Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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Drücken, schwarzgraue Locken vibrierten auf seinem Kopf. Eine Lichtsäule erhob sich auf dem Apparat, stieg über seine Hand hinaus, kletterte höher, immer höher, und schließlich sprang der Mann auf. Seine Finger drückten nicht länger, sondern hackten jetzt ein auf das Gerät. Aber plötzlich verloren sie den Takt. Nur eine Winzigkeit zu früh waren sie dran, das Zehntel einer Sekunde. Der Automat heulte auf und die Säule stürzte ab. Zahlen, Asse und das herausfordernde Zwinkern einer vollbusigen Blondine in knappem rotem Kleid erloschen. Herbert Müller starrte auf das leere Fach, in das sein Gewinn hätte prasseln sollen, und ließ die Schultern sinken. Dann trottete er zur Kasse, um einen Schein zu wechseln.

      Er will den Jackpot, unbedingt, dachte sie. Das Geld brauchte er vermutlich nicht, doch er gäbe wohl alles für den einen Moment, in dem das Klirren zahlloser Münzen ihn glauben lassen konnte, das Schicksal meine es gut mit ihm. Der Mann vergaß den bitteren Kaffee, vergaß die Bodenbeläge und auch die Kundschaft, die ihn zweifellos irgendwo erwartete. Er wusste, dass er nur verlieren konnte, aber es kümmerte ihn nicht, wenn vor ihm die Lichter tanzten. Vielleicht hatte er irgendwann einmal gewonnen, und der eine Augenblick, in dem Sehnsucht und Wahrheit eins gewesen waren, bedeutete ihm mehr als alles andere. Die Freude. Das Glück. Ja, sie verstand.

      Das Lied war zu Ende. Stattdessen drangen nun die Schlagzeilen des Tages aus dem Radio. Es war eine junge weibliche Stimme, die sie verkündete. Sie sprach über die Steuerhinterziehung eines deutschen Spitzenmanagers, den wachsenden Einfluss der Terroristen im Irak und einen Autounfall mit einem Toten und zwei Schwerverletzten, aber nicht eine Sekunde lang vergaß die Sprecherin das mühsam trainierte Lächeln in der Stimme durch den Äther zu schicken. Sie schäkerte ins Mikrophon, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank. Annette erhob sich, nahm das Tablett und stellte es auf die Ablage für das schmutzige Geschirr, nur Schloss Neuschwanstein und den Hamburger Hafen ließ sie in ihre Tasche gleiten, als das Pferd noch einmal zu ihr herübersah.

      Auf dem kurzen Weg zum Auto zündete sie sich eine Zigarette an. Der Regen hatte nachgelassen. Vereinzelte Tropfen fielen auf ihr kastanienbraunes kurzes Haar, das zu bändigen sie sich niemals Mühe gegeben hatte. Andere lassen viel Geld beim Friseur, um so auszusehen, hatte Grit gesagt, als sie das erste Mal morgens neben ihr aufgewacht war. Annette zog ihr Handy aus der Jackentasche, betrachtete das Bild der Geliebten im Display und schrieb ihr eine knappe Nachricht.

      Musste überraschend zu Karin. Notfall. Melde mich später. Kuss.

      Einfach Senden. Wie praktisch. Das schlechte Gewissen fraß sie an wie ein Schwarm Piranhas. Sie sog den letzten Zug der Zigarette tief ein. Das Nikotin drang in ihre Blutbahn und entspannte sie. Zwei Stunden Fahrt lagen noch vor ihr. Karin erwartete sie, und vielleicht war am Morgen auch Holger bei ihr. Dann würden sie wieder zusammen sein wie schon so oft, wie schon immer. Sie stieg ein und fuhr langsam über den Parkplatz, bevor sie sich in den spärlichen Verkehr einfädelte. Wie die Rücklichter des Wagens vor ihr leuchteten die Erinnerungen sie an.

       Herbst 1972

      Der September hatte es in diesem Jahr aber wirklich in sich. Zuerst holte eine Deutsche bei den Olympischen Spielen in München die Goldmedaille im Hochsprung. Sie hieß Ulrike Meinhof oder Meyfarth oder so ähnlich, und kaum hatten alle bei der Nationalhymne strammgestanden, wurden ein paar andere Sportler zuerst gefangen genommen und dann getötet. Die Spiele gingen aber trotzdem weiter. Außerdem schimpften die Leute in der Bäckerei über einen, der andauernd im Fernsehen war und Willy Brandt hieß. Annette hatte Rosi gefragt, was es damit auf sich hatte, aber ihre Schwester wusste es auch nicht so genau, obwohl sie ziemlich erwachsen tat, seit sie nach den Sommerferien auf das Gymnasium in der Stadt gewechselt war. Rosi ging nun morgens nicht mehr gemeinsam mit ihr den Weg zur Schule am Dorfplatz, aber dafür wurde ein neues Mädchen in ihre Klasse aufgenommen, als das dritte Unterrichtsjahr begann, und das hatte etwas für sich, weil sie eine neue Passagierin brauchten. Seit Rosi nicht mehr mit ihnen verreiste, war der Flugverkehr auf dem Schulhof vollständig zum Erliegen gekommen. Annette fand, es könne nicht schaden, sich die Zugereiste einmal näher anzusehen. Holger aber war strikt dagegen. Anstatt wie gewöhnlich mit einem Stock in den Händen rittlings auf dem bodennahen Ast der Kastanie zu sitzen und Kurs auf Honolulu zu nehmen, trottete er mit hängenden Schultern zu eben jenem Baum hinüber und ließ seinen massigen Körper im Cockpit niedersinken, ohne auch nur die geringsten Vorbereitungen für den Start zu treffen. Durch die dicken Gläser seiner Hornbrille starrte er missmutig vor sich hin und mampfte seine immer gleiche Brotzeit, eine zentimeterdick bestrichene Leberwurstschnitte und eine Brezel.

      Sie schmollte. Das gesamte erste Schuljahr hatte sie gebraucht, einen Piloten aus Holger zu machen. Irgendwie hatte sie diesen schüchternen Jungen, den sonst niemand zu mögen schien, ins Herz geschlossen. Sie hatte schnell gemerkt, was für ein perfektes Flugzeug der alte Kastanienbaum mit dem bodennahen Ast abgab, aber es konnten nun einmal nur Männer Piloten sein. Es hatte sie Berge von Butterkeksen aus der Bäckerei und außerdem noch von ihrem Taschengeld gekaufte Gummischlangen gekostet, ihn zu überreden. Allmählich war Holger aufgetaut, war er ihr bester Freund geworden, und der Baum hatte sich tatsächlich in ein Flugzeug verwandelt. Nun aber trauerte Holger Rosi hinterher.

      Annette sammelte die ersten Kastanien der Saison vom Boden auf. Falls sie doch noch flogen, wollte die Bordverpflegung vorbereitet sein. Nur wem sollte sie das Essen servieren? Es fehlte ein Passagier, und die anderen Kinder kamen dafür nicht in Frage.

       Der und Pilot?

      Der kann ja nicht mal die Landebahn direkt vor seiner Nase sehen.

      In den Sitz passt er auch nicht mit seinem dicken Hintern.

      Igitt, wie der stinkt! Thomas war neben Holger getreten und hatte geschnuppert, einen angewiderten Ton ausgestoßen und sich die Nase zugehalten. Lautes Lachen ringsumher.

      Nein, mit den anderen Kindern aus dem Dorf würden sie nirgendwohin fliegen. Sie setzte sich neben Holger und drehte eine Kastanie zwischen den Fingern. Er müffelte wirklich ziemlich heftig, aber er konnte doch nichts dafür. Die kleine Wohnung, in der er mit seiner Oma lebte, lag direkt über der Reinigung der Kurklinik, in der sie auch arbeitete. Die Dämpfe waberten die Stiege hinauf, krochen durch die zugigen Ritzen der Wohnungstür und drangen in Möbel, Teppiche und Kleider. Manchmal erschien es Annette, als drängen sie selbst in Holgers Haut. Sie hatte sich schon nach wenigen Besuchen bei ihm zu Hause an den Geruch gewöhnt. Und Rosi hatte er nie gestört.

      Na, Käpt’n Baumgartner, fliegen wir?, hatte Rosi immer gefragt und Holger den Arm um die Schultern gelegt. Seine Wangen röteten sich fleckig in solchen Momenten, und er ging in Position, um über Funk die Starterlaubnis einzuholen, während Rosi Platz nahm, die üppig um ihren Kopf wallenden Locken zurückstrich und sich anschnallte. Aber jetzt war Rosi fort und die Maschine blieb seit Wochen am Boden.

      »Wollt ihr mal meinen Spagat sehen?«

      Annette zuckte zusammen, denn die Neue hatte sich von hinten angeschlichen. Nun aber trat Karin Schmitz vor, hob beide Arme seitlich an und streckte sie bis in die Fingerspitzen, während sie zu Boden glitt. Es sah so leicht aus, wie sie dahinfloss im orange geblümten Sommerkleid. Ihr ganzer Körper war angespannt, und doch hatte sie ein Lächeln auf den Lippen.

      »Tut das nicht weh?« Annette sprang vom Ast und tat es ihr vorsichtig nach. Als sie ein Reißen in den Innenseiten ihrer Schenkel spürte, hielt sie inne und blieb breitbeinig stehen.

      Holger hatte seine Mahlzeit beendet. Er knüllte das Butterbrotpapier zusammen und vergrub es gemeinsam mit den Händen tief in den Taschen seiner Jeans, die trotz seines fülligen Körpers viel zu weit für ihn waren und nur von einem Gürtel am Platz gehalten wurden.

      »Das interessiert keinen«, brummelte er und schaute an Karin vorbei.

      Wie gemein er war – das passte gar nicht zu ihm. Gemein waren sonst die anderen Kinder. Sie nannten ihn Stinker und Fettwanst, und Thomas hatte sogar noch ein anderes Schimpfwort benutzt. Er nannte ihn Bastard, und das hatte er bestimmt zu Hause aufgeschnappt. Sie wusste nicht, was das bedeutete und hatte in Rosis Duden nachgeschlagen: fr. (Mischling; uneheliches Kind), stand da. Holger erzählte


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