Herbst der Vergeltung. Erik Eriksson

Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson


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davon gesagt. Und ich gucke am Kiosk auf die Schlagzeilen.«

      »Die Abendzeitungen bringen es heute Abend, da kannst du dir sicher sein.«

      »Aha.«

      »Und du hast nichts gehört oder gesehen?«

      »Nein.«

      »An diesem Abend beziehungsweise in dieser Nacht, warst du da hier?«

      »Ich glaube schon.«

      »Du glaubst?«

      »In meiner Erinnerung verschwimmt das alles oft, das kommt von den ganzen Medikamenten, die ich nehme. Ich vergesse die Zeit.«

      »Denk bitte nach.«

      Verner sah aus dem Fenster und versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte. Die Tage glichen sich und die Nächte ebenso, schlaflos und unruhig, so dass er manchmal aufstand und einige Stunden spazieren ging.

      »Vielleicht war ich draußen und bin eine Runde gegangen.«

      »Hier in der Gegend?«

      »Anzunehmen.«

      »Und du hast nichts besonderes gesehen oder gehört?«

      »Wie ich gesagt habe, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich in der Nacht wirklich draußen gewesen bin, vermutlich war ich das, aber ich kann die Tage nicht auseinanderhalten.«

      »Okay Verner, ich glaube dir, aber wenn dir doch noch etwas einfallen sollte, kannst du mich gerne anrufen, falls die Erinnerungen sozusagen zurückkommen sollten.«

      »Das tun sie für gewöhnlich nicht.«

      »Aber falls doch, dann rufst du an, ja?«

      »Wo bist du denn zu erreichen?«

      »Ich bin jetzt bei der Bezirkspolizei, bei der Kriminalabteilung.«

      »Du warst dort wohl gerade neu, als ich aufgehört habe.«

      »Ich war noch in der Ausbildung, als du verschwandest, wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, du hast damals Vorlesungen für uns gehalten, erinnerst du dich?«

      »Auf der Polizeihochschule?«

      »Nein, die hatte ich da bereits hinter mir, das war während der praktischen Ausbildung.«

      »Ach so, ja. Sie hatten mich ab und zu darum gebeten, euch Vorträge zu halten.«

      »Weil du dein Handwerk verstanden hast, Verner.«

      »Das ist lange her.«

      »Aber du konntest dich noch an meinen Namen erinnern.«

      »Das muss Zufall gewesen sein, vielleicht hast du irgendeinen besonderen Eindruck hinterlassen.«

      »Obwohl drei Jahre ja auch wieder nicht so lang sind.«

      Verner erhob sich und ging in die Kochnische. Er drehte den Wasserhahn auf, spülte zwei Tassen aus und setzte den Wasserkessel auf. Die junge Polizeiinspektorin blieb sitzen, sie begriff, dass er über das, was passiert war, nicht sprechen wollte.

      »Darf ich mal die Toilette benutzen?«, fragte sie.

      Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinaus in den Flur, öffnete die Tür zum Badezimmer, machte sie hinter sich zu und schloss ab. Sie stand eine Weile still, bevor sie ein Stück Papier von der Rolle zog, es zusammenknüllte und es in die Toilette fallen ließ und spülte. Dann öffnete sie das Spiegelschränkchen, fand Rasierer, Zahnpasta, Pflaster, eine Rolle Kupferdraht und fünf Pillendöschen mit Etiketten: Tolvin, Cipramil, Valium, Rohypnol, Leponex. Dazu noch zwei Döschen ohne Aufschrift. Sie zog ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb die Namen der Präparate auf.

      Als sie wieder in den Flur kam, stand Verner noch in der Kochnische. Das Wasser hatte angefangen zu sieden.

      »Ich möchte am liebsten Tee«, sagte sie.

      Als er nicht antwortete, ging sie zum geöffneten Fenster hinüber, zog es ein Stück weiter zu und sah einige Kinder vorbeigehen, ein Mädchen und zwei Jungen, der eine trug eine leuchtend gelbe Mütze. Margret erinnerte sich, dass das Mädchen, mit dem ihr Kollege gesprochen hatte, orangefarbene Kleidung getragen hatte, das hatte im Bericht gestanden, als ob dieses Detail wichtig gewesen wäre.

      »Es war ein kleines Mädchen, das das Mordopfer gefunden hat«, sagte sie.

      »Aha«, murmelte Verner und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.

      »Ja, ein Mädchen und ein Müllmann.«

      »Aha.«

      »Und es war Philipsson, der mich gebeten hat, mit dir zu sprechen.«

      »Dein Chef?«

      »Ja, er meinte, dass du vielleicht etwas wissen könntest.«

      »Bin ich für die Ermittlungen von Interesse?«

      »Er hat mich nur gebeten, mit dir zu sprechen, mehr nicht, weil du hier wohnst und weil du mal Polizist gewesen bist.«

      »Ich bin so vieles gewesen, und jetzt weiß ich mal gerade noch, wie ich heiße, und Philipsson ist übrigens einer von denen der ... ach, ist egal.«

      »Nein, sag, was du sagen wolltest.«

      »Du weißt es sicherlich, Margret, oder? Natürlich weißt du es.«

      Verner erhob ein wenig die Stimme, atmete so aus, dass es ähnlich wie ein tiefer Seufzer klang, und schüttelte den Kopf, blieb aber still. Margret nickte, sagte aber nichts. Sie hob die Teetasse, trank einen Schluck, erhob sich und streckte Verner die Hand entgegen.

      »Ruf mich an, wenn dir etwas einfällt«, sagte sie, »oder ruf mich einfach so an, wenn du willst, das wäre schön.«

      Nachdem Margret gegangen war, ging Verner ins Badezimmer, öffnete das Schränkchen, nahm zwei Pillen aus dem einen Döschen und spülte sie mit einer Handvoll Wasser hinunter. Er wusste, dass seine Besucherin in den Schrank geguckt hatte, und dass sie aufgeschrieben hatte, wie die Pillen hießen. Er wusste, dass es ein Fehler von ihr gewesen wäre, das nicht zu tun, und er wusste, dass sie wusste, dass er wusste, was sie im Badezimmer gemacht hatte.

      Er hatte sogar Vorlesungen darüber gehalten, war er es also selbst gewesen, der ihr beigebracht hatte, in den Badezimmerschränken anderer Leute herumzuschnüffeln?

      Verner verließ gegen zwei das Haus. Er war auf dem Weg ins Zentrum, um im Konsum einzukaufen, ging aber nicht auf direktem Weg dort hin. Er sagte sich selbst, dass er sich nur ein wenig die Beine vertreten wollte, sich bewegen, ein bisschen bummeln. Nachdem er einen Kilometer auf dem Trimm-dich-Pfad neben der Eisenbahntrasse zurückgelegt hatte, wusste er, dass er dem Stadtzentrum auswich, den Schlagzeilen in den Zeitungsständern und den ganzen Informationen über das, was geschehen war.

      Plötzlich blieb er stehen, stand einige Minuten still auf dem Weg, atmete tief ein und versuchte sich einzureden, dass er nichts zu befürchten hatte; das, was geschehen war, hatte nichts mit ihm zu tun. Es war ein Mord, einer von unzähligen, er hatte selbst eine große Anzahl Opfer gesehen, einige kaputt geschlagen, einige schon verwest, hatte den Gestank gerochen, Würmer gesehen, Kinder getroffen, die ihren Vater verloren hatten, war derjenige gewesen, der einer Mutter erzählen musste, dass ihre Tochter ermordet worden war.

      Verner versuchte sich selbst daran zu erinnern, dass er das Schlimmste schon erlebt hatte. Aber er fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er hatte Angst.

      Trotzdem drehte er um, sah die Schlagzeilen: ›Brutaler Mord in Älvsjö‹. ›Hinrichtung ohne Gnade‹. Er kaufte den Expressen, einen Liter Milch, ein Brot, ein Päckchen Butter, zwei Tomaten, eine Dose Erbsensuppe. Er wartete mit dem Lesen, bis er zu Hause war.

      Das Opfer war ein einundfünfzigjähriger Mann. Er war zuvor nicht polizeibekannt gewesen, er wohnte in Solberga, arbeitete als Gehilfe an einer Tankstelle, er war geschieden, hatte eine erwachsene Tochter. Die Polizei hatte noch niemanden festgenommen, sie hatten an den Haustüren geklopft und erhofften sich Hilfe von der Bevölkerung, jemand musste den Verdächtigen


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