Hinter dem Schein die Wahrheit. Claudia Breitsprecher

Hinter dem Schein die Wahrheit - Claudia Breitsprecher


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zurückhalten.

      »Jedenfalls wird es jetzt nichts mit dem Nussknacker«, sagte sie traurig. »Dabei ist es doch mein Lieblingsballett.« Sie warf das Kerngehäuse des Apfels ins Gebüsch und streckte die Hände aus, um die Krücken zurückzunehmen.

      Annette gab sie ihr. »Ist es wirklich beim Ballett passiert?«

      Karin sah sie endlich an. Ein bisschen erschrocken, wie es schien. »Ja.« Auch ihre Antwort fiel merkwürdig knapp aus.

      »Gestern Mittag?«, fragte Holger.

      Karin nickte schwach.

      »Ich hab dich beim Gummitwist gesehen.«

      Karin zuckte zusammen. »Wann?«, fragte sie in schrillem Ton.

      Holger stemmte die Fäuste in die Seiten. »Weißt du nicht, wann du Gummitwist gespielt hast?«

      Karin drehte sich um und humpelte davon, ohne zu antworten. Holger stutzte, dann wischte er mit der flachen Hand vor seinem Gesicht herum, um Annette zu signalisieren, was er davon hielt.

      Annette kratzte sich am Kopf. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte sie gerade, als Karin sich plötzlich umdrehte und zurückkam.

      »Bitte sagt den anderen nichts davon.«

      Annette war hin- und hergerissen. Karin bat so flehentlich, dass es unfair sein würde, ihre Notlage auszunutzen. Aber sie tat auch so wahnsinnig geheimnisvoll. »Nur wenn du uns erzählst, was wirklich passiert ist«, sagte sie daher und stieß Holger an, der von einem Bein auf das andere trat. Vermutlich dachte er schon wieder an seine Oma. Klopfet an, so wird euch aufgetan, würde sie sagen. Annette wusste, er müsste eigentlich bedingungslos tun, worum Karin ihn bat, aber sie war sicher, dass auch er wissen wollte, was wirklich passiert war.

      »Du musst es erzählen«, verlangte schließlich auch er.

      Karin schluckte. Die Pause war fast zu Ende. »Aber ihr müsst es unbedingt für euch behalten.«

      Holger nickte, und Annette hob drei Finger. »Ich schwöre.«

      Es klingelte. Die anderen Kinder schlenderten grummelnd auf das Schulhaus zu. Karin wartete mit ihrer Antwort, bis sie weg waren.

      »Ich … Ich bin erst gestern Abend umgeknickt«, stammelte sie flüsternd. »Es … ist nicht beim Ballett passiert. Ich bin … aus dem Fenster in den Garten gesprungen.«

      »Aus dem Fenster gesprungen?« Holger sprach lauter.

      »Psst!« Annette legte einen Finger an die Lippen und trat dichter an Karin heran, die ihre Hände so fest um die Griffe der Krücken gelegt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

      »Hab ich schon öfter gemacht. Es ist ja nicht hoch. Aber gestern bin ich auf so einer blöden Wurzel gelandet.«

      »Warum machst du denn so was?« Holger tippte sich mit dem Finger an die Stirn.

      Annette warf ihm einen bösen Blick zu. Wenn man im Verhör etwas herausbekommen wollte, durfte man sich nicht anmerken lassen, was man von einer Sache hielt. So jedenfalls machte es Der Kommissar.

      »Wir müssen rein.« Karin hatte es plötzlich sehr eilig.

      Annette hielt sich neben ihr. »Jetzt mal wirklich – warum?«

      »Nur so.«

      »Nur so?« Sie waren schon an der Tür. Fräulein Egge trieb sie an.

      Karin drängte ins Klassenzimmer. »Nur so!«

      In den folgenden zwei Stunden meldete sich Holger kein einziges Mal, sondern zeichnete stattdessen in seinem Matheheft herum. Er konnte gut zeichnen. Wie beiläufig wischte der Füllfederhalter kreuz und quer über die Karos, und von ihrem Platz neben ihm aus beobachtete Annette, wie nach und nach ein Bild entstand. Es zeigte ein Mädchen im Tutu mit Zöpfen und einem Gips am Fuß. Es tanzte über eine hell erleuchtete Bühne.

      Als es zur nächsten großen Pause klingelte, hatte es aufgehört zu regnen. Annette wollte so schnell wie möglich nach draußen, aber Holger zupfte sie am Ärmel und steuerte auf Karin zu. Als er bei ihr war, zog sie ein Buch aus ihrem Ranzen und schlug es auf. Das kleine Gespenst.

      »Wollen wir nach Afrika fliegen?«, fragte er Karin so leise, dass Annette Mühe hatte, ihn zu verstehen.

      Karin schaute auf, zögerte kurz, schüttelte den Kopf.

      »Aber wir haben eine völlig neue Maschine!« flötete Annette begeistert.

      »Und das Essen an Bord ist auch super.« Holger trat dichter an Karin heran. Sie schnupperte und wich zurück.

      Annette beeilte sich, ihrem Freund zur Seite zu springen. »Ja klar, Schweinsbraten und, äh, Kaugummiknödel.«

      »Kaugummiknödel?« Karins Mundwinkel zuckten.

      Annette witterte die Chance. Sie lehnte sich über den Tisch und sah ihr direkt in die Augen. »Und es gibt Cola dazu«, schmeichelte sie.

      »Ich darf keine Cola trinken.« Karin rutschte auf ihrem Stuhl herum, klappte das Buch zu. »Und der Baumstamm ist nass.«

      Holger holte seinen Anorak und schwenkte ihn. »Hier! Kannst dich draufsetzen. Und unsere Cola ist gesund. Vitamin-Cola, weißt du?”

      Endlich erhob sich Karin und ergriff die Krücken. »Sind die Sitze denn auch bequem?«

      Sie waren schon über der Sahara, als das Unwetter über sie hereinbrach. Holger konnte den Steuerknüppel kaum halten, und Annette musste das Servieren einstellen, nachdem sie in der Kabine hin und her geschleudert worden war. Ein Luftloch folgte dem anderen. Annette schrie, und Holger brüllte ins Funkgerät: »Mayday, mayday, hallo Tower, kann mich einer hören?«

      Der Wüstensand wirbelte gegen die Tragflächen, Blitze zuckten links und rechts, die Maschine taumelte im Wind, aber trotz der tödlichen Gefahr beobachtete Annette, was Karin tat. Sie saß ganz still, als es begann. Lange Minuten blieb sie völlig ungerührt. An ihrem Sitz schien das Inferno vorbeizugehen. Allmählich aber rüttelte der Hurrikan auch Karin durch. Unmerklich zuerst, aber bald schon heftiger, und als das Klingeln die Pause beendete und die nächste furchterregende Böe das Flugzeug von Backbord her traf, schmiss es sie fast aus dem Sitz. Sie klammerte sich an unsichtbaren Lehnen fest und drückte sich tiefer in den Kastanienastsessel. Als der Stoß überstanden war, schlug sie die Hände vors Gesicht und jammerte gedehnt: »Hey, Frääuulein, ich muss koootzen.«

      Annette riss die Augen weit auf. Holger prustete los. Um die halbe Welt waren sie mit Rosi geflogen, aber so etwas hatte sie nie gesagt.

       Samstag, 15. November 2014, 8.02 Uhr

      Lächerlich war das, und wie peinlich erst. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können, fragte sich Karin und ging nervös in der Küche auf und ab. Ein Augenblick der Schwäche, und alles fiel auseinander. Als ob Jammern da etwas nützte. Weinerlichkeit war doch sonst nicht ihre Art. Sie griff nach der Dose oben links im Küchenregal. Die verlässlich Tröstende schob sie beiseite. Wer konnte wissen, was in den nächsten Stunden noch auf sie zukam. Aber gegen ein bisschen was von dem Pflanzlichen war nichts einzuwenden. Und ein kleiner Muntermacher konnte auch nicht schaden. Der Tag brach an, ein neuer Tag, den es zu bewältigen galt. Bestimmt käme ihre Mutter, das tat sie ja samstags immer und würde es auch heute tun. Auch Annette musste bald ankommen. Und Jacob war noch immer nicht zu erreichen. Inzwischen hatte sie ihm doch noch auf die Mailbox gesprochen, wie sah es denn aus, wenn nur Annette es tat. Sollte sie Pavel nun anrufen? Nein, das konnte noch warten. Sie musste sich erst einmal sammeln und die Ordnung wiederherstellen.

      Ihre Pläne konnte sie allerdings vergessen. Dabei war das Weinregal schon überfällig. Sie hatte es aufgeschoben, so lange es ging, weil es so beschwerlich war, jede einzelne Flasche herauszunehmen, abzustauben und mit dem Etikett nach oben wieder an ihren Platz zu legen. Aber jetzt ließ es sich nicht länger vermeiden. Und dann das Laub. Der Wind trieb die Blätter so schnell vom Rasen hinter dem Haus auf die


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