Revolverhelden auf Klassenfahrt. Hartmut El Kurdi

Revolverhelden auf Klassenfahrt - Hartmut El Kurdi


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auf das Gastronomie-Servicepersonal bestaunen. So wartet man mitunter schon einmal eine halbe Stunde auf sein Heißgetränk oder muss es drei Mal bestellen, weil man von der selig grinsenden männlichen Bedienung drei Mal freundlich gefragt wird, ob man schon bestellt hat. Aber hey: Wenn ich schnell einen Kaffee will, trink ich ihn zuhause. Wenn ich rausgehe, möchte ich etwas geboten bekommen. Lindener Alltags-Entertainment.

      Wobei zwischen den ganzen Künstlern, Irren, Exzentrikern, Multikulturalisten und verstrahlten, dreadlockigen, veganen Studenten und -innen ja erstaunlich viele »Normalos« jedes Aggregatzustands und Milieus leben, die aber in Linden offensichtlich auch gut klarkommen. Aber vielleicht ist der Normalo auch gar nicht normal beziehungsweise wird sich durch das kuriose Umfeld seiner eigenen Besonderheit bewusst. Und fügt sich so wunderbar ins Geschehen ein. Ganz im Sinne Rio Reisers: »Ich bin anders, weil ich wie alle bin und weil alle anders sind.«

      Das »Besondere« und »Andere« an Linden und den Lindenern ist ja nicht, dass sich hier alle lieb haben, kein Multikulti-Eiapopeia, kein gruppenübergreifendes Händchenhalten, sondern dass die Menschen, die hier wohnen, offensichtlich absichtlich hier wohnen. Die wollen hier sein. Freiwillig.

      Und deswegen lassen sie sich auch in der Regel gegenseitig in Ruhe, was eine große Qualität darstellt. Manche sind sich dieser Qualität nicht einmal bewusst und besitzen sie trotzdem.

      Neulich regte sich mal wieder ein »gebürtiger Lindener« – wie er betonte, wohlgemerkt aus dem alternativen Milieu – mir gegenüber auf, dass es hier schon lange nicht mehr so wäre wie einst. Es handelt sich dabei nicht um eine Klage über die Gentrifizierung, ganz im Gegenteil. Ihm gingen eher die Umsonst-Ritter und Tagesfreizeitaktivisten auf die Nerven. Und der Dreck nach dem 1. Mai. Nun habe ich noch in den 70ern und 80ern gelernt, was man in Deutschland sagt, wenn sich jemand über die hiesigen Verhältnisse beschwert. Ich sagte also: »Geh doch nach drüben!«, und meinte damit die List, die Südstadt oder andere Gegenden in Hannover, wo es sich sicher ruhiger leben lässt, die Straßen sauberer sind und nicht so viele Leute mit Bierflasche in der Hand als Ausgeh-Accessoire herumlaufen. Mein Gesprächspartner schaute mich verstört an. Er sagte, ja, er hätte schon mal über die Nordstadt nachgedacht, aber irgendwie ... Und ich spürte, dass er eigentlich meinte: »Was soll ich denn woanders?«

      Klar war: Da bleibt er doch lieber hier und meckert ab und zu vor sich hin. Denn natürlich lässt er die Leute, die ihm anscheinend so auf die Nerven gehen, ansonsten auch in Ruhe. Weil sich das einfach so gehört. Das Lindender Credo lautet: Man kann alle doof finden, aber solange niemand direkt in mein Leben eingreift, greife ich auch nicht in andere Leben ein. Und das ist tatsächlich eine erstaunlich urbane, großstädtische Haltung.

      Dafür und deswegen habe ich mich in Linden verknallt. Kurzzeitig dachte ich, ich müsse meine Geliebte verlassen. Nachdem mir vor einiger Zeit eine Kündigung ins Haus flatterte, hatte ich erfolglos nach einer neuen Wohnung in Linden gesucht. Und nichts gefunden. Linden war es wohl egal, diesem promisken Flittchen. Die hat ja viele andere. Nur mir hätte es wehgetan. Aber kurz bevor ich einen Mietvertrag für die Nordstadt unterschreiben wollte, fand sich doch noch was. Also machen wir weiter miteinander rum. Noch sind wir übrigens beim Knutschen. Bald kommt Petting. Ich freu mich schon.

       Zu fett für Fair Trade

      JE OFFENSICHTLICHER ES WIRD, dass Politik nicht von Politikern gemacht wird, noch nicht einmal von einzelnen fetten Wirtschaftsbossen mit Zigarre und Melone auf dem Kopf (wie sie gerne auf Karikaturen aus den Zwanzigern dargestellt wurden), sondern von den ominösen, unfassbaren »Finanzmärkten«, desto lustloser wird man und gibt sich dem Modesport »Politikverdrossenheit« hin. Irgendeiner von diesen Zumutungen, die sich da einem als »Parteien« vorstellen, seine Stimme zu geben, erscheint zusehends sinnloser.

      Wenn man zum Beispiel keine verlogenen Kriege führen will und meint, dass eine etwas fairere Gesellschaft und mehr demokratische Beteiligung doch möglich sein müsste – dann wählt man eine von den Parteien aus dem vermeintlich linksliberalen Spektrum, nur um hinterher festzustellen, dass auch die, kaum sind sie an der Macht, Soldaten in Kriegseinsätze schicken, Sozialkürzungen vorantreiben, irre unterirdische Maulwurfsbahnhöfe bauen oder die Idee einer gerechten Schule für alle schnell mal wieder kippen – weil die Sachzwänge und Bündnisverpflichtungen das angeblich so verlangen oder weil sie Angst vor ihren eigenen Bildungsbürger-Wählern haben, die ihre Kinder nun mal auf Gymnasien schicken wollen, weil sie selbst ihr lächerliches bisschen Bildung da erworben haben.

      Will man aber trotzdem politisch nicht aufgeben, stellt sich die Frage: Was tun? Wenn der Kapitalismus die Menschen nur als Konsumenten ernst nimmt, muss man eben als Konsument politisch agieren. Das heißt: keinen Scheißdreck mehr kaufen, der die Natur kaputt macht, Menschen ausbeutet oder die Infrastruktur von kleinen Läden um die Ecke zerstört. Also auf Ökostrom umstellen, beim inhabergeführten Bioladen oder beim Tante-Emma-Türken kaufen, beim richtigen Bäcker statt in der »Back-Factory« etc. pp.

      Man muss ja nicht gleich zum Komplett-Ghandi werden, aber wenn man ein bisschen drauf achtet, geht in der Regel eher mehr als weniger. Und wer jetzt behauptet, dass könnten doch nur die wohlhabenden Gutmenschen, ist in der Regel ein wohlhabender Doofmensch: Keiner nimmt einem Harz-IV-Empfänger das Einkaufen beim Discounter übel, aber die Hälfte der Gesellschaft, die ordentlich verdient, könnte schon einiges erreichen, wenn sie auf ökologische und soziale Mindeststandards beim Konsumieren achten würde. Das wäre doch mal ein Elite-Begriff, der einen Sinn hätte.

      Soweit die Theorie und die etwas zu lange Einleitung für meine im Titel schon angedeutete Wehklage. Werden wir konkret: Da ich aus oben erwähnten Gründen keine Lust mehr habe, Klamotten zu tragen, die von grotesk unterbezahlten Menschen unter gesundheits- und umweltschädlichen Bedingungen in Zwölf- bis Sechzehnstunden-Schichten hergestellt werden, dachte ich mir: Kaufste mal Fair-Trade-Kleidung.

      Die gute Nachricht ist: Da gibt es inzwischen eine ganze Menge hübscher Dinge. Und wenig davon sieht aus, als müsse man sich beim Kauf zu einem afrikanischen Trommelkurs oder einem Tantra-Wochenende verpflichten. Jetzt aber zum Elend: Okay, ich gebe zu, ich bin nicht der Allerschlankeste (zumindest zur Zeit nicht, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt), aber es kann doch nicht sein, dass es fast unmöglich ist, eine Fair-Trade-Hose oder einen Fair-Trade-Kapuzenpulli (unter uns Berufsjugendlichen »Hoodie« genannt) zu bekommen, die/ der einem leicht amöbigen Mittelmops wie mir passen. Normalerweise kann ich mich sogar in »L« grade noch so – mit ein bisschen Baucheinziehen – hineinmorphen, aber spätestens in handelsüblicher »XL«-Kleidung kann ich entspannt durchatmen, mich bücken, Ausdruckstanz betreiben; ich könnte sogar noch wärmende Ski-Unter­wäsche drunter ziehen, wenn ich sowas besäße. Nicht so bei Fair Trade.

      Oft gibt es es gar kein »XL«, und wenn man dann aus Verlegenheit »L« anprobiert, fragt man sich, ob Fair Trade nur etwas für bulimische Teenie-Topmodel ist. Aber selbst, wenn es »XL« gibt, passe ich nicht hinein. Bei einem Bremer Fair-Trade-Versand bestellte ich einen todschicken Hipster-Hoodie doppelt, einmal in »XL« und einmal in »XXL«, in der Hoffnung, dass mir wenigstens die vermeintliche Reiner-Calmund-Größe passen könnte. Was soll ich sagen: XL war perfekt für meine schlanke, großgewachsene vierzehnjährige Tochter, ich aber sah in »XXL« aus wie Peter Altmann im Gymnastikanzug.

      Liebe politisch korrekte Textilhändler: Habt ihr sie eigentlich noch alle? Wollt ihr mich bewusst demütigen? Gelte ich mit meinen dezenten Rettungsringen bei Euch schon als nicht einkleidbare Speckwurst? Bin ich wirklich zu fett für Fair Trade? Ich bitte um eine nicht verletzende Antwort ...

       Deutschland.

       Ein Hitlermärchen

      EIN FREUND ERKLÄRTE MIR NEULICH, nun sei er soweit, sich »Deutschland. Ein Sommermärchen« von Sönke Wortmann anzutun. Denn erst jetzt, mit dem Abstand von mehreren Jahren, könne man das groteske Propaganda-Machwerk über die Bundesjugendspiele 2006 endlich mit Humor würdigen, weil sich der nationalbuddhistische Messias Klinsmann auch in der öffentlichen Reflektion wieder in den kieksenden, schwäbischen Hanswurst zurückverwandelt habe, der er schon immer gewesen sei. Da gelte nach wie vor das Woody-Allen-Diktum »Komödie ist Tragödie plus


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