Im Kessel brummt der Bürger King. Joe Bauer

Im Kessel brummt der Bürger King - Joe Bauer


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alle gemeinsam: »Die Gedanken sind frei.«

      Das gefiel mir. Gedanken sind frei, sie fliegen und stürzen ab, bis eines Tages vielleicht die Stadt erwacht. Die Nacht brach herein, ich fuhr noch eine Weile mit der Straßenbahn herum und ging ein Stück zu Fuß, um mir die Zeit zu vertreiben, als ich auf dem Weg zum Neckartor an einer Hauswand die Werbung einer Fluggesellschaft sah: »Nonstop vom Städtle ins Weltstädtle«.

      Fast immer wenn mich die schwäbische Verkleinerungsform grüßt, erleide ich einen Schluckauf. Obwohl selbst ein gelernter schwäbischer Kleingeist, kommt es mir hoch, sobald ich am Schwanz eines Wortes die erzwungene Endung »le« höre. Das gilt selbstverständlich nicht für den Bäcker Schmälzle, für Herrn Häberle oder den alten Freund Karle. Doch bis heute bin ich dem schwäbischen Kabarettisten Uli Keuler dankbar, dass er einst die Diminutiv-Trottel vorführte, indem er ihr »Ländle« im entlarvenden Ton der Möchtegerne aussprach: »Lönd-lö«.

      Mit Ländle ist das auch in unserer Gegend nicht unbekannte Bundesland Baden-Württemberg gemeint. Leider aber wird das entwürdigende Unwort »Ländle« nicht nur von den Kreisklassekomikern der auswärtigen Medien benutzt. Das dackelhafte lö dient auch im eigenen Stall zur folkloristischen Hinrichtung des Selbstwertgefühls.

      Sei’s drum. »Ländle« ist nicht mehr aus dem Sprachgebrauch zu tilgen. Dieser Kampf ist verloren, ich weiß. Dass aber ein weiterer idiotischer Diminutiv-Begriff kursiert, kann nicht straffrei durchgehen: Es handelt sich um das Städtle. Die verschwäbelte Städtle-Leier klingt nach dem Geist der Mäulesmühlö, der kulturellen Hochburg der SWR-Unterhaltung.

      Vor allem junge Menschen, vorzugsweise die Content-Apostel am Lifestyle-Counter, gebrauchen das Dummwort Städtle, sobald sie die Bars der Theodor-Heuss-Straße heimsuchen oder bei Breuninger Calvin-Klein-Unterhosen kaufen. Keiner hat diesen naiven Nachäffern gesagt, wofür der Begriff Städtle in Wahrheit steht – nämlich für die Stuttgarter Altstadt bzw. den traurigen Rest, der von ihr übrig geblieben ist.

      Ging ein erfahrener Mann einst ins Städtle, landete er zwischen Charlotten- und Wilhelmsplatz, zwischen Hauptstätter Straße und Olgastraße. Oder er tauchte ein in die Stripper-Buden-Kulisse der Vereinigten Hüttenwerke, wo heute das hässliche Schwabenzentrum steht, diese Ausgeburt obszöner Stuttgarter Stadtplanung. Genau genommen diente der Begriff Städtle einst als Kosenamen für das Rotlichtmilieu. Das klang ehrenvoller und origineller als Strich oder Gosse, zumal das Stuttgarter Städtle früher als subkultureller Kiez mit einer eigenen Sprache und den Relikten sportlicher Fairness halbwegs Respekt verdiente.

      Das heutige Sprach-Babylon in den Köpfen ist leicht zu erklären: Die Altstadt mit ihren geplagten Huren des Elends ist nicht mehr als urbanes Zentrum der Stadt im Bewusstsein der Menschen. Die Politiker und ihre Verwaltung lassen das Quartier seit Jahrzehnten verkommen, kümmern sich weder um Bausubstanz noch um Denkmalschutz. Die architektonische Psychologie des Viertels ist zerstört. Ein Jammer.

      Viele alte Häuser wären erhaltenswert. Teilweise gehen ihre Ursprünge zurück bis ins 15. Jahrhundert. Es gibt eine lange Liste mit Kulturdenkmälern aus Gotik, Barock, Klassizismus, Jugendstil.

      Die liebevolle Bezeichnung Städtle galt früher der Altstadt, unserer heute vergessenen City. Vor diesem Hintergrund ist es Hochstapelei und Propaganda, im Investorenwahn geplante Konsumkästen wie an der Tübinger Straße als »neue Mitte« auszurufen. Das Städtle – mit dem Bohnenviertel, dem Leonhardsviertel und den Resten auf der anderen Seite der Stadtautobahn – wäre immer noch in der Mitte der Stadt, nämlich im Herzen vieler Stuttgarter, würde es nicht behandelt wie eine Quarantäne-Station für Abgeschriebene und Unerwünschte.

      Es ist hoffnungslos. Wenn heute Reklame-Typen die Fluglinie Stuttgart–New York mit dem Spruch »Vom Städtle ins Weltstädtle« verkaufen, haben sie, ohne es zu ahnen, den weltweiten Einfluss der schwäbischen Sprache entdeckt. Auch die Amerikaner pflegen mit Hochachtung Verniedlichungswörter mit der Endung le. Ich kenne eins. Es heißt asshole. Zu deutsch: Arschlöchle.

      Gedanken sind frei.

      Im Hause Zimmermann

      Ahnungslos stiefle ich an einem trägen Julitag 2012 durch das Leonhardsviertel und die Weltgeschichte, bis ich den Wirt Heinrich Huth vor seiner Kneipe treffe. Heinrich, 49, ist ein stattlicher Mann mit Zopf und Bauch. Seit zwölf Jahren führt er die Jakobstube. Er nennt sie ein »unverfälschtes Stück Altstadt«. Der Schwulen-, Damen- und Barhockertreff in der Jakobstraße 6 ist gut für einen Absacker, ob am Tag oder in der Nacht spielt keine Rolle.

      Eine Milieukneipe für zwei Dutzend Gäste, raumgreifend die Theke, auffälligste Dekoration zwei Spielautomaten. Früher war in den Räumen des Lokals eine Wäscherei. Die Chefin war Frau Kötzle, sie kümmerte sich um die Garderobe der Altstadt-Jungs und gab im Notfall Kredit. Neuerdings dürfen die Gäste der Jakobstube auch vor der Tür Platz nehmen. Zehn Jahre lang habe er bei den Ämtern für die Straßenbestuhlung gekämpft, sagt Heinrich. Er hat nicht aufgehört zu kämpfen. Bis heute hat er den Traum, die Altstadt könnte eines Tages ein buntes, lebenswertes Quartier werden. Zufall, dass wir an diesem heißen Sommertag vor der Jakobstube plaudern. Es gibt immer viel zu diskutieren im Rotlicht, und Heinrich kennt sich aus. Er weiß, wer die übelsten Häuser in der Nachbarschaft besitzt, welcher politischen Partei die Herrschaften angehören, und er hat nachgeforscht, was es mit dem Gebäude der Jakobstube auf sich hat.

      In dem Haus in der kleinen Fußgängerzone zwischen Leonhardsplatz und Weberstraße wurde am 2. Januar 1807 Balthasar Friedrich Wilhelm Zimmermann geboren. Keine Tafel, nichts erinnert an ihn. Vielleicht, sagt Heinrich, habe man den Mann bewusst vergessen, weil er ein radikaler Demokrat gewesen sei. Wilhelm Zimmermann war ein schwäbischer Dichter und Historiker, protestantischer Theologe, Doktor der Philosophie. Er schrieb Dramen, Novellen, Gedichte und veröffentlichte die berühmte »Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges«. In Stuttgart besuchte er – zusammen mit seinem Freund Eduard Mörike – das Gymnasium Illustre, heute Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Während der Revolution von 1848/49 wurde er im Wahlkreis Schwäbisch Hall als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung der Paulskirche gewählt; er zählte zur aufrechten Linken. Kurz darauf zog er mit großer Mehrheit für den Wahlkreis Schwäbisch Hall in die verfassungsgebende württembergische Landesversammlung ein.

      Auf diese Dinge kommt der Spaziergänger in der Altstadt, bei einem Plausch mit Heinrich, geboren und aufgewachsen in Heidelberg. Es gibt in Stuttgart seit 1907 auch eine Zimmermannstraße, zwischen Olga- und Alexanderstraße. Um etwas über den Namensgeber zu erfahren, braucht der Flaneur eine detektivische Ader. Gegen ein Schild mit der Aufschrift »Wilhelm-Zimmermann-Straße« hat entweder die Stuttgarter Schildervorschrift oder die knappe Kasse gesprochen, so dass wir auf diesem Weg nicht über den Dichter stolpern.

      Wilhelm Zimmermanns Geburtsstätte in der Jakobstraße 6 wurde zwischen 1700 und 1750 erbaut, als Barockhaus ist es ein Kulturdenkmal ersten Ranges. Vielleicht reicht ja die Stuttgarter Schilderverordnung aus, dem Dichter (er starb 1878) eine Erinnerungstafel zu widmen. Das würde nicht nur Heinrich freuen. Sollte das zu viel verlangt sein, bleibt uns ein Ausflug zur Wilhelm-Zimmermann-Gedenkstätte in Dettingen an der Erms.

      Vielleicht aber wird auch das Stuttgarter Haus des toten Dichters eines Tages an einen großen Sohn der Stadt erinnern. In den guten Zeiten der Altstadt war es üblich, Kollekten zu organisieren, wenn einer der Jungs aus dem Viertel hinter Knastmauern wanderte. Heinrich hat beschlossen, etwas Kohle für den Freiheitskämpfer Wilhelm Zimmermann zu sammeln. Ein Erinnerungsschild an dessen Geburtshaus wäre ein kleines Zeichen gegen die Betonköpfe im Rathaus.

      Das Schweigen der Lämmer

      Das Baby in meinem Waggon schrie, als wäre sein Leben verwirkt. Das Baby sah frisch aus, so gut wie keine Kopfhaare, vermutlich war es vorhin erst im fahrenden Zug geboren worden, ungefähr bei Kassel. Ich kenne mich nicht gut aus in diesem Geschäft. Bei meiner Art Nachwuchsarbeit ist bis heute nichts Zählbares herausgekommen.

      Ich habe davon gehört, Babys schrien vor Schmerz, wenn sie Zähne bekämen, ihre ersten. Das Baby in meinem Waggon hörte sich an, als bräche sein erster Stoßzahn durch den Kiefer. Aber kein Mensch hört hin, wenn ein Baby beim Halt in Fulda schreit. Viele schreien sich an dieser Station den Frust von Fulda von der Seele.


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