Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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beziehen, die Bettwäsche waschen und die Küche putzen. Dienstags bügelte sie die Bettwäsche, kaufte ein und fuhr den Wagen in die Waschanlage. Mittwochs wusch sie die Kleidung, und während die Maschine arbeitete, polierte sie das große Bad im Erdgeschoss und das kleinere oben. Danach blieb immer noch Zeit, sich zwei, drei Paar Schuhen zu widmen. Donnerstags bügelte sie die Kleidung und wischte und saugte im Obergeschoss Staub. Jacob ließ sie nur ungern in sein Zimmer, aber das, was er Saubermachen nannte, hatte diese Bezeichnung nun wirklich nicht verdient. Da musste sie ja doch immer noch mal hinterher. Freitags war das Erdgeschoss dran. Das Esszimmer war allerdings nicht jede Woche nötig, wo sie es doch schon vor Jahren abgeschlossen hatte. Du liebe Güte, Sauce Hollandaise auf dem Fußboden in der Spargelzeit, Salatdressing im Sommer und Pilzragout im Herbst. Wenn sie nicht anständig essen konnten, mussten sie es eben in der Küche tun. Den guten Teppich ließ sie sich jedenfalls nicht ruinieren, und wenn sie das Esszimmer auslassen konnte, schaffte sie am Freitag sogar noch die Einkäufe für das Wochenende sowie alle Arzt- und Apotheken-, Bank- und Friseurbesuche. Natürlich musste sie auch kochen, außer wenn etwas übriggeblieben war. Das kam aber nur vor, wenn sie es aus Mangel an Zeit so plante. Wer mochte denn schon aufgewärmtes Essen? Für die Bestellungen ihrer Kundinnen, die Auslieferung der Kosmetika und die Abrechnungen plante sie dreimal in der Woche zwei Stunden vor dem Abendbrot ein. Mittwochs ging sie zur Gymnastik und am ersten Samstag im Monat zum gemeinsamen Frühstück des Leseclubs. Das Turnen war gut gegen Verspannungen und die Kontakte gut fürs Geschäft. Auch ohne Kalender verlor sie nie den Überblick. Es hatte sie lange Jahre des Probierens gekostet, die Erledigung ihrer Pflichten so zu optimieren, dass es möglich war, einfach einen Zettel, auf dem schon alles eingetragen war, für jede neue Woche zu kopieren. Nur die Spalte für den Samstag blieb in der Vorlage leer für das, was je nach Jahreszeit nur ab und zu getan werden musste: Fenster putzen, Marmelade einkochen, Ostereier bemalen, Stollen backen, Wintermäntel mit Schutzfolie versehen, die Knöpfe an den Sommerblusen auf Festigkeit überprüfen, Jacobs Hosen umnähen, Jacobs Hosen auslassen, Gartenmöbel raus, Gartenmöbel rein oder eben den Keller in Ordnung bringen. Hinter jede Aufgabe, die sie bewältigte, setzte sie schwungvoll ein Häkchen. Waren alle Punkte geschafft, wanderte das Blatt in den Papierkorb und sie holte ein neues für die kommende Woche heraus.

      Heute würde es keine Häkchen geben. Es hatte sie den Rest der Nacht gekostet, den Teppich im Wohnzimmer wieder einigermaßen sauber zu kriegen, die Scherben zusammenzukehren und die Stellen zu trocknen, die das versprengte Wasser hinterlassen hatte. Den Fleck von der angefaulten Birne hatte sie noch immer nicht herausbekommen. Aber jetzt musste sie erst mal das Bett in Annettes Zimmer beziehen.

      Annettes Zimmer. War es nicht Jacob, der angefangen hatte, es so zu nennen? Wieso Gästezimmer?, hatte er gefragt. Nur Annette schläft dort. Sie hatte ihm recht geben müssen. Pavels Eltern waren tot, seine Schwester lebte in Übersee. Und ihre Brüder? Sascha war nur ein einziges Mal aus Spanien gekommen – zu Jacobs Taufe. Und Christian blieb mit seiner Familie nicht über Nacht. Sie hatten es ja auch nicht weit nach Hause. Und wenn Christian was trank, fuhr auch mal seine Frau.

      Sie holte Bettwäsche aus dem Schrank und ärgerte sich erneut über ihren nächtlichen Ausbruch. Sie hätte Annette nicht anrufen sollen. Immer stand sie Jacob bei, immer wusste sie alles besser. Sagte Karin, er sei schmächtig, meinte Annette, er sei zart. Nannte sie ihn einen Zappelphilipp, fand Annette ihn agil. Wollte sie, dass er zur Beichte ging, fiel Annette ihr in den Rücken. Er kann es doch auch mir sagen, wenn er was angestellt hat. Sie war es, die ihm das Gel geschenkt hatte, das er sich seither in die Haare schmierte. Sie hatte ihm beigestanden, als er mit diesem Stecker in der Nase ankam. Aus der Ferne, am Telefon. Was hast du denn, ist doch schick. Und seit Annette ihm das Foto von dem Tattoo auf ihrem Oberarm geschickt hatte, sprach auch Jacob davon, eines haben zu wollen. Natürlich würde sie ihm niemals erlauben, sich Farbe unter die Haut ritzen zu lassen, aber was sollte sie tun, wenn er achtzehn war?

      Sie hielt inne und ließ das Kopfkissen sinken. Wenn sie das nächste Mal die Maiglöckchen im Garten schnitt, um sie ihm auf den Geburtstagstisch zu stellen, war er dem Gesetz nach erwachsen, und es gab keinen Zettel, auf dem geschrieben stand, was dann aus ihm werden würde. Er war so eigen geworden und still, mied die wenigen Partys, zu denen er eingeladen wurde, trat keinem Verein bei und ging neuerdings nicht einmal mehr in die Kirche. Seine Freunde waren irgendwelche Profilbilder im Internet, und noch nie hatte er ein Mädchen mit nach Hause gebracht. Nach seiner Zukunft gefragt, zauberte er stets eine neue Antwort aus dem Hut. Keine war je ernst gemeint, keine war beständig.

      Sie wandte sich wieder dem Kissen zu, ließ es im Bezug verschwinden, zog den Reißverschluss zu, schüttelte es auf und strich es glatt. Sie hatte die Bettwäsche extra für Annette gekauft, hatte sie ohne zu zögern bestellt, als sie auf die Abbildung im Katalog gestoßen war. Sie mochte Annettes Geschmack nicht, aber sie kannte ihn. Graue Bettwäsche. Wie kann man graue Bettwäsche mögen, hatte sie Annette einst gefragt. Unsere Mütter haben alles versucht, damit die Bettwäsche weiß bleibt und mit der Zeit nicht grau wird. Annette hatte gelächelt und genickt, als sie antwortete. Eben.

      Jetzt lächelte auch Karin. Ihrer alten Freundin etwas Gutes zu tun, war wie ein Automatismus, dessen Sinn zu hinterfragen sie längst aufgegeben hatte. Es war einfach so. Sie stritten und sie quälten sich. Und dann kauften sie einander Geschenke. Die Bettwäsche war noch völlig unbenutzt. Annette war lange nicht nach Eschenreuth gekommen, nur telefoniert hatten sie, gemailt und sich Postkarten geschrieben. Ja, Postkarten aus dem Urlaub oder zum Geburtstag, richtig altmodisch und bunt. Wenn nur der Anlass ihres Besuches nicht so besorgniserregend wäre. Wo konnte Jacob denn bloß sein?

      Sie musste Holger noch einmal anrufen und ihn bitten, sich im Dorf umzuhören. Es war unauffälliger, wenn er es tat. Von Holger erwartete ja niemand, dass er wusste, wo Jacob war. Sie aber war seine Mutter, bei ihr sah die Sache schon anders aus. Ja, sie würde Holger bitten, den Jungen für sie zu suchen. Aber wo sollte er damit anfangen? Jetzt war es bedauerlich, dass sie Jacob den Hund verweigert hatte, den er immer hatte haben wollen. Ein Hund hätte sie vielleicht zu ihm geführt. Pavel hatte zugestimmt, aber sie hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ein Hund brachte Dreck ins Haus. Ein Hund machte Arbeit. Man musste ihn impfen und entwurmen lassen, das Fell auf Zeckenbefall prüfen und die Haare vom Autositz bürsten, wenn man vom Tierarzt kam. Aber das war nicht das Schlimmste. Ein Hund buddelte alles wieder aus. Er schnüffelte und scharrte und legte alles frei – alte Knochen und vergrabene Erinnerungen. Nein, ein Hund kam nicht in Frage.

      Nicht für sie.

       Weihnachten 1972

      Am Vormittag des ersten Feiertages roch es im Haus nach Gänsebraten. Karin lag ausgestreckt auf dem wuchtigen schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer und wartete darauf, dass der Film über Paolo Bortoluzzi begann, auf den sie sich schon seit Tagen freute. Wenn das Jucken der Haut an ihrer linken Wade unerträglich wurde, richtete sie sich auf, schob ein Lineal unter den Gips und versuchte, die Stelle zu erreichen, die sie am schlimmsten peinigte. Andächtig stocherte und kratzte sie, bis die Qual nachließ. Das Lineal ging schon leichter unter den Gips als noch vor einer Woche, der Muskel wurde dünner. Zum Glück war ihre Mutter zu beschäftigt, um das zu bemerken. Geschirr klapperte in der Küche, heißes Fett zischte so laut, dass Karin sich selbst vom Sofa aus vorstellen konnte, wie es im Ofen brutzelte. Dabei hatte ihre Mutter die Tür hinter sich geschlossen, hatte sich verschanzt, um nicht gestört zu werden, während sie stundenlang mit Äpfeln, Maronen und Rotkohl, Schüsseln und Töpfen hantierte. Ihre Mutter hatte nicht einmal Zeit für den Film, und das war gut so, denn sie würde sicher wieder jede der Bewegungen des Tänzers kommentieren und sie gleichzeitig ermahnen, sich anzustrengen, jeden Tag, jede Woche, immer. Nein, das brauchte sie jetzt wirklich nicht. Sollte ihre Mutter ruhig in der Küche bleiben.

      Sie sah auf die Uhr. Nur ein paar Minuten noch, dann musste es losgehen, und wenn es zu Ende war, kam der Vater aus der Klinik und sie konnten endlich essen. Ihr knurrte der Magen, sie hatte doch nur wenig gefrühstückt, um für den Festtagsbraten Platz zu lassen. Und dann duftete es auch noch so lecker! Bald, dachte sie und richtete den Blick auf den Fernseher. Bald würde der Vater die Gans bei Tisch zerlegen und die Stücke auf alle Teller verteilen. Dann bekam sie ihr Häppchen vom mageren Fleisch


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