Revolverhelden auf Klassenfahrt. Hartmut El Kurdi

Revolverhelden auf Klassenfahrt - Hartmut El Kurdi


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      Hartmut El Kurdi

      Revolverhelden auf

      Klassenfahrt

       Geschichten und Kolumnen

      FUEGO

      Über dieses Buch

      Hartmut El Kurdis Geschichten und Kolumnen sind komische, erfrischend wütende, mitunter selbstironisch-sentimentale Exegesen des alltäglichen deutschen Irrsinns. Sei es in einem Kommentar zur Beschneidungsdebatte, in einem Dankesstoßgebet zum angekündigten Ruhestand des Kinderlieder-Satans Rolf Zuckowski oder in einer satirischen Meditation über Fitnesswürste mit rechtsdrehender Milchsäure – immer wird das Allgemeine mit dem Privaten und Persönlichen verwoben.

       Immer wieder für Ulrike und Salima.

       Und für Luzie: Que sera, sera.

       Aktenzeichen XY reloaded

      MANCHMAL IST MAN EINE ZEITLANG WEG, kommt zurück und ist überrascht, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Die Betonung liegt auf »eigentlich«, denn zunächst einmal sieht ja alles ganz anders aus. Jeder kennt das vom Heimaturlaub: Wie ein Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft irrt man durch die Straßen der Kindheit und wundert sich über Zerstörung und Wiederaufbau: Über potthässliche Multiplexe oder Cinemax­xe zum Beispiel – oder wie diese gigantischen Popcornbuden mit Schmodderfilmbetrieb auch jeweils heißen. Oder über das runtergeranzte Sonnenstudio, dass sich in den Räumen des damals auch schon runtergeranzten Tanzlokals befindet, in dem man zum ersten Mal hirnverflüssigende Rauchdrogen inhalierte. Nichts ist mehr so, wie es war.

      Aber irgendwann kommt man immer an die eine Parkbank, erinnert sich an schüchterne und hakelige Zahnklammerküsse und ist verwundert, dass die Bank immer noch existiert. Ob es wirklich dieselbe ist, lässt sich nicht überprüfen und ist eher unwahrscheinlich. Aber sie steht an der selben Stelle und sieht auch genauso aus. Insofern stimmt der erinnerungsbefördernde Eindruck. Das reicht. Und dann wird man ruhig.

      Ähnlich geht es mir auch mit medialen Phänomenen wie »Aktenzeichen XY ungelöst«, das ich mir kürzlich nach geschätzten 30 Jahren Abstinenz mal wieder anschaute. Schon als Kind rezipierte ich die Sendung als reines Humorprodukt. In einer Reihe mit »Schweinchen Dick«, »Klimbim«, der »Otto-Show« und Loriot, dessen XY-Parodie übrigens leider nur halb so komisch wie das Original ist.

      Das war damals wirklich Schrullen-Comedy pur: Das XY-Mastermind Eduard Zimmermann sah aus wie der Schwippschwager von Heinz Erhardt und sprach wie ein hastig zusammengelöteter Roboter. Und selbst als Sie­ben­achtneunjährigem war mir klar, dass die nachgespielten Einbruchs- und Totmachszenen in ihrer schwarzweißen Schlichtheit nichts mit der Realität, aber auch nichts mit den mir bekannten Fernseh-Krimi-Formaten zu tun hatten, sondern eigenen ästhetischen Gesetzen folgten – die aber sicherheitshalber niemandem verraten wurden.

      Ich kenne allerdings Menschen, denen die handgeschnitzten XY-Filmchen wochenlang Angst einjagten. Schon ein aus dem Off gesprochener Einstieg wie: »2. Juli 1974, ein Montag: In Dedensen, einem kleinen Ort bei Hannover, sitzt die Familie Warnke wie jeden Morgen beim Frühstück. Doch etwas ist anders an diesem Tag.«, beschrieb eine von einer schwarzen Wolke verdunkelte Normalität, die manch einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mir nicht. Obwohl ich sonst vor vielem Angst hatte. Aber nicht vor Onkel Ede.

      Ich wartete stets auf den ersten schlecht nachgemachten Dialekt, die erste Liveschaltung zu Werner Vetterli in die Schweiz oder Peter Nidetzky in Wien, auf Sätze wie: »Vermutlich hat der Täter sein Aussehen inzwischen verändert und sieht jetzt so aus«, und auf das dann folgende Foto, auf dem man einen Mann mit fetten Koteletten sah, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Cousin Walter hatte. Und mit zwanzig anderen Halbstarken aus unserer Siedlung.

      Und genau so ein Foto bereitete mir auch beim Anschauen des neuen »XY« wieder große Freude. Zwar ist sonst alles anders: Ede ist tot und heißt jetzt Rudi Cerne, das Studio ist groß und bunt und sieht aus wie die Kommandobrücke der »USS Enterprise«, aber die Fotos ...

      In diesem Fall zeigte man zwei Bilder des ostfriesischen Tresorknackers Dietmar Linke. Eins von 1996 und dann das gleiche Foto, das – so der Beamte vom LKA Niedersachsen – mithilfe einer aufwendigen »Aging«-Computersoftware bearbeitet worden wäre. Damit könne man den Alterungsprozess simulieren und darstellen, wie Linke wohl heute aussehe. Die einzige Differenz zwischen beiden Bildern war allerdings, dass Linke auf dem neuen Foto leicht graue Haare hatte. Für die hätte man jedoch kein Computerprogramm gebraucht – da hätte es auch ein weißer Edding getan. Das fiel dann auch Herrn Cerne auf, der grummelte, dass da … naja, kein großer Unterschied zu sehen sei, um schnell zum nächsten Punkt überzuleiten: Dietmar Linkes Lache. Die sei nämlich so auffällig, dass man ihn gut daran erkennen könne. Und dann wurde sie eingespielt: die Linke-Lache. Vom Band beziehungsweise vom Computer: fröhliches, ansteckendes, fast pubertäres, glucksendes Vor-sich-hin-Gekicher.

      Der Kriminaler versuchte, ernst zu kucken, und Rudi Cerne tat so, als sei er ein seriöser Moderator. Und ich lachte mit Dietmar Linke um die Wette. So, wie ich eigentlich immer schon bei »XY« gelacht hatte. Und alles war gut.

       Jetzt neu: Das Ego-Deppen-Ticket der DB

      MEIN LIEBLINGSSPIEL IM KINDERGARTEN war: »Mein rechter, rechter Platz ist frei.« Weil man so – »Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir die Sabine herbei« – Menschen, die man attraktiv oder gutriechend fand, zumindest kurzzeitig neben sich platzieren konnte. Um vielleicht ein wenig an ihnen zu schnuppern, auch im übertragenen Sinne. Bis sie von jemand anderem wieder weggewünscht wurden. An einen anderen »rechten Platz«. Das war dann jedes Mal ein kleiner, spitzer Trennungsschmerz ...

      Manchmal gab es beim Spielen auch Streit – weniger darum, wer wo sitzen sollte, als um die Wortwahl. Gewisse Personen behaupteten, das Spiel hieße »Mein rechter, rechter Platz ist leer«. Und der sich reimende Spruch lautete dann: »Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Matze her.« Matze oder Mathias hießen bei uns alle Jungs, die nicht Andreas oder Andi hießen. Oder Thomas. Nur ich hieß Hartmut, aber das ist ein anderes trauriges Thema.

      Manche meiner Mitkinder waren durch den Streit, ob es nun »leer« oder »frei« heißt, so verwirrt, dass sie sich harmoniesüchtig an beide Seiten anbiederten: »Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Matze herbei.«

      Hmm … Ich glaube, damals entstand meine Aversion gegen reimlose Gedichte: Ob Geschenktext oder Hochkultur, Christiane Allert-Wybranitz, Günther Grass oder Durs Grünbein. Für mich alles der gleiche Schmonzes. Wenn man so etwas schon schreiben muss, warum kann man es dann nicht »rhythmisierte Kurzprosa« nennen? Wieso muss da »Gedicht« draufstehen?

      Eine reimlose Gedichtform finde ich allerdings super: das Elfchen. Das Elfchen ist so eine Art Kinder-Haiku. Es besteht aus elf Wörtern: In der ersten Zeile steht ein einzelnes Wort, in der zweiten zwei Wörter, in der dritten drei, in der vierten vier und in der fünften … nein, nicht fünf, sondern wieder ein Solo-Wort. Sonst wäre es ja kein Elfchen, sondern ein Fünfzehnchen.

      Elfchen werden gerne in Grundschulen geschrieben, »creative writing« auf ABC-Schützen-Niveau. Ich hab grade mal gegoogelt und sofort was gefunden, geschrieben von Schülern der Klasse 2a in Harheim/Frankfurt: »Rot / Die Rose / Hat spitze Stacheln / Ich piekse mich daran / Autsch!« Oder: » Rot / Das Rotkehlchen / Es legt Eier / Das Männchen passt auf / Familie!« Dagegen kann man doch weder ästhetisch noch inhaltlich etwas sagen. Vor allem das zweite Gedicht ist z.B. gendertechnisch weit fortschrittlicher als die bundesdeutsche Familienrealität.

      Aber ich bin schon wieder abgeschweift. Also, warum erzähle ich hier von »Mein rechter, rechter Platz ist frei«? Weil dieses schöne Spiel tot ist. Tot und begraben. Denn es gibt in Deutschland keine freien Plätze mehr. Und niemand wünscht sich irgendjemanden neben sich. Weder rechts noch links. Zumindest nicht in Bussen, U-Bahnen oder Zügen der Deutschen Bahn. Betritt man zum Beispiel einen beliebigen ICE-Waggon, stellt man fest: Alle Plätze sind besetzt, egal, wie viele Fahrgäste sich darin befinden, egal, wie viele zusätzlich einsteigen.


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