Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson


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sie nach.

      »Es tut mir leid, ich habe dich nicht verstanden.«

      »Ich sagte, du wärst vielleicht lieber zu Hause geblieben.«

      »Nein, nein, ich finde es schön, Ann-Charlotte und Lasse zu sehen, wirklich.«

      Bengt sagte nichts mehr. Das letzte Stück bis zum Zentrum von Tyresö fuhr er unnötig schnell, fand Birgitta.

      Sie waren sieben Leute am Tisch, die beiden Gastgeber, ihre Nachbarn und ein Norweger in den Sechzigern, ein neuer Arbeitskollege von Bengts Bruder Lasse.

      Der Norweger hieß Einar, und er hatte eine missgebildete rechte Hand. Er war der einzige in der Runde, der nicht rauchte. Er begrüßte alle mit der linken Hand, ergriff die ihm entgegengestreckte Hand mit einem umgekehrten Griff, schüttelte sie recht kräftig, lächelte lange, sah demjenigen, dem er vorgestellt wurde, in die Augen, wiederholte den Namen.

      »Birgitta«, sagte er, »nett, dich kennen lernen zu dürfen.« Birgitta lächelte zurück, sagte aber nichts.

      »Bengt«, fuhr der Norweger fort, »sehr schön, dich kennen zu lernen.«

      Er hatte allem Anschein nach auch die anderen so lächelnd und umständlich begrüßt, bevor Birgitta und Bengt kamen.

      »Mit dieser Hand wurde ich geboren«, sagte er. »Ich meine, wir werden natürlich alle mit unseren Händen geboren, aber diese Hand wollte einfach nicht mitwachsen, so bin ich also mit genau dieser geboren.«

      Mehr wurde über die verkrüppelte Hand des Norwegers nicht gesagt. Aber er hatte mit seiner Freundlichkeit, seinem Lächeln und dem Interesse an seinem Gegenüber den Ton vorgegeben.

      Der Abend wurde sehr nett, vielleicht war es das Verdienst des Norwegers. Bengt stieß oft mit seinem Bruder an, der Norweger nippte nur am Glas. Bengt trank aus und füllte sich selbst nach. Er war hier ja fast zu Hause.

      Sie brachen um halb eins auf. Bengt schlief im Auto ein. Birgitta ließ ihn schlafen, hielt ihn unter einem Arm fest, als sie das letzte Stück zum Haus gingen, in den Eingang kamen, mit dem Fahrstuhl hochfuhren.

      Leila war noch da, Bengt ging zur Toilette. Leila erzählte, dass alles ruhig gewesen war. Nein, sie wollte nicht bleiben, sie wollte nach Hause und schlafen.

      Sie umarmten sich.

      Birgitta hatte gehofft, dass Bengt richtig müde war und sofort ins Bett gehen würde. Aber er wollte noch aufbleiben und bat sie, noch etwas zu trinken zu holen und sich mit ihm aufs Sofa zu setzen.

      Sie holte eine Flasche Wein und zwei Gläser.

      Sie rauchten, sagten nichts, tranken die Gläser recht schnell leer, füllten sie wieder auf. Jetzt wusste Birgitta, dass etwas passieren würde, und sie entschied sich zu versuchen, so schnell wie möglich betrunken zu werden.

      »Er war nett«, sagte Bengt.

      »Wen meinst du?«, fragte Birgitta, obwohl sie es wusste.

      »Ja, wen zum Teufel glaubst du denn, den ich meine?«

      »Meinst du den Norweger?«

      »Genau den, der Norweger war so verdammt nett.«

      »Na ja, es ging so.«

      »Zum Teufel, lüg mir nicht ins Gesicht!«

      Bengt sprach langsam mit leiser Stimme, machte kleine Pausen zwischen den letzten Worten im Satz.

      »Er war eben ...«, versuchte Birgitta, aber Bengt unterbrach sie und erhob jetzt die Stimme, schrie die letzten Worte:

      »Lüg nicht ... zum Teufel!«

      Birgitta trank ihr Glas aus, füllte nach, die Flasche war leer. Sie sehnte sich nach mehr Alkohol, erhob sich mit dem leeren Glas in der Hand, ging hinaus in die Küche, wusste, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb.

      Sie fand keinen Wein, goss sich aber einen Schluck Whisky ein, trank ihn aus, füllte nach. Aber die Angst war schon zu groß. Der zunehmende Rausch war nicht ausreichend, der Alkohol würde es nicht schaffen, ihre tiefe Furcht einzuholen.

      Widerwillig ging sie zurück ins Zimmer. Bengt empfing sie an der Tür, schlug mit der offenen Hand gegen ihre Wange. Ihr Kopf wurde zurückgeworfen, und sie schwankte, fiel aber nicht. Schnell näherte er sich ihr, und jetzt traf seine geballte Faust ihre Brust, dann folgte ein Schlag in den Bauch. Sie stieß gegen die Wand und sank dann auf den Boden, krümmte sich in Embryonalhaltung zusammen, versuchte, das Gesicht mit den Händen zu schützen. Er beugte sich hinunter, schlug weiter gegen ihren Körper, gegen die Schultern, gegen den Hals, gegen die Brust.

      Sie lag ganz still, ließ die Schläge kommen. Und es war, als wäre sie gar nicht mehr richtig anwesend. Er war ein unbekannter Mann, und sie war eine andere Frau. Das Wohnzimmer lag an einem anderen Platz, in einem anderen Land, wo es keine Gefühle gab, keine Gedanken, keine normalen Menschen.

      Sie war nicht länger jemand.

      Sie kam in dem Augenblick wieder zu sich, als die Jungen im Zimmer standen. Zunächst begriff sie nicht, was geschehen war, dann wusste sie, dass es wieder passiert war. Bengt war weg, er hatte sich wohl hingelegt. Aber ihre beiden Söhne standen direkt vor ihr. Der Jüngere weinte, der Ältere stand da, ohne etwas zu sagen und ohne etwas zu tun.

      Als Birgitta versuchte, mit ihnen zu sprechen, hörte sie, dass es seltsam klang. Sie fühlte mit der Hand am Mund nach und merkte, dass irgendetwas mit den Lippen und der Zunge passiert war.

      9.

      Verner hatte ziemlich lange gezögert, aber schlussendlich schluckte er die beiden weißen, ovalen Tabletten. Es war halb fünf am Nachmittag, er hätte seine Medizin nach ärztlicher Anweisung eigentlich schon um zwei nehmen sollen.

      Er stand lange im Badezimmer vor dem Schränkchen und betrachtete die Reihe von kleinen Pillendosen. Dann öffnete er eine davon, ließ einige leuchtend gelbe Pillen auf seine Handfläche kullern. Er schloss die Faust, öffnete die Hand wieder, sah auf die Pillen. Dann nahm er zwei davon in den Mund, schluckte sie hinunter und steckte die restlichen in die Hosentasche. Erst danach trank er ein wenig Wasser. Eigentlich brauchte er das gar nicht, denn er hatte nur selten einen trockenen Mund.

      Er war auf dem Weg nach draußen. Er würde irgendwo hingehen, vielleicht auswärts essen, dann weiter gehen, um müde zu werden, noch weiter gehen, um erschöpft zu sein, den Tag beenden zu können, schläfrig zu werden, spät nach Hause zu kommen und, wenn möglich, auch einzuschlafen. Nicht träumen, nur schlafen, die ganze Nacht.

      Aber Verner wusste, dass das so gut wie nie geschah. Meistens lag er schlaflos im Bett und schlief nur wenige Stunden, fiel erst dann in Tiefschlaf, wenn der Tag dämmerte.

      Eine Gruppe halbwüchsiger Jungen stand beim Tabakladen, vielleicht waren es Türken, Kurden oder Zigeuner, Verner wusste es nicht. Er machte einen Bogen um sie, hörte einige Kommentare, ging weiter und kümmerte sich nicht darum, was sie sagten oder taten. Er hatte keine Angst vor ihnen, dennoch war er zur Seite gegangen. Wenn ihn jemand gefragt hätte, warum, hätte er keine Antwort darauf gehabt.

      Der Zug fuhr um fünf nach halb sechs. Er hatte nicht geplant, in die Stadt zu fahren, es kam einfach dazu.

      Er stieg am Hauptbahnhof aus, ging die Vasagata in Richtung Kungsgata hinunter, bog nach links zum Hötorg ab, kam an erleuchteten Schaufenstern vorbei und erinnerte sich, wie er dort als Kind mit seinem Vater die Weihnachtsdekorationen betrachtet hatte. Das hatten sie wohl mehr als einmal getan, vielleicht nur um einer Art Tradition willen?

      Er hatte seinen Vater nur zu besonderen Anlässen getroffen, seine Eltern hatten niemals zusammengelebt, und er hatte nur vage Erinnerungen an diese Treffen. Aber jetzt trat ein Bild aus dem Dunkel seines Gedächtnisses hervor: Er hielt die Hand seines Vaters, sie standen vor einem Kaufhaus. War es vielleicht das PUB, genau hier, wo Verner sich jetzt befand, viele Jahre später? Das Bild lebte noch einige Sekunden und verblasste dann. Verner konnte sich nicht entsinnen, sich an dieses Erlebnis schon vorher einmal erinnert zu haben, und zunächst zweifelte er, dann war er verwundert. Die Verwunderung


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