sie über das neue Mädchen herausgefunden hatte. Familie Schmitz war aus der Stadt gekommen und in das Haus neben der Kurklinik gezogen, das so lange leer gestanden hatte. Im Dorf nannte man es stets ›die Villa‹. Es hatte einen kleinen Garten zur Straße und einen riesigen nach hinten hinaus, der gleich an den Kurpark grenzte. Die Familie kannte niemanden in Eschenreuth. Manchmal sah Annette zwei kleine Jungs im Garten herumtoben, Karins jüngere Brüder, die Zwillinge sein mussten, so ähnlich sahen sie sich. Karin tobte nie im Garten der Villa, sie hatte anderes zu tun. Viermal in der Woche fuhr ihre Mutter sie in die Stadt zum Ballettunterricht, kaufte unterdessen ein und nahm sie wieder mit zurück. Die Hinfahrt, die Zeit zwischendurch und die Rückfahrt zusammengerechnet, waren sie vier Stunden fort. Darüber sprach man in Eschenreuth, weil sie in dieser Zeit die Aufwartefrau auf die Jungen aufpassen ließ. Niemand in der ganzen Gegend hatte je eine Aufwartefrau gehabt, vielleicht der Geschäftsführer der Pharmafabrik, die hinter den Hügeln lag, aber der wohnte weit weg am Starnberger See.

      Irgendwie war Karins Mutter eine komische Frau. Annette war nicht entgangen, dass Karin die schönste Federmappe hatte und den größten Ranzen, dass sie jeden Tag einen anderen Pullover trug und Bücher las, die nicht aus der Gemeindebibliothek kamen. Aber nie hatte Karin einen Lutscher oder ein Stück Schokolade dabei. Annette hätte ihr gern einmal etwas geschenkt, eines von den Nonnenhörnchen vielleicht, für die ihr Vater im ganzen Landkreis gerühmt wurde, weil er den Teig so wunderbar locker hinbekam. Aber Karin rührte nichts Süßes an, und Holger würde es ärgern. Je öfter Karin zu ihnen kam, desto mehr schimpfte er über sie. Wenn sie sich vor der Schule im Handspiegel betrachtete und den Sitz ihrer strohblonden Zöpfe korrigierte, nannte er sie eitel. Wenn sie vom Ballett erzählte oder eine ihrer Übungen zum Besten gab, meinte er, es sei Angeberei. Und wenn sie kurz vor Unterrichtsbeginn ihre Zahnspange aus dem Mund nahm und sie gegen einen zuckerfreien Kaugummistreifen tauschte, um ihn beim Eintreten der Lehrerin schon wegzuwerfen, maulte er wieder, weil es in seinen Augen Verschwendung war. Am meisten aber hasste er es, wie Karin redete. Annette fand, dass sie einfach nur ein lispelndes Zahnspangenhochdeutsch sprach, aber Holger fand es geziert. Wenn es um Karin ging, hörte er sich genauso streng an wie seine Oma. Er benutzte sogar dieselben Worte.

      Hochmut kommt vor dem Fall.

      Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden.

      Und dann fing er wieder von Rosi an.

      Die Tage wurden kürzer, der Nebel hielt sich bis zum Mittag zwischen den Wipfeln der Bäume. Allerheiligen kam und Allerseelen, der Volkstrauertag und der Totensonntag, der zweite Advent und der erste Bodenfrost. Karin kam inzwischen nicht mehr zur Kastanie. Auf dem Schulhof blieb sie allein, ließ einen Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen oder spielte mit ihrem Jo-Jo. Und die Düsen des Jets blieben weiter still.

      Annette saß immer grimmiger neben Holger auf dem Ast; sie hatte keine Lust, nur herumzuhocken, und sie mochte auch nicht mehr zusehen, wie er diese Leberwurstschnitten in sich hineinstopfte. Mit jedem neuen Schultag wurden die Pausen trister. Bis zu jenem denkwürdigen Morgen nach dem dritten Advent.

      Der weiße Mercedes hielt direkt vor der Schule. Karins Mutter stieg aus, eilte um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür. Zwei dünne Beine schoben sich langsam aus dem Auto hervor. Das rechte steckte bis zum Knie in einem roten Stiefel. Das linke ebenso weit in Gips.

      Karin nahm die Krücken von ihrer Mutter entgegen und humpelte los, den Blick zu Boden gerichtet. Eine Traube aus Kindern bildete sich am Schultor. Drei Wochen war es schon wieder her, dass der Junge aus der Vierten nach einer Rauferei mit einer Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus gebracht werden musste. Seither hatte es keine Aufregungen mehr gegeben. Und nun ein Gipsbein am Montag. Das konnte eine tolle Woche werden!

      Umgeknickt sei sie, böse umgeknickt. Karins Mutter verkündete es so laut, dass alle in der Menge es hören konnten. Beim Ballett sei es passiert, am Sonntag nach der Messe. Karin habe mit ein paar anderen Mädchen aus ihrer Gruppe für eine Kinderaufführung geübt, Der Nussknacker am Weihnachtstag. Nach einem Sprung sei sie unglücklich aufgekommen, furchtbar unglücklich. Ihr Vater habe den Bänderriss sofort diagnostiziert, sei mit ihr in seine Behandlungsräume in der orthopädischen Abteilung der Kurklinik gefahren und habe den Fuß eingegipst. Mindestens sechs Wochen würde sie nicht trainieren können. Und Weihnachten ginge sie an Krücken. Karins Mutter strich ihrer Tochter über den Kopf, wo ein sehr gerader Scheitel ihr zu Zöpfen gebändigtes Haar exakt teilte. Karin hob die Lider noch immer nicht. Die Menge sammelte sich enger um sie. Fräulein Egge sprach ein paar tröstende Worte. Jemand bückte sich zu Karins Gips hinunter und klopfte gegen die harte Schale. Eine Stimme aus dem Hintergrund fragte: »Darf ich was draufmalen?«

      Annette wollte wissen, was Holger von dieser Sache hielt, aber er sagte kein einziges Wort dazu, schwieg, bis die Schulglocke die erste Stunde einläutete, schwieg in der kleinen Pause und auch um halb zehn im Cockpit.

      »Was hast du denn?«, fragte sie ihn und nahm ihre Semmel aus der Butterbrotdose. »Sei doch zufrieden. Du hast doch immer gesagt: Hochmut kommt vor dem Fall.« Sie imitierte seinen missbilligenden Ton. »Hast recht behalten.«

      Tatsächlich verstand sie ihn nicht. Die ganze Zeit über hatte er kein gutes Haar an Karin gelassen, hatte sich nicht dafür interessiert, wo sie war und was sie tat, und jetzt sah er ihr mit einer derart verwunderten Miene nach, als hätte er noch nie ein Gipsbein gesehen. Und durch das Unverständnis in seinem Blick schimmerte Mitgefühl. Wahrscheinlich war das auch wieder so etwas, das er von seiner Oma lernte und das Annette nie begriff: Der Pfarrer erklärte in der Kirche, was man nicht tun durfte. Wenn man doch etwas tat, das verboten war, guckten alle böse und es konnte sein, dass Gott sich eine gemeine Strafe ausdachte, irgendwas wie Masern oder eine Fünf im Diktat oder ein Stromausfall, gerade wenn Bonanza anfing. Jedenfalls wurde man traurig, und je trauriger man war, desto besser. Dann kamen die anderen Kinder, um zu trösten, und auch der Pfarrer war versöhnt. Traurig zu sein war eigentlich das Tollste, was einem passieren konnte. Sogar Holger schimpfte nun nicht mehr über Karin. Er sprach mit vollem Mund.

      »Gestern Nachmittag hab ich sie gesehen. Vor ihrem Haus.« Er kaute ein bisschen und schluckte, weil er wohl selbst merkte, dass er kaum zu verstehen war. »Ich bin auf dem Weg vom Wald nach Hause bei ihr vorbeigeradelt. Es war schon fast dunkel.«

      »Ja, und?« Es begann zu regnen. Sie zog sich die Kapuze auf den Kopf.

      Er tat es ihr gleich. »Sie hat keinen Gips gehabt.«

      Annette umfasste ihre Semmel fester. Ein paar Krümel rieselten zu Boden. »Bist du sicher?«

      Holger nickte. »Sie hatte ein Band zwischen zwei Bäume gespannt und hat Gummitwist gespielt. Alleine. Und ihre Füße waren in Ordnung.«

      Sie schürzte die Lippen und dachte nach. Das war aber sehr merkwürdig. Warum sagte Karins Mutter, es sei am Mittag schon passiert? Und beim Ballett? Das konnte ja wohl nicht stimmen. Vielleicht war sie beim Gummitwist umgeknickt. Wollte Karins Mutter nicht, dass Karin Gummitwist spielte? Durfte das niemand wissen? Gehörte am Ende auch Gummitwist in die lange Liste der Dinge, die für Mädchen verboten waren? Das wäre neu.

      Sie schaute auf die Uhr, die über dem Eingangsportal der Schule hing. Es war noch genug Zeit. »Komm«, sagte sie zu Holger, sprang auf und ging auf dieses seltsame Mädchen zu.

      Wie ein Storch stand Karin auf dem gesunden Bein, hielt das eingegipste angewinkelt in der Luft. Annette bemerkte, wie schwer es ihr fiel, ihren Apfel zu essen, ohne die Krücken loszulassen.

      »Soll ich die mal nehmen«, sagte sie daher und griff danach. Zuerst schüttelte Karin den Kopf, aber als der Apfel ihr beinahe aus der Hand rutschte, ließ sie die Krücken los.

      »Ganz schön blöd, was?« Annette humpelte versuchsweise um sie herum. »Ist bestimmt ziemlich dick geworden, oder? Nur gut, dass dein Vater Arzt ist.«

      Karin kniff die Lippen zusammen.

      »Was


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