Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson


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gemacht werden.

      Verner war sich absolut sicher, dass ihn jetzt jemand beobachtete, vielleicht sogar mit der Videokamera aufnahm. Er hätte andere Kleidung wählen können: die kurze graue Jacke, ein Jackett, einen Mantel.

      Er ging durchs Zentrum, vorbei an den Bussen, und er drehte sich nicht um, schielte nicht verstohlen zur Seite. Er hätte auf die Beobachter zeigen können, er wusste, wo sie sich befanden, dachte, dass er bessere Stellen dafür ausgesucht hätte, wenn er hätte wählen müssen.

      Zwischendurch kam kurz die Sonne heraus. Verner folgte der Eisenbahnlinie, bog zum Trimm-dich-Pfad ab, durchquerte den Wald, geriet außer Atem, verringerte das Tempo etwas, fühlte sich erschöpft.

      Er ging knapp zwei Stunden lang, ohne anzuhalten. Als er zurück im Zentrum war, war es halb zehn. Er ging in den Konsum, denn er brauchte Milch und Käse, und der Kaffee war auch fast alle.

      Im Laden befanden sich nur wenige Kunden, einige Frauen und ein älterer Mann. Verner nickte einer der Frauen zu, er kannte sie, denn sie wohnte im gleichen Häuserkomplex wie er, mit Mann und zwei Söhnen, er hatte sie dann und wann zusammen gesehen. Zufälligerweise wusste er, dass die Frau Birgitta Lundberg hieß. Sie hatte mal Zeitungen zum Container getragen, als Verner auch gerade mit einem seiner Altpapierbündel dorthin kam. Er hatte in eine der Tüten schauen können, die die Frau neben sich abgestellt hatte, und zuoberst hatten ein Werbeprospekt und ein Kuvert mit ihrem Namen und ihrer Adresse gelegen. Verner hatte sich den Namen eingeprägt, wohl eine alte Gewohnheit oder auch Berufskrankheit.

      Jetzt nickte er der Frau zu, die Birgitta hieß, sie nickte zurück.

      Als Verner ein Paket Kaffee aus dem Regal nahm, stellte sich die Frau auf die Zehenspitzen, um an eine Packung Filtertüten oben auf dem Regal heranzukommen. Dabei rutschte ihr Ärmel ein wenig zurück und entblößte Handgelenk und Unterarm. Quer über dem Arm verlief ein blauer Fleck, ein großer Bluterguss, als ob sie sich eingeklemmt oder einen Schlag abbekommen hatte. Verner sah den rotblauen Fleck. Er schaute schnell zu der Frau hinüber, traf für eine Sekunde ihren Blick. Sie hatte die Filtertüten noch nicht zu fassen bekommen, trotzdem ließ sie den Arm sinken und zog den Pulloverärmel herunter. »Ich kann dir helfen«, sagte Verner, »ich bin größer und komme dran.«

      Er nahm eine Packung aus dem Regal und reichte sie der Frau, die sich beeilte zu lächeln.

      »Danke«, murmelte sie.

      Verner nickte ihr zu und folgte ihr mit dem Blick, als sie sich bückte, den Einkaufskorb hochhob, ihm den Rücken zudrehte und weiterging, mit dem Korb in der rechten Hand.

      Er hatte auch vorher schon ähnliche Flecken auf den Armen der Frau gesehen. Er wusste, dass sie auf unterschiedliche Weise entstehen konnten. Aber in den meisten Fällen waren sie das Resultat unsanfter Behandlung, jemand hatte sie blau gequetscht, die Haut verletzt. Verner begriff, dass die Frau gemerkt hatte, dass er es gesehen und verstanden hatte. Das hatte sie erschreckt, denn sie hatte verstecken wollen, dass jemand sie misshandelt hatte. Auch das wusste Verner, da er in den Jahren bei der Polizei sehr viele misshandelte Frauen getroffen hatte. Er dachte, dass er vielleicht zu ihr hätte sagen sollen, dass sie ganz beruhigt sein konnte, dass er nichts weitererzählen würde, dass er sich nicht einmischen würde.

      Er sagte nichts zu ihr, er ließ sie verschwinden, und ihm war nicht wohl zumute. Das verwunderte ihn ein wenig, denn es war lange her, dass er etwas von diesem alten, vertrauten Gefühl spürte, er hatte sich schon eingebildet, dass es völlig verschwunden war. Trotzdem war das Gefühl ganz anders als früher. Die Wut blieb aus.

      7.

      Margret machte erst spät Mittagspause. Seit halb neun hatte sie an einer Zusammenstellung dessen gesessen, was sie und ihre Kollegen bei den Gesprächen mit den Mietern im und um den Törnrosväg herausbekommen hatten: Knapp siebzig Befragungen, davon einige auf englisch mit neu zugezogenen Ausländern, einige wortkarge auf schwedisch, an die zehn brauchbare mit Details und Zeitangaben und auch einige völlig fehlgeschlagene, weil derjenige, der die Tür geöffnet hatte, nichts verstand: Achselzucken, nach oben gewendete Handflächen, Lächeln, aber keine Worte, keine Beobachtungen.

      Es wäre absolut falsch gewesen, das Ergebnis als mager zu bezeichnen: Es war wertlos, niederschmetternd, nichtssagend. Das Dezernat war unterbesetzt. Es war Ferienzeit, dazu kamen drei Krankmeldungen: eine Lebensmittelvergiftung, ein Blinddarmdurchbruch, ein akuter Hexenschuss. Gleichzeitig gab es mehrere andere schwere Gewaltverbrechen, in denen das Dezernat die Ermittlungen führte: der Bikermord, der Fernfahrerüberfall, mehrere brutale Ladenüberfälle, Bandenkriege in Fittja. Neue Verbrechen an fast jedem neuen Tag.

      Margret saß am Computer, gab die Befragungen ein, stellte sie zusammen, überprüfte Namen, schrieb, schrieb, schrieb, vergaß die Zeit und bemerkte erst spät, dass sie die Mittagspause verpasst hatte. Es war zwanzig nach eins. Sie verließ ihr Zimmer, der Korridor war leer, und die meisten Türen zu den Zimmern ihrer Kollegen standen offen, auch die vom Zimmer des Dezernatsleiters Lennart Philipsson. Einige Sekunden bevor Margret dessen Zimmer passierte, erhob sich der Chef von seinem Schreibtisch, zog sein Jackett an und trat hinaus in den Korridor.

      »Hej«, sagte Margret und nickte.

      »Hej Margret«, antwortete ihr Chef.

      Sie gingen beide zum Fahrstuhl. Margret dachte, dass Philipsson oft schnell ging. Er war groß und mager und war in seiner Jugend vielleicht Sportler gewesen. Er bewegte sich wie ein Läufer, oder vielleicht auch wie ein Orientierungsläufer. Er war einer der Menschen, von denen man zu sagen pflegte, dass sie einen federnden Gang hatten. Lennart Philipsson war sechzig Jahre alt. Er hatte aufgehört, auf höhere Sprossen der Karriereleiter zu hoffen, er gab sich damit zufrieden, das größte Dezernat der Bezirkspolizei zu leiten.

      »Fährst du runter in die Kantine?«, fragte er.

      »Ja, wird ein spätes Mittagessen heute«, antwortete Margret.

      »Ich werde auch eine Kleinigkeit essen, wir können uns ja zusammensetzen.«

      »Ja, klar.«

      »Oder wolltest du auswärts essen?«

      »Nein, ich hab es ziemlich eilig, also nur Aquarium heute.«

      »Okay, wie du willst.«

      Sie verließen den Fahrstuhl im Erdgeschoss, gingen durch die Gänge zur Kantine neben dem Schwimmbad. Margret bestellte Kartoffelpuffer mit gebratenem Speck, Philipsson entschied sich für Gemüsesuppe. Sie ließen sich an einem Tisch ganz in der Nähe der Glastrennwand zum Schwimmbecken nieder. Es waren einige Schwimmer im Wasser, junge Mädchen. Sie schwammen schnell, Bahn für Bahn.

      »Schwimmst du auch?«, fragte Philipsson.

      »Nicht wirklich«, antwortete Margret.

      »Aber du bist doch eine Sportskanone, meine ich doch. Irgendein Kampfsport, oder ...«

      »Ich trainiere hin und wieder.«

      »Jemand hat gesagt, dass du richtig gut bist.«

      »Ach, was die alle so erzählen.«

      »Wie geht‘s mit Älvsjö voran?«

      »Nichts Neues, geht nur schleppend vorwärts.«

      »Und ich kann euch noch nicht mal Verstärkung anbieten, ich habe bei der Fahndung und der Ausländerbehörde um Unterstützung gebeten, aber die haben genauso wenig Leute übrig wie wir.«

      »Ja, das sieht schon ziemlich finster aus.«

      »Ich hoffe, dass bald etwas passiert, ansonsten müssen wir da kürzer treten.«

      »Das verstehe ich.«

      Sie hielten im Gespräch inne und widmeten sich dem Essen. Margret blickte auf die Uhr und sah, dass von ihrem Arbeitstag nur noch wenige Stunden übrig waren.

      Nach dem Essen tranken sie Kaffee, sprachen weiter über die Unterbesetzung und kamen dann wieder auf den Älvsjö-Mord zurück.

      »Was glaubst du?«, fragte Philipsson.

      »Es


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