Im Kessel brummt der Bürger King. Joe Bauer

Im Kessel brummt der Bürger King - Joe Bauer


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Dinge in meinem Leben bei Fulda passiert. Einmal habe ich im Bahnhof Fulda aus dem Fenster gesehen und den Slogan der Stadtwerbung auf einer Bahnsteigtafel gelesen: »ideal zentral«. Fulda. Da war mir alles klar. Es war wie damals, als der Intercity noch in Böblingen hielt.

      Ich war guter Dinge auf dieser Reise, konnte nicht ahnen, dass Fulda an diesem Tag noch mehr auf Lager hatte als ein Elefantenbaby. Das Drama begann, als sich die Mutter anschickte, ihr Baby mit großer körperlicher Leidenschaft in den Schlaf zu wiegen. Sie tat das so lange, bis der Waggon schaukelte und sich der Kaffee aus meinem Pappbecher über meine Hose ergoss. Der Kaffee im Intercity ist bekanntlich dünn und scheiße, aber er war heiß. Ich schrie laut auf, die Schmerzen kamen aus meinem Stoßzahnbereich. Als mich die Fahrgäste vorwurfsvoll anschauten, zog ich wie Clint Eastwood die Haut meiner Backe unter dem linken Auge hoch und zeigte mit abgewinkeltem Daumen auf das Baby. »Hätten Sie je Zähne bekommen, hätten Sie mehr Mitgefühl mit jungen Menschen«, sagte ich zu einem Mann, der mich betont erwachsen anschaute.

      Ich hatte Fulda mit nasser Hose hinter mir gelassen, als sich eine Dame mit zwei Jungs in die Nische vor mich setzte. Die Dame war extrem dünn, sie trug einen Kampfbürstenhaarschnitt, eine Mischung aus José Mourinho und Renate Künast. Prägend aber war ihr Gesicht: das typische Fuldaer Sparbüchsengesicht.

      Das Fuldaer Sparbüchsengesicht zeichnet sich durch militärische Schmallippigkeit aus, es unterscheidet sich vom schwäbischen Sparbüchsengesicht durch einen leichten Oberlippenbartansatz.

      Zwischen Fuldaer Sparkassenbüchsen-Lippen passt keine Fünf-Cent-Münze, auch nicht beim Sprechen. Diese stählerne Erotik setzt sich in anderen Körperzonen fort.

      Die beiden Jungs und die Mutter hatten noch nicht richtig Platz genommen, da wusste ich bereits, wie sie hießen. Kaum saßen sie auf einer Arschhälfte, begann das Sparbüchsengesicht, kalaschnikowartig ihre Namen zu rufen, bis nicht einmal mehr das Baby mit dem Stoßzahn zu hören war. Die Jungs hießen Joschi und Marius.

      Von Joschi und Marius kam kein Laut. Aus Langeweile dachte ich eine Weile darüber nach, warum man ein unschuldiges Kind mit dem Vornamen eines der schlimmsten Sänger strafen konnte, den die Popmusik je hervorgebracht hat. Ausgerechnet dieser Kerl mit dem Sound eines singenden Sparbüchsenschlitzes. Ich stellte mir das Sparbüchsengesicht vor, wie es mit feuchten schmalen Lippen am Lagerfeuer eines Fuldaer Staudamms »Frei-heit, Frei-heit« säuselte, bis sich einer erbarmte, Marius den Zweiten zu zeugen, nur um seine Ruhe zu haben. Der Doppelname im Haus war programmiert.

      Von den beiden Jungs im Zug war wie gesagt nichts zu hören. Marius grinste gelegentlich mit schmalen Lippen durch die Lücke zwischen den Lehnen meiner Vordersitze, um mich als Publikum zu gewinnen. Ich gab ihm mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinger das Victory-Zeichen, und er streckte mir die Zunge raus. »Beim nächsten Mal werde ich sie dir abbeißen«, sagte ich so leise, dass nur er es hören konnte. Da wusste Marius noch nicht, dass er in Fulda den ICE zur Hölle bestiegen hatte.

      Ohne Atempause ermahnte das Sparbüchsengesicht Joschi und Marius, den Mund zu halten, obwohl beide kilometerlang keinen Ton von sich gegeben hatten. »Wir machen jetzt ein Spiel. Wer am längsten schweigt, hat gewonnen«, sagte sie. Ich hörte nichts außer dem Rollen der Räder und setzte bei meinem Buchmacher heimlich hundert Euro, dass die Mutter das Spiel nicht gewinnen würde. Prompt giftete sie im Kasernenton: »Der Fernseher bleibt so lange aus, bis ihr Schweigen gelernt habt. Und wenn es acht Tage dauert.«

      Joschi und Marius sagten kein Wort, und so setzte wieder das Tröten des Sparbüchsengesichts ein: »Wir machen jetzt ein anderes Spiel. Es heißt der schweigende Mönch.« Nie zuvor hatte ich von diesem Spiel gehört, auch nicht bei Edgar Wallace. Ich befürchtete das Schlimmste. Der schweigende Mönch. Das klang nach unschuldigen Buben im Beichtstuhl.

      Obwohl Joschi und Marius weiterhin schwiegen, wiederholte die Mutter ihre Drohung so laut, dass man sie durch den ganzen Waggon hörte: »Wir spielen jetzt der schweigende Mönch.«

      Erst nach ungefähr zehn Minuten jungenhaften Schweigens, das pausenlos durch das Sparbüchsengesicht-Gezeter unterbrochen wurde, lüftete sich mir das Geheimnis des schweigenden Mönchs. Das Sparbüchsengesicht aus Fulda hatte einen gottverdammten Sprachfehler. Wir kennen diesen Defekt von den Rheinländern. Sie konnte kein Esceha sprechen. Mit kindlichen Chchch-Lauten zischelte sie, wie wir das aus der Zeit von Günter Netzers Duetten mit Gerhard Delling kennen: Mir gefällt da spielerich überhaupt nichts, aber Tchechien ist heute technich besser.

      Das Sparbüchsengesicht hatte nicht vom schweigenden Mönch gesprochen, nicht von einem Herrn mit Kutte, Messwein, Vaseline. Gemeint war der schweigende Mensch.

      Joschi und Marius sagten nichts, und das war falsch. Sofort meldete sich wieder die Mutter, und sie klang wie ein Gewerkschaftsmegafon: »Wir machen jetzt ein neues Spiel. Es geht so: Wer am längst schweigt, hat gewonnen.« Ich hörte keinen Laut. Vier, fünf Sekunden vergingen. Dann kreischte die Mutter: »Marius, mir reicht es. Ich bin sehr unzufrieden mit dir. Der Fernseher bleibt jetzt acht Tage aus.« Marius schien diese Drohung zu schlucken. Im Waggon war ja kein Fernseher.

      Inzwischen hatte die andere Mutter ihr Baby mit dem Stoßzahn in die Ohnmacht geschaukelt, im Waggon wurde es still, ich konnte das Klappern von fünfzig Laptops hören. Wie erwartet hob wieder das Sparbüchsengesicht an: »Joschi, Marius, ich habe jetzt genug von eurem Tigerspiel. Das Tigerspiel ist das Letzte. Ich mag das nicht. Ich verbiete euch ein für allemal das Tigerspiel.«

      Wie gesagt, in der Nachwuchsarbeit bin ich unerfahren, so war mir auch das Tigerspiel kein Begriff. Ich fragte eine neutrale Dame auf dem Sitz neben mir, was das Tigerspiel sei, ob es mit den Praktiken des schweigenden Mönchs zu tun habe. Nein, sagte sie, das Tigerspiel symbolisiert den evolutionären Wettkampf der Männer. Ah, sagte ich, es geht also um die intellektuelle Überlegenheit, um die spirituelle Dominanz des Maskulinen. Nein, sagte sie, beim Tigerspiel geht es um den Größten, Stärksten, Schnellsten, Längsten.

      O Mann, sagte ich, ich danke Ihnen, Madame, ich weiß, was Sie meinen. Dann begann ich leise zu singen:

      Wenn ich am Wochenende tanzen geh / Und ein ganz besonders schönes Fräulein seh’ / Lass ich meinen Whisky Soda steh’n und dann / Dann, dann schleich / Ich an das Fräulein ran / So wie ein Tiger, oh, oh, oh / Ja, wie ein Tiger, oh, oh, oh / Denn sie gefällt mir gut / Drum hab’ ich Mut / Oh, wau, wau ...

      Wow!, sagte die unbekannte Dame und formte ihre vollen Lippen zu einem verführerischen Lächeln. Ich übte im Kopf bereits den berühmten Peter-Kraus-Rülpser, dieses Schluckauf-Glucksen aus einem aufgeblähten Magen, als sich wieder das Sparbüchsengesicht zuschaltete, diesmal auf der Öko-Ebene: »Marius, lass gefälligst den Mülleimer in Ruhe. Nimm die Hände weg. Am Ende leckst du den Mülleimer noch mit der Zunge ab.«

      Ich begriff nicht. Diese Sätze klangen nach einer Kombination aus schweigendem Mönch und Tigerspiel. Wie gesagt, ich kam damals mit dem Zug aus Stuttgart, einer Stadt, wo räudige Hunde sich rudelweise für Tiger hielten, weil sie Nadelstreifen trugen. Wo schweigende Mönche überall herumleckten, wenn es darum ging, mit korrupter Scheinheiligkeit der Wahrheit aus dem Weg zu gehen.

      Leider blieb mir nicht die Zeit, diesen politischen Gedanken zu Ende zu denken. Kurz vor Braunschweig hatte das Sparbüchsengesicht beschlossen, den Showdown der Eisenbahnfahrt einzuleiten. »Marius«, keifte das Sparbüchsengesicht, und die Stimme schien blechern auf ihren harten Lippen aufzuschlagen, »warum hast du Joschi gerade in den Finger gebissen?«

      Ich hatte nichts mitgekriegt, kein schmerzhaftes Stöhnen, keinen Blutspritzer, nichts. Mit der Erfahrung jahrelanger Analysestunden bei meinem Therapeuten begann ich mir zusammenreimen, was in diesem Zugabteil vor sich ging. Marius hatte beim Biss in Joschis Finger zwanghaft reagiert. Eine Ersatzhandlung. Er war Opfer. Nicht Täter. Marius hatte keine andere Wahl gehabt. Er war der Tiger. Als er in Braunschweig mit Joschi und dem Sparbüchsengesicht aufstand, um aus dem Zug zu steigen, lief Blut aus seinem Mundwinkel. Ich schloss die Augen und schlief mit wilden Träumen bis Berlin.

      Einige Jahre waren vergangen seit diesem Ereignis, als ich mir neulich im Intercity nach Berlin in Höhe von Kassel eine herrenlose Bild-Zeitung griff, um mich von dem Babygeschrei im Zug abzulenken. Die Schlagzeile auf der Titelseite traf mich wie


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