Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson


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sie klammerte sich an seiner Hand fest. Stig begriff, dass es um etwas Ernstes ging.

      Sie liefen dicht nebeneinander, zur Tür hinein, die Treppe hinauf. Das Mädchen lief nun voran, drei Etagen hoch und auch noch die Speichertreppe. Die Speichertür stand einen Spalt offen. Das Mädchen blieb stehen und zeigte hinein. Stig sah etwas, das dort drinnen hing, einen Rücken, einen Arm. Er befreite sich von der Hand des Mädchens, schob die Tür auf und sah den ganzen Körper und das blutige Gesicht.

      Stig wandte sich zu dem Mädchen um, nahm wieder ihre Hand und zog sie mit sich die Treppe hinunter.

      »Du gehst jetzt wohl besser nach Hause«, sagte er.

      Das Mädchen nickte, als würde sie verstehen, blieb aber wo es war.

      »Wohnst du hier?«, fragte Stig.

      Das Mädchen zeigte durch das Fenster des Treppenhauses auf das fünfstöckige Haus im Hof gegenüber.

      »Geh nach Hause zu deiner Mutter«, sagte Stig, aber das Mädchen hielt seine Hand fest, als ob sie überhaupt nicht daran dächte ihn zu verlassen. Stig verstand nicht, warum, aber er wollte nicht weiter schimpfen.

      Sie gingen zusammen hinunter zum Eingang. Dort holte Stig sein Handy aus der Tasche und wählte 112, die Notrufnummer, verlangte die Polizei und fügte hinzu, dass es eilig sei. Man bat ihn, dort zu bleiben und nichts anzufassen. Das Mädchen hatte sich hingesetzt.

      Sie saß immer noch auf der Eingangsstufe, als zehn Minuten später die Polizei eintraf. Es waren zwei uniformierte Männer, ein junger und ein älterer.

      »Sie hat ihn gefunden«, sagte Stig.

      »Kennst du das Mädchen?«, fragte der ältere Polizist.

      »Nein«, antwortete Stig.

      »Wie heißt du?«, fragte der Polizist das Mädchen und hockte sich zu ihr hin.

      »Ich heiße Magdalena Sophie«, antwortete das Mädchen in fehlerfreiem Schwedisch, mit der Andeutung eines värmländischen Zungenschlags.

      »Wir gehen rauf. Bleib du bei dem Mädchen«, sagte der ältere Polizist zu seinem jungen Kollegen. So begann Stig, zum zweiten Mal auf den Speicher zu gehen, und erst jetzt fühlte er sich betroffen, und etwas Übelkeit stieg in ihm auf.

      5.

      Die Wettervorhersage im Radio hatte einzelne Schauer und einige heitere Abschnitte vorausgesagt, aber der Himmel war bleigrau, als Verner früh am Morgen aus dem Küchenfenster schaute. Die Aussicht war zwar begrenzt durch einen Baum und das Ziegeldach der Waschküche, aber wenn er sich dicht vor die Scheibe stellte und den Blick nach oben richtete, konnte er einen breiten Streifen Himmel über der Häuserfront sehen und auch die bepflanzten Höfe gegenüber.

      Es war halb acht. Verner hatte schlecht geschlafen. Er hatte lange wach gelegen und war erst eingeschlafen, als das erste Licht das Zimmer zu erhellen begann, um dann kurz darauf wieder vom Zeitungsboten geweckt zu werden, der an den Briefkästen der Nachbarn klapperte. Er selbst hatte keine Zeitung abonniert, er hatte auch keinen Fernseher und bekam nur selten Briefe, dafür aber eine tägliche Dosis unterschiedlicher Reklameprospekte. Er nickte den Nachbarn zu, wenn er sie im Hauseingang traf, sagte aber selten etwas. Rechts unten wohnten Mihailovic und Mehmet, links unten Järvinen und Malmgren; eine Dreizimmerwohnung, drei Zweizimmerwohnungen und Verners Appartment mit Kochnische. Das Haus war Eigentum der Familjebostäder. Verner wohnte hier seit drei Jahren, genauso lange wie er ohne Arbeit war, seine Medizin nahm und vor sich hin lebte.

      Er stand im Bad und rasierte sich, als es an der Tür klingelte. Er hatte nicht vor zu öffnen, denn er nahm an, dass es ein Vertreter war oder Schulkinder, die Geld für ihre Klassenfahrt sammelten. Aber das Klingeln hörte nicht auf, wiederholte sich immer schriller in immer kürzeren Intervallen, nervtötendes Klingeln, das minutenlang anhielt.

      Verner hatte sich entschieden, nicht zu öffnen. Als es endlich wieder still war, war er sicher, den Störenfried losgeworden zu sein. Er dachte, dass das vielleicht der Ausdruck eines neuen Zeitalters war, nicht aufzugeben, sich festzubeißen, den widerspenstigen Kunden zu überwältigen. Verkaufen, niederreden, verkaufen.

      Da hörte er ein Klopfen am einzigen Fenster des Raumes. Er war gerade fertig mit der Rasur, stand mit nacktem Oberkörper vor dem Waschbecken, sah im Spiegel, dass er sich mit der Klinge leicht am Hals geschnitten hatte, denn er blutete. Er wischte das Blut mit dem Handtuch weg, behielt es in der Hand und ging ins Zimmer bis zum Fenster.

      Eine Frau stand dort zwischen den Sträuchern. Sie kam näher und hielt etwas in der Hand, das sie dann gegen die Scheibe drückte. Verner konnte sehen, dass es sich um einen Polizeiausweis handelte. Sein Blick traf den ihren und er glaubte, sie wiederzuerkennen. Sie nickte in Richtung Tür und verschwand. Verner zog sich schnell ein Hemd über, bevor er öffnete. Die Frau stand dort, die Hände in den Taschen vergraben. Sie trug lange, dunkle Hosen, eine blaue Sportjacke, hatte kurzes Haar und trug keinerlei Kopfbedeckung.

      »Verner?«, fragte sie.

      »Mmh«, antwortete er. Sie hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt, und er begriff, dass sie entschlossen war. Er konnte sie bitten einzutreten, aber eigentlich war das unnötig. Und jetzt erinnerte er sich wieder an ihren Namen.

      »Margret Mattsson, oder?«, fragte er.

      Sie war jetzt im Flur, schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Sie lächelte ihn an, er erwiderte den Blick, ohne zu lächeln.

      »Bist du im Dienst?«, fragte er.

      »Sowohl als auch«, antwortete sie.

      »Komm rein, kann ich dir etwas anbieten? Eigentlich habe ich nicht wirklich etwas anzubieten, aber du kannst eine Tasse Kaffee haben oder Tee.«

      »Danke, ich möchte nichts.«

      Er ging ins Zimmer, sie folgte ihm. Das Bett war ungemacht, eine Unterhose lag auf einem der Stühle am Tisch, auf dem anderen lagen zwei Zeitungen. Verner warf die Unterhose aufs Bett und zog hastig die Bettdecke darüber, um sie zu verstecken, und strich die Decke glatt. Dann fegte er die Zeitungen vom anderen Stuhl, zog ihn vom Tisch weg und machte eine einladende Geste in Richtung seines Gastes, selbst setzte er sich auf den Stuhl, der gerade erst von der nicht ganz sauberen Unterhose befreit worden war.

      Aber die junge Frau mit dem Polizeiausweis ließ sich nicht nieder, sie ging zum Fenster und öffnete es, erst einen Spalt, dann ein wenig weiter.

      »Möchtest du rauchen?«, fragte Verner.

      »Nein«, antwortete sie. Schnell sah sie sich im Zimmer um. Es gab nur wenige Möbelstücke, keine Bilder, keine Teppiche. Neben dem Bett hing ein Regal mit einigen Büchern, einem Lexikon, einem Stapel Heftchen. Ganz oben im Regal stand ein Dekorationsgegenstand, und zwar der einzige im ganzen Zimmer: ein bemalter Gipskopf, an die fünfzehn Zentimeter hoch, der ein junges Mädchen darstellte.

      Dann setzte sich die Frau Verner gegenüber. Sie sagte eine ganze Weile gar nichts, lächelte ihn aber die ganze Zeit über an, so hatte die Stille nichts Beklemmendes für Verner. Schließlich sagte sie mit fragendem Tonfall:

      »Du weißt nicht, warum ich hier bin, Verner?«

      »Vielleicht wolltest du ja einfach mal hallo sagen.«

      »Schon, aber ich frage mich auch, ob du mir nicht vielleicht bei einer Sache behilflich sein könntest. Diese ›Sache‹ ist vorgestern passiert, das heißt, um genau zu sein, ist sie wahrscheinlich vorgestern am späten Abend passiert oder gestern sehr früh am Morgen.«

      »Aha.«

      »Du weißt nicht, dass hier etwas passiert ist?«

      »Nein.«

      »Ein Mann wurde tot aufgefunden, erhängt. Erst sah alles nach Selbstmord aus, aber jetzt wissen wir, dass es nicht so war.«

      »Und was war es dann?«

      »Der Mann wurde ermordet, erst misshandelt und dann getötet. Stranguliert und dann auf dem Speicher von einem der Aufgänge hier zu deinem Hof aufgehängt. Er


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