Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson


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mit nur einem Raum, der sicherlich ausreichend war, es war aber trotzdem ein Bauwerk ohne Zwischenwände und Dachboden: Es gab einen Schornstein mit offenem Kamin, querlaufende Dachbalken, nicht gerade beeindruckend. Ein Eisenherd stand mitten im Zimmer, eine Küchenbank an der fensterlosen Südwand, zwei Betten, im Winkel zueinander angeordnet, rechts neben der Tür, ein Tisch und vier Stühle am Fenster.

      Verner hatte das Sommerhäuschen von seinem kinderlosen Onkel geerbt. Einige Jahre lang hatte er sich hier oft aufgehalten, war dann nicht mehr hier gewesen, hatte das Häuschen etwas verkommen lassen, war wiedergekommen und hatte es wieder auf Vordermann gebracht.

      Als es ihm richtig schlecht gegangen war, hatte er sich hierher zurückgezogen, hatte bei zugezogenen Gardinen im Bett gelegen, damals vor drei Jahren, bevor er die Medikamente bekommen hatte. Jetzt war er zurück, nicht nur in dem Sommerhäuschen, sondern auch in dem pillenlosen Zustand, vor dem die medizinischen und psychologischen Sachverständigen ihn gewarnt hatten.

      Das Häuschen lag auf Singö an der åländischen See, an einer steinigen Küste mit Sanddornbüschen, Nadelwaldstränden, violettem Heidekraut, Sandbänken, Baldrian und Meerkohl. Eine karge und naturbelassene Gegend von wilder Schönheit, mit schwer zugänglichen Stränden, die nur selten von Ausflüglern heimgesucht wurden. Ein steiniger Küstenstreifen, auf dem die Häuser einzeln verstreut lagen.

      Ende der vierziger Jahre hatte Verners Onkel einem Bauern für achthundert Kronen ein Stück Grund abgekauft, darauf das Sommerhaus selbst gebaut und dort mit Verner und Verners Mutter in den Ferien gewohnt. Verner war das einzige Kind, seine alleinstehende Mutter starb, als sie um die sechzig war, der Onkel bekam Lungenkrebs, als Verner gerade bei der Polizei angefangen hatte, und nach einem halben Jahr war auch er tot.

      Jetzt war Aussicht aufs Meer ein Vermögen wert, genau wie das Grundstück. Baugenehmigungen am Meer gab es nicht mehr, aber jemand mit Geld könnte das Haus teuer erwerben, luxuriös renovieren und eine Wasserleitung legen. Verner hatte Angebote bekommen, einen Verkauf aber nie in Erwägung gezogen. Er sah zu, dass der Pfad zum Haus morastig und unbefahrbar war. Er hätte den Sumpfboden trockenlegen lassen und so den Mückenschwärmen entkommen können, tat es aber nicht. Er hätte den Wald abholzen und freie Aussicht bekommen können, aber dann hätte er den unterbrochenen Horizont seiner Kindheit verloren. Das Häuschen war sein Versteck, sein Fuchsbau während der Zeiten der Schwermut, der Platz, an dem er seine Wunden heilte.

      So auch dieses Mal.

      Im September hörte der Dauerregen auf, der den Sommer beherrscht hatte.

      Verner joggte im Wald, jeden Morgen und jeden Abend. Er lief immer länger: drei Kilometer schaffte er in der ersten Woche. Oft blieb er stehen, schnaufte und hatte Schmerzen in der Seite, fand, dass sie sich wie jene Stiche aus der Kindheit anfühlten, Seitenstechen. Dann stolperte er weiter.

      Auf der kleinen Wiese vor dem Häuschen machte er Gymnastik, Liegestütze, Kniebeugen, Situps. In den ersten Tagen schaffte er elf Liegestütze.

      Nach einer Woche war er bei zwanzig, in der dritten Woche schaffte er mit Mühe zweiunddreißig. Das war schon ein schönes Stück näher an der Kondition, die er gehabt hatte, als er noch gut trainiert war. Aber er ließ nicht nach. Er wusste, dass er seine alte Kondition verloren hatte, wurde aber immer sicherer, dass er das, was er verloren hatte, wiedererlangen würde.

      Seine Stimmung hatte er nicht im gleichen Maße unter Kontrolle, die Unruhe kam zurück und auch die Angst. Er versuchte sich müde zu laufen, um zu entkommen, manchmal mit Erfolg, aber es passierte auch, dass er im Bett lag und Dunkelheit und Schwere fühlte, die Hoffnungslosigkeit, die zur Furcht wuchs. Er sehnte sich nach Alkohol, aber er hatte nur Kaffee und Tee. Er fühlte ein schreckliches Verlangen nach irgendeiner betäubenden Droge, hatte aber nur das Bett, die Dunkelheit und die Schlaflosigkeit.

      Plötzlich fühlte er sich verfolgt, bewacht, und er war überzeugt davon, dass jemand ihn beobachtete, fotografierte, belauschte. Er versuchte sich selbst zu Vernunft zu bringen, aber als sich das Gefühl von Bedrohung erst einmal entwickelt hatte, konnte er es nicht mehr verdrängen.

      Das Haus hatte keinen Strom. Verner besaß eine Petroleumlampe, Kerzen und den flackernden Schein von brennenden Holzscheiten im Kamin. Die Abende waren dunkel, aufgehellt vom Leuchtturmlicht am Meer, Schiffslaternen weit draußen, Sternen am Himmel, vertieft durch die Stille.

      An einem Samstag lag der Nebel dicht über den Stränden, als Verner seine späte Trainingsrunde lief.

      Die Dämmerung hatte noch nicht begonnen die Helligkeit zu schlucken, aber der Nebel dämpfte das Licht. Als er in den Wald kam, war es dunkel zwischen den Fichten, das Moos auf den Steinen verlor seine grüne Farbe, schmolz mit der Schwärze auf dem Boden zusammen.

      Verner fühlte wieder die Bedrohung, er erhöhte sein Tempo, stolperte über eine Wurzel, fiel aber nicht, rannte weiter, mitten durch das Erlendickicht, vorbei an hohen Kiefern. Die Dunkelheit wurde dichter, er hatte den Weg verlassen und kürzte durch einen kleinen Sumpf ab, hoffte dabei auf weiche Grasbüschel unter den Füßen, er behielt seine hohe Geschwindigkeit bei, fühlte aber keine Erschöpfung.

      Der Sumpf wurde von steinigem Grund abgelöst, von Wacholderbüschen, niedrig gewachsenen Fichten, dichter werdendem Gestrüpp.

      Die Bedrohung war noch da. Verner hatte gedacht, dass er Schritte gehört hatte, aber versucht, sich selbst einzureden, dass sie nur Einbildung waren. Jetzt hörte er schleichende Schritte hinter sich, angestrengte Atemzüge. Er war wieder im Fichtenwald, wo nur noch einzelne Streifen Tageslicht zwischen den Ästen und Stämmen hindurchleuchteten. Er blieb abrupt stehen und hechtete hinter einen dicken Fichtenstamm. Dort stand er unbeweglich, hörte die Schritte immer deutlicher, erahnte die Silhouette einer Gestalt, die sich seinem Versteck näherte. Der Verfolger war keine Einbildung.

      Jemand lief dicht an der Fichte vorbei. Verner duckte sich und streckte dann sein rechtes Bein vor, fühlte, wie der Unbekannte fiel. In der nächsten Sekunde warf er sich nach vorne über den Gefallenen, der mit dem Gesicht am Boden lag. Er stemmte ein Knie mit Kraft gegen das Schulterblatt des Unbekannten, drückte ihn herunter, bekam ein Handgelenk des Mannes zu fassen und drehte es nach oben und dann nach hinten, fühlte dabei, dass das Handgelenk dünn war und der Arm schmal. Das hier war kein Mann.

      Verwundert richtete Verner sich auf, nahm sein Knie zurück und lockerte den Griff um das Handgelenk. Dann richtete er sich auf. Langsam drehte der unbekannte Verfolger sich um und zeigte sein Gesicht. Die Wangen waren erdverkrustet, die Nase hatte eine Schürfwunde, eine nasse Haarsträhne klebte auf der Stirn.

      »Margret!«, flüsterte Verner.

      Die junge Frau lag auf dem Rücken, ohne ein Wort zu sagen. Dann brachte sie sich mit Hilfe des einen Armes in eine sitzende Stellung. Sie war außer Atem, sie keuchte und sah immer noch erschrocken aus.

      »Zum Teufel«, stöhnte sie, »musstest du wirklich so hart zulangen?«

      »Es tut mir Leid, Margret, ich dachte ...«

      »Ja, irgendwas wirst du dir wohl gedacht haben.«

      Sie setzte sich auf, rieb sich die Erde von den Wangen, befühlte ihre Nase und bog die Handgelenke vor und zurück.

      »Tut es weh?«, fragte Verner.

      »Ich kann wohl von Glück reden, dass du mich nicht totgeschlagen hast, das ist schließlich das, was man so von dir hört.«

      »Entschuldige, verdammt noch mal, mir ist es eine Zeit lang sehr schlecht gegangen, da hab‘ ich eben mal Mist gebaut!«

      »Okay, Verner, vergiss, was ich eben gesagt habe.«

      »Ich habe noch nie eine Frau geschlagen, und für das, was ich gerade getan habe, werde ich bis an mein Lebensende ein schlechtes Gewissen haben.«

      »Ich kann mich verteidigen, wenn es drauf ankommt.«

      »Ja, aber trotzdem.«

      »Wir vergessen das hier. Was hast du eigentlich gedacht?«

      »Ich dachte, es wäre jemand hinter mir her, irgendein Gespenst aus der Vergangenheit oder so etwas in der Richtung, ich weiß


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