Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson


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der jede Woche an diesen Tagen zu kommen pflegte. Er hatte gerade geduscht, das kleine Fenster über der Badewanne geöffnet und die Abgase gerochen, ohne irgendein Auto zu sehen. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, das Auto hatte, für ihn unsichtbar, um die Ecke des Hauses gestanden.

      Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ließ er das Handtuch auf dem Boden liegen, strich mit beiden Händen durch das feuchte Haar und ging vom Badezimmer in den Flur, hielt jedoch am Wandspiegel inne. Es ist alles weich und es hängt herunter, dachte er, als er sein Spiegelbild sah.

      Er hatte das natürlich auch schon vorher gewusst, die Veränderungen waren langsam gekommen in den letzten Jahren, aber erst jetzt formulierte er den Vorgang, erst als Gedanken und dann in Worten.

      »Das bin ich«, sagte er halblaut.

      Er drehte sich ein wenig zur Seite, um sich besser betrachten zu können, befand, dass das, was er gesagt hatte, nicht stimmte.

      »Das bist du«, sagte er und nickte dem Spiegelbild zu.

      Aber auch das klang falsch. Er wusste nicht, wie er sich selbst anreden sollte, den Mann im Spiegel, die schwache Gestalt, die er vor sich hatte. Das war aus ihm geworden. Die Arme waren stark, die Schultern standen etwas vor, der Rücken war ein wenig krumm. Aber am Bauch hing alles, an den Hüften und darüber war alles fett und weich. Verner hob leicht den rechten Arm und betrachtete das weiße Fleisch unterhalb der Achsel. Dann folgte die gleiche Prozedur mit dem linken Arm. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber Gedanken machen sollte, wie er aussah. Vielleicht.

      Früher hätte er es nie soweit kommen lassen, er hatte täglich trainiert, hatte seine Liegestütze schon morgens zu Hause gemacht und am Training am Arbeitsplatz teilgenommen. Zu jener Zeit war er stark gewesen, hatte 87 Kilo gewogen, nie zugenommen.

      Zu jener Zeit, vor drei Jahren, vielleicht auch vor vier. Mittlerweile machte er sich fast gar keine Gedanken mehr über die Zeit, wollte von den Jahren nichts wissen.

      Er zog sich an, trank eine Tasse Kaffee, aß ein Butterbrot mit Molkenkäse und nahm seine Medizin.

      Eine halbe Stunde später saß er noch immer am Tisch. Die Tasse war leer, das halbe Butterbrot war noch da. Die braune Käsescheibe war hart und hatte muffig geschmeckt.

      Verner versuchte den Tag zu planen. Er musste einige Sachen einkaufen, ein wenig spazieren gehen. Weiter kam er nicht. Das musste fürs Erste reichen.

      Als er in den Flur ging, um sich eine Jacke anzuziehen, sah er sich wieder im Spiegel. Das Bild, das er jetzt antraf, war weniger abstoßend, aber das Gesicht war grau. Er dachte, dass das wohl an den Bartstoppeln lag. Er würde sich später rasieren.

      Es lagen einige Werbeblätter vor der Tür und ein Versandkatalog. Verner hob ihn auf und sah, dass er Angebote für Werkzeug enthielt. Er blätterte darin, setzte sich auf den Stuhl neben dem Spiegel, betrachtete ein Bild von einer Bohrmaschine und versuchte sich zu erinnern, ob er jemals eine besessen hatte.

      An diesem Tag rasierte er sich nicht. Als er mit den Supermarkteinkäufen von seinem Spaziergang zurückkam, legte er sich eine Weile aufs Bett.

      Am Abend ging er hinaus. Er kam erst weit nach Mitternacht wieder nach Hause, trank ein Glas Wasser, nahm seine Pillen wie gewöhnlich und schlief nach einer Weile ein.

      Gegen fünf wachte er mit einem starken Gefühl einer Bedrohung auf. Er konnte nur schwer atmen. Es war, als ob er geträumt hätte, aber er wusste, dass es kein Traum war, wusste, dass es etwas Reales war, das ihn bedrückte, etwas, das ihm neulich passiert und das noch nicht vorbei war. Er versuchte sich zu erinnern, es gelang ihm jedoch nicht, und das Gefühl von Gefahr und Schuld steigerte sich immer weiter.

      Dies war eine Nacht, in der Tabletten wohl nicht helfen konnten. Verner hatte seiner medikamentösen Behandlung lange kritisch gegenüber gestanden, aber langsam gelernt, seine eigenen Einwände abzutun.

      Es sollte jetzt eigentlich besser geworden sein.

      4.

      Stig fuhr in der Mittagspause nach Hause, um etwas zu essen. Er parkte das große Müllauto im Kristallväg in Solberga, war schon ausgestiegen und schon fast dabei aufzuschließen, als ihm einfiel, dass er das Handy in der Halterung am Armaturenbrett vergessen hatte. Er hätte es wohl auch dort lassen können, aber zur Sicherheit nahm er es doch mit.

      Es konnte immerhin sein, dass er noch einen Anruf bekam, manchmal kam das vor, es gab mitunter Extratouren zu einem Restaurant oder irgendeinem Container, oder er musste einspringen, wenn sich jemand anderes krank gemeldet hatte. An solchen Tagen gehörten für gewöhnlich das Zentrum von Älvsjö, der Bahnhofsplatz und die Häuser um den Törnrosväg und Götalandsväg zu seinem Bezirk, mit Sperrmüll, Altpapier und dem üblichen Kleinkram. Absolut nichts, woran man noch etwas verdienen konnte. Die Sperrmüllhaufen wurden immer gründlich nach Sachen durchsucht, die man noch gebrauchen konnte. Diese neuen Leute nahmen alles, die Einwanderer aus all diesen Ländern, deren Namen man kaum kannte. Und die Ära des Pfandglases war vorbei. Früher hatten Stig und seine Kollegen immer eine eigene Tüte für Leergut im Fond des Wagens hängen gehabt. Das hatte oft ein nettes Zubrot ergeben.

      Das gab es jetzt für etwas anderes: Mal einen Hunderter, mal einen Fünfzigkronenschein für einen Sack mit unbekanntem Abfall, einige Fuhren Krimskrams ohne irgendwelche Fragen. In manchen Wochen konnte sich Stig eine beträchtliche Summe schwarz dazu verdienen.

      Stig fuhr allein.

      Stig Anders Nilsson, geboren 1949 in Solberga. Er war niemals aus diesem Vorort weggezogen. Als er an der Pizzeria vorbeiging, traf er Acke Bergman, einen Jugendfreund, der nur selten nüchtern war. Früher hatten sie zusammen gesoffen, aber Stig lebte jetzt ohne Schnaps. Acke hatte damit nie aufgehört.

      »Tag auch«, sagte Stig und hob die Hand.

      »Du schuftest also wie üblich«, antwortete Acke. Mehr sagten sie nicht, das war auch nicht nötig. Beide wussten, dass keiner den anderen zu überreden versuchte, auf die eigene Seite zu wechseln.

      Stig kochte ein Ei und füllte einen Teller mit Dickmilch, blätterte im Aftonbladet von gestern, im Sportteil, freute sich, dass Hammarby wieder aufsteigen würde, Kennedy hatte Tore geschossen. Stig dachte, dass er vielleicht mal wieder zum Fußball gehen und eins der Heimspiele der Jungs anschauen sollte, wie er es früher getan hatte.

      Nach einer halben Stunde ging er wieder hinaus zum Auto. Es hatte angefangen zu regnen, aber nicht stark, er wurde nicht einmal nass auf den Schultern, der Overall schützte doch ganz gut. Aber er spürte einige Regentropfen auf dem Kopf und wurde daran erinnert, dass sein Haar allmählich recht schütter geworden war.

      Um zwei war er mit den Geschäften in der Innenstadt von Älvsjö fertig: Der Konsum, das Hotel, der Megagrill, das indische Restaurant, die italienische Bar, Ronjas Salon, das Bürgerbüro. Die meisten Müllplätze am Törnrosväg hatte er schon am Tag zuvor abgefahren, aber sechs, sieben Müllhaufen musste er noch abholen. Er begann am innersten Wendehammer: eine Menge Glassplitter auf dem Betonboden, zerknüllte Verpackungen, Folie, das Übliche, das von neu zugezogenen Familien zurückgelassen wurde, die bei IKEA eingekauft hatten. Das Haus gegenüber: Noch mehr Pappkartons, ein kaputter Tisch, Teile eines Kinderwagens, ein zerschlagener Fernseher, zerschlissene Schuhe, etwas, das vermodert roch und zwischen die Haushaltsabfälle geworfen worden war. Nächstes Haus: Ein übler chemischer Geruch, noch mehr zerbrochenes Glas. Er schmierte sich Öl, oder was es auch immer war, auf die Arbeitshandschuhe, es war jedenfalls etwas Schmieriges, das über den Boden rann, als er eine nasse Matratze anhob.

      Blieb noch ein Müllplatz, etwas entfernt bei den großen zugebauten Innenhöfen. Stig hatte gerade die Eisentür aufgestemmt, als er ein Kind etwas rufen hörte. Aber er verstand es nicht, das Kind sprach kein Schwedisch, und so kümmerte er sich nicht darum. Aber das Kind rief wieder und wieder. Die Stimme kam näher, und nun sah er das Kind: ein dunkelhäutiges Mädchen um die sechs Jahre, bekleidet mit einem engen, orangefarbenen Kleid. Sie sah sehr ernst aus, versteinert, aber Stig dachte, dass sie vermutlich einfach so aussah, dass ihre Leute vielleicht eben so waren, die Leute des Landes, aus dem sie kam, er wusste aber nicht, welches es war.

      Das


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