Revolverhelden auf Klassenfahrt. Hartmut El Kurdi

Revolverhelden auf Klassenfahrt - Hartmut El Kurdi


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und musste aus dem Fußballverein austreten.

      Als ich schließlich pubertierte und sich damit ein weiteres Verbotsfeld auftat, ging ich zunächst kurz in die innere Emigration und desertierte dann endgültig aus der Sekte. Aber meine Mutter blieb beinhart dabei. Bis vor einem Jahr. Seitdem ist alles weg. Deleted. Zum Geburtstag wünschte sie sich Käsekuchen und ein gesungenes »Happy Birthday« und genoss sichtlich unser stolperiges Gratulationsgesummse. Beim Anblick der Schokohäschen und gefärbten Eier im Osternest lächelte sie, als begegnete sie lang vermissten alten Bekannten. Und der zu Weihnachten im Heim aufgestellte Tannenbaum erzeugte bei ihr kein angewidertes Kopfschütteln, sondern nur ungetrübte Freude und die Bemerkung: »Ja, ja, ein Weihnachtsbaum muss sein, sonst ist es ja kein richtiges Weihnachten!«

      Überraschenderweise aber empfindet meine aus einsichtigen Gründen agnostische Seele keinerlei Triumph. Nur echte Verwunderung darüber, wie schnell eine solch fundamentale Veränderung passieren kann. Ein wenig erinnert mich das religiöse Reset meiner Mutter an den Fall des eisernenen Vorhangs. Gestern noch Maiparaden und Trabbis, heute schon Aldi-Nord und Toyota-Vertre­tungen.

      Das einzige, was mich nervös macht, ist die Vorstellung, dass bei mir – sollte ich später mal dement werden – der ganze Zeugen-Jehovas-Schmodder aus meiner Kind­heit quasi im Gegenzug wieder hochkommen könnte. Sollte ich dann mit dem Wachtturm vor Ihrer Tür stehen, denken Sie dran: Ich war zwischendurch auch mal anders.

       Wir ham euch etwas mitgebracht: Hess, Hess, Hess!

      MANCHMAL IST MAN SICH SELBST EIN RÄTSEL. Obwohl mich die klassische schlampig-schlumperige Öko-Ästhe­tik nie angesprochen hat, überrasche ich mich doch immer wieder dabei, in Katalogen irgendwelcher Ökoversandhäuser zu blättern und den Erwerb von dort angebotenen Kleidungsstücken zumindest in Erwägung zu ziehen. Kurios ...

      Wobei man dabei auch Interessantes lernen kann. Zum Beispiel, dass der amorphe und rustikale oldschool Öko-Style gar nicht so schlimm ist – im Vergleich zum halb­anthroposophischen, spießigen Öko-Businessschick des modernen, gutverdienenden Mittelschichtakademikers, wie ihn zum Beispiel »Hessnatur« anbietet.

      Am widerlichsten in diesen Katalogen sind die Models, wobei mich selbstverständlich nicht die Künstlichkeit der professionellen Damen und Herren stört – das ist ja sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal dieses Berufsstandes –, sondern grade die gefakte »Natürlichkeit«, die ihnen dort verpasst wird.

      Vor allem die Damen sehen einen wohlkalkulierten Tick unfrisierter und weniger geschminkt als im herkömmlichen Versandhaus-Katalog aus, dabei aber immer porentief rein, slipeinlagengewindelt, mit gewienerten und glänzenden Bäckchen, gerne auch mal mit keltisch rotem Haupthaar. Aus irgendeinem rätselhaften Grund gilt echtrotes Haar, wenn’s geht auch noch naturgelockt, wohl als besonders ökologisch. Nur alt dürfen die weiblichen Models auch hier nicht sein. »Öko« und »bessere Welt« hin oder her – alte Frauen sind wohl auch für die kapitalistischen Mode-Wollsocken von »Hessnatur« nicht diskutabel beziehungsweise – sagen wir, wie es ist – fuckable. Denn nur darum geht es ja im Model-Geschäft – um sexuelle Attraktivität.

      Bei den Herren ist das, wie überall in der Gesellschaft, offensichtlich anders. Hier mogelt »Hessnatur« auch mal einen Silberrücken unter die juvenilen, muskulösen Naturburschen. Wobei der alte Sack – auch dies dem gesellschaftlichen Trend entsprechend – genauso aussieht wie die Jungen, nur eben mit grauem Haar – das aber nicht weniger voll und casual-mähnig ist als das der Twen-Models.

      Ganz anders ist dies alles bei meinem Lieblingsökoversand, der eigentlich kein Ökoversand ist, sondern eine Schäfereigenossenschaft aus dem Allgäu. Wenn ich es dem Katalog richtig entnehme, wurde der »Finkhof« irgendwann Ende der 70er Jahre als Aussteigerkommune und Wohngemeinschaft von Mensch und Schaf gegründet und ist inzwischen ein erfreulich florierendes Unternehmen.

      Aber noch immer werden hier die alten Werte hochgehalten, zumindest ästhetisch, wahrscheinlich aber auch sonst. Die Kleidung wird im Katalog größtenteils von auf dem Hof arbeitenden Menschen präsentiert, der Rest der »Models« scheinen dazu engagierte Freunde, Nachbarn oder Zufallsbekanntschaften zu sein.

      Von Frisuren im herkömmlichen Sinn kann im »Finkhof«-Katalog nicht gesprochen werden, den Menschen wachsen eben Haare aus dem Kopf, mal in die eine Richtung, mal in die andere – und manchmal auch gar nicht mehr.

      Bei der Unterwäsche-Präsentation fasziniert die vollkommene Abwesenheit der in diesem Bereich eigentlich schwer vermeidbaren Erotik, was nicht nur an den mäßig erregenden Produkten wie der langen Herren-Wollseide-Unterhose »mit Eingriff« liegt. Auch der »Blaue Damenpanty« und der »Rote Wollslip« werden erstaunlich keusch und unsexualisiert präsentiert. Das Höchste an Emotionalisierung ist ein romantisierendes Gegenlicht-Foto.

      Dafür aber wird viel gelächelt auf den Bildern – und zwar das bekannte amateurhafte »Huch, ich werde ja fotografiert«-Lächeln. Auch Falten, graue Haare, Bauchansätze und sogar einen 1A-Siebziger-Retro-Schnauzbart gibt es. Was will man mehr?

      Ich muss allerdings gestehen, dass ich auch beim »Finkhof« nur selten etwas bestelle, weil die Einsatzgebiete für diese Art der Mode außerhalb des Allgäus doch etwas begrenzt sind. Wobei: Vor Jahren erwarb ich dort eine Schaffellweste, die so großartig warm ist, dass sie ruhig scheiße aussehen darf. Egal, ob unter einem dünnen Jöppchen oder zur Erwärmung meines verspannten Rü­ckens – diese Weste ist unschlagbar. Als sie mir einmal abhanden kam, bestellte ich eine neue, die just ankam, als meine Freunde Wolfram und Ulrike mit ihrem Border Collie Abby zu Besuch waren. Die neue Weste stank so unglaublich nach Schaf, dass der arbeitslose Hütehund mich erst verstört anbellte und dann versuchte, mich ins Badezimmer zu treiben. Ich vermute zum Scheren ...

       Das Gejammer der Doofmenschen

      LANGE HABE ICH NICHTS MEHR vom Ungeheuer von Loch Ness gehört. Vielleicht, weil es das drollige, langhalsige Monster Nessie gar nicht gibt? Wer weiß, da könnte ein Zusammenhang bestehen. Aber nicht zwingend. Es gibt ja auch andere Phänomene, die nachweislich nicht existieren, aber ständig aus den medialen Sommerlochs und -löchern auftauchen.

      Die beliebteste Legende der letzten Jahre ist die von der Existenz eines funktionierenden Denk- und Sprechverbots namens »political correctness«. Man könnte nun lange über die Geschichte und Wirkung dieses Begriffes im Ursprungsland USA referieren, aber dafür gibt’s ja das Internet. Empfehlenswert sind vor allem einige kluge Artikel, die Diedrich Diedrichsen darüber geschrieben hat.

      Aber reden wir lieber über die angebliche politische Korrektheit in Deutschland: Kaum wird eine politische oder publizistische Krawallschachtel wie Hans-Olaf Hen­kel wie Thilo Sarrazin öffentlich kritisiert, sitzt der emeritierte Geschichtsprofessor und hauptberufliche Quatsch-Prediger Arnulf Baring – ein alter, erstaunlich schlecht erzogener Mann ohne jegliche Manieren und Stil – in der nächsten Talkshow und prangert in komplett wirren und entgrenzten Monologen die linke Zensur in Deutschland an. Lustig daran ist, dass der hemmungslose Greis sich dabei benimmt, als wolle er selbst gerne jeder Person, die nicht Arnulf Baring heißt, das Reden verbieten. Wer auch immer in der Runde sitzt: Baring bellt sie alle an wie ein wütender Dackel mit Tourette. Und dennoch wird er regelmäßig in solche Sendungen eingeladen. Wie auch der albern-schnöselige Jan Fleischhauer vom Spiegel, der es für konservativ hält, zu eng sitzende, wurstpellenartige Tweed-Sakkos zu tragen.

      Eingeladen wird Fleischhauer, weil er unter dem unglaublichen Trauma leidet, in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von Sozialdemokraten großgezogen worden zu sein und sich dieses Elend in einem Buch (»Unter Linken: Von einem, der aus Versehen konservativ wurde«) von der Seele geschrieben hat. Außerdem verfasst er auf Spiegel-online die verschwörungstheoretische Kolumne »Der schwarze Kanal«. Aber egal in welchem Medium: Fleischhauers Lebensthema ist die angebliche Existenz einer linken Medien- und Kultur-Hegemonie in Deutschland. Ach Gottchen, möchte man angesichts all der Neokonservativen und Unpolitischen in diesem Gewerbe seufzen, schön wär’s.

      Tatsächlich ist es aber seit einiger Zeit sogar hip, herumzukrakeelen, man sei aus Überzeugung »politisch unkorrekt« und spreche


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