Revolverhelden auf Klassenfahrt. Hartmut El Kurdi

Revolverhelden auf Klassenfahrt - Hartmut El Kurdi


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Unterhaltungselektronik, Mäntel, Jacken, Reptilien ... Und die ignoranten Sitzplatzinhaber tun so, als bemerkten sie die Sitzplatzsuchenden nicht. Oft muss man sie auf den Kopf hauen oder ihnen unsanft die mp3-Hörer aus den Ohren zutzeln, damit die Frage: »Ist der Platz frei?« überhaupt einen Adressaten beziehungsweise Empfänger findet.

      Neulich sah ich jemanden, der auf dem Platz neben sich einen mittelgroßen schwarzen Plastikwürfel abgestellt hatte. Für einen orthopädischen Bandscheibenblock aus dem Sanitätshaus zu klein, für ein Kinderspielzeug zu groß. Es war klar: Dies war ein einzig zu diesem Zweck entworfener und hergestellter Platznebensichblockierer. Im Manufaktum-Katalog wahrscheinlich auch in »Erle Natur« oder »Bakelit« zu bestellen.

      Denn das fällt auf: Oft ist es die akademische Laptop- und Tablet-Mittelschicht, die anderen die Sitzplätze zumüllt. Statt einfach 1. Klasse zu fahren, wenn sie es denn geräumiger und leerer haben wollen. So geschäftig, wie die tun, müsste es dazu doch reichen.

      Aber vielleicht ist das ganze Phänomen auch nur ein von mir unbemerkt gebliebenes Spar-Angebot der Bahn: das günstige »Ego-Deppen-Ticket – einen Platz bezahlen, zwei blockieren!« Zumindest würde das zum geis­teskranken Gesamtkonzept der Bahn passen, dessen innere Logik man nur noch verstehen kann, wenn man sich von der äußeren Logik dieser Welt verabschiedet. Für immer.

       Die Leute von der Ossi-Ranch

      VIELE MENSCHEN FÜHREN PARALLEL-EXISTENZEN. Weil ein einzelnes Leben oft nicht genug ist. Aber nicht alle Zweitleben sind so verstörend, wie die der fast schon sprichwörtlichen Politiker und Manager, die sich abends von gelangweilten Dominas die Harnröhre mit drahtigen Pfeifenreinigern durchbürsten lassen, weil man das offensichtlich braucht, wenn man selbst den ganzen Tag Untergebene anschreit.

      Meine Parallel-Existenz ist viel zivilisierter, aber mitunter doch prickelnd bizarr. Sie besteht darin, dass ich mit einer postmodernen, freundlich-ironischen Countryband durch die Lande ziehe und Orte aufsuche, where no man has gone before. Zumindest »no man« ohne Stetson und Cowboy-Boots.

      Wichtig ist dabei, dem Country-Universum stets mit Neugierde und nie mit Hochmut zu begegnen. Das bürgerliche Dasein ist viel zu langweilig, als dass ich es nicht zu schätzen wüsste, wenn Menschen auf so sympathisch durchgeknallte Ideen kommen wie z.B. in eine Lagerhalle mitten in einem niedersächsischen Gewerbegebiet einen kompletten Western-Saloon einzubauen und dort defizitäre Country-Konzerte zu veranstalten.

      Von außen denkt man: Oh, der Schuppen gehört bestimmt einem Serienmörder, der darin Frauentorsi stapelt, dann aber tritt man durch die Tür – und es ist wie bei »Alice im Wunderland«. Man steht mitten in einer Märchenwelt: Die Industrie-Blechwände sind von oben bis unten im Blockhausstil holzverkleidet, Pferdehalfter über­all, vor der Bühne stürzt ein künstlicher Wasserfall von der Wand und pünktlich um 20 Uhr taucht der örtlichen Line-Dance-Club auf, schreit »Yehaaw!« und positioniert sich tanzbereit vor der Bühne. Und die Band ist glücklich, weil sie eine praktische Aufgabe hat und nicht bloß l’art pour l’art produziert.

      Am gleichen Abend – passend zur vierzehnten TV-Wie­derholung von »Brokeback Mountain« – erscheinen dann noch zwei überraschend homosexuelle Cowboys, wippen erfreut zu unserer langsamen »tear-jerker«-Ver­sion von YMCA und machen beim Aftershow-Bier klar, dass sie nur zu gerne zwei bis vier Bandmitglieder mit nach Hause nehmen würden. Und während man das Angebot zum erotischen Herren-Rodeo möglichst höflich ablehnt, freut man sich, dass die Welt nicht so eindeutig ist, wie sie oft erscheint.

      Schön ist es auch, wenn man freitags im Prenzlauer Berg in einem Rock-Club von gepiercten Jung-Hedonis­ten ob des humoristischen Ansatzes bejubelt wird und am nächsten Tag als Höhepunkt des Sommerfestes eines todernsten ostdeutschen Western-Vereins spielen darf. Auf diesem Fest – das auf einem ehemaligen NVA-Gelände stattfindet – sind alle verkleidet: so weit das Auge reicht nur Hüte, Staubmäntel und Western-Petticoats. Natürlich wird man dort wegen des abends zuvor gefeierten Ironieanteils misstrauisch beäugt. Und dann erfährt man auch noch, dass der Verantwortliche für die Auswahl der Band seine stattliche Country-Vokuhila-Frisur (in Amerika heißt diese Haartracht übrigens »Tennessee Waterfall«) für uns verpfändet hat: »Jungs, wenn die eure Musik Scheiße finden, dann muss ick mir’n Kopp rasieren. Dit is der Deal!« So bangt man das komplette erste Set um die Haare des Veranstalters und hofft, dass die Colts, die die Ost-Cowboys mit sich herumtragen, nicht vielleicht doch echt sind. Und es regnet. Und das Konzert ist Open Air.

      Grade als man beschließt, noch schnell alle backstage in einem Oster-Körbchen dekorierten Kirschbrände und Mini-Pflaumenschnäpse (»In eurem Vertrag steht doch, ihr wollt’n Obstkorb in der Garderobe!«) auszutrinken und dann heimlich in der Konzertpause zu türmen, fängt es an, dem Publikum zu gefallen. Wieder wird gelinedanced, dass das Stiefelleder kracht. Hinterher im NVA-Sa­loon wird man selbst auf die Tanzfläche gezerrt. Nach diversen Jim Beams dann Geständnisse: »Erst hamwer jedacht, ihr seid arrogante Wessis, aber ... aber jetzt seid ihr doch echte Kumpels!« Und dann wird’s irgendwie noch nett.

      Zum Abschluss steht dann ein kleiner Mann mit Schlapphut vor einem und sagt: »Ick bin Festus Junior uss Berlin, ick steh uff New Country und FKK«, und man schaut ihm ins Gesicht und versteht sofort, warum er sich ausgerechnet diesen Kampfnamen ausgewählt hat.

      Am nächsten Morgen wacht man auf, nimmt eine Hand voll Aspirin und fährt zurück in die wirkliche Welt, wo ein Mann selten noch das tut, war er tun müsste ...

       Gott ist Zigaretten holen

      WENN DIE EIGENE MUTTER in die Demenz abrutscht und ins Heim muss, hält sich die Komik dieses Vorgangs, gelinde gesagt, in Grenzen und ist daher vielleicht auch nur bedingt kolumnentauglich. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass eine solche Kolumne nicht ernst gemeint ist. Nur weil sie überwiegend humoristisch daherkommt. Da ich aber schon immer der Meinung war, dass man die wichtigen Themen, egal ob sie politisch, kulturell oder einfach nur menschlich sind, nicht den literarischen Bedeutungshubern und Stirninfaltenlegern, also den allseits bekannten Ernsthaftigkeits-Darstellern überlassen darf, muss man auch über ein solch persönliches Ereignis schreiben. Sicher bin ich mir da allerdings nicht, aber wie sollte man das auch sein?

      Mal abgesehen davon, dass es die kleinen überraschend komischen und absurden Momente tatsächlich ja auch gibt, wenn Muttchen zum Beispiel berichtet, dass sie am Vormittag »weg« gewesen sei. »Wo warst du denn?«, fragt man interessiert nach und erwartet eine Antwort wie »Bei der Krankengymnastik« oder »Beim Kartenspielen im Speisesaal«. Sie aber denkt kurz nach und sagt dann bestimmt: »In Palästina!«

      »Aha«, nickt man und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. »Und was hast du in Palästina gemacht?«

      Sie überlegt wieder einen Augenblick. »Nix, ich war da so. Mit ein paar Leuten.«

      »Und zum Mittagessen warst du wieder hier?«

      »Klar, was denn sonst? Es gab doch Würstchen!«

      Und obwohl man es erst nicht will, muss man dann doch lachen. Und vermutlich ist das in Ordnung, aber auch dabei fühlt man sich wackelig auf den Beinen ...

      Ansonsten ist man vor allem verblüfft, dass im mensch­lichen Gehirn bestimmt Areale genauso gelöscht werden können wie auf einer Computerfestplatte. So erinnert sich meine Mutter an ihre Kindheit in Oberhessen, an ihre Jahre in Jordanien – und das war’s. Sowohl ihr Leben im 60er-Jahre-England wie auch ihre letzten Jahrzehnte in Kassel – im Nebel eines Schlaganfalls verschwunden. Was vor allem verschwunden ist – und das hat bei aller Tragik doch etwas mild ironisches – ist die Erinnerung an die von ihr in den letzten vierzig Jahren gnadenlos ausgeübte Hardcore-Religion.

      Meine Mutter trat nämlich Anfang der 70er Jahre den Zeugen Jehovas bei. Und ich wurde mitbeigetreten. Fortan feierten wir weder Geburtstag noch irgendeins der anderen üblichen, im Verständnis der Sekte nur pseudochristlichen, eigentlich ja durch und durch »heidnischen« Feste wie Weihnachten oder Ostern. Es gab keine Blutwurst mehr zu essen, meine Mutter hörte mit dem Rauchen auf, entließ ihren ungläubigen Freund – und selbst ich als kleiner Junge musste von Tür zu Tür


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