Im Kessel brummt der Bürger King. Joe Bauer

Im Kessel brummt der Bürger King - Joe Bauer


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in die Gablenberger Hauptstraße, leicht ansteigend und trotz der Neujahrsstille und des gedimmten Winterlichts voller satter Bilder. Ich stehe vor einem kleinen olivgrünen Haus mit pinkfarbenem Sockel und einem merkwürdig dynamischen Dach, teils schräg, teils flach. An der Frontseite hängt, eingerahmt von Stuttgarter-Hofbräu-Leuchten, ein Schild mit weithin sichtbarer Frakturschrift: Krämers Bürgerstuben. Hinter dem Glas der Eingangstür entdecke ich ein kleinen Zettel: »Am 1. Januar ist unser Restaurant aus Altersgründen geschlossen. Wir danken für Ihre Treue und wünschen alles Gute.« Bei näherem Hinsehen entdecke ich die Wahrheit: Die Mitteilung war von Ende 2009. Krämers Bürgerstuben, unter der Leitung der Familie Hofacker, galten viele Jahre als gutes, angesehenes Speisehaus. Es stimmt mich ein wenig traurig, wenn die Nachricht über den Abschied der Wirtsleute noch zwei Jahre später an der Eingangstür hängt. Als sei das Gasthaus ein Geisterhaus und der ganze Osten geschlossen.

      Noch ein schneller Blick um die Ecke in die Wagenburgstraße zur Kleinkunstbühne Laboratorium. 2012 feiert der Laden seinen 40. Geburtstag, und nirgendwo ein Abschiedsbrief.

      Es ist ein gutes Gefühl, das Neujahr mit einem Spaziergang durch die Leere und Ungewissheit des morgendlichen Ostens zu beginnen. In der Libanonstraße lese ich schmunzelnd die Inschrift an der Wand eines Backsteingebäudes; vermutlich hat sie der Häuslebauer Karl Dausch im Jahr 1909 mit großer Befriedigung angebracht: Klein, aber mein.

      In der Libanonstraße fällt mir ein, wie mir eine ältere Dame vor ein paar Jahren Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählte. Als sich die Arbeiterkinder aus der Gablenberger Libanonstraße und die besser gestellten Kids von der Gänsheide harte Straßenkämpfe lieferten, obwohl es damals bei uns noch wenig Gangs und so gut wie keine Kapuzenjacken gab. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg, und auf dem Höhepunkt des Klassenkampfs im Osten setzte die Gänsheide-Armee gegen die Libanon-Truppen ihre schärfste Geheimwaffe ein: Gartenschläuche, die Vorläufer der Polizei-Wasserwerfer.

      Adios, Ostendplatz, ich bin zurück in der Gegenwart.

      Die wahre Geschichte vom Dackel Lump

      Es gab und gibt in der Geschichte von Stuttgart viele Dackel, einige von ihnen sind berühmt geworden. Aber nur einer von ihnen hat sich im Glanz künstlerischer Genialität bewegt, und nur er hat großen Werken seine Erhabenheit erwiesen, als er gelassen das Bein hob und die Schöpfung ohne Respekt anpisste. Davon handelt meine Geschichte, die Geschichte vom Dackel Lump.

      Während der spanischen Diktatur lebt das Künstlergenie Pablo Picasso in Südfrankreich. Eines Tages, es ist das Jahr 1957, besucht ihn in seiner Villa La California bei Cannes der Fotograf David Douglas Duncan. Der Amerikaner, ein berühmter Kriegsreporter, kommt in Begleitung eines Freundes, eines einjährigen Dachshundes.

      Vermutlich hieß der Dackel ursprünglich Lumpi, ich weiß es nicht. Wahr ist, dass Duncan den Dachshund 1956 bei einer Familie in Stuttgart gekauft hat; leider ist mir der Name dieser Leute nicht bekannt.

      Obwohl Mr. Duncan ein großer Hundefreund ist, fühlt sich Lump, wie der Hund mit richtigem Namen heißt, bei ihm nicht wohl. Erstens missfällt ihm das Nomadenleben des Kriegsreporters, zweitens hat sein Herrchen noch einen anderen Freund, einen vierbeinigen Afghanen. Der ist nicht nur größer als Lump, er ist auch eifersüchtig und damit das Scheitern der Multikulti-Familie programmiert.

      Es konnte nie geklärt werden, ob Duncan seinen Freund Picasso gebeten hat, Lump in Obhut zu nehmen. Oder ob es vielmehr Lump war, der mit fliegenden Ohren zu Picasso überlief. Die Historiker wissen von Picassos magischer Anziehungskraft auf Damen. Lump aber war keine Dame. Vermutlich also flog Picasso auf Lump.

      Dass diese Beziehung zustande kam, haben Mann und Hund nicht nur Lumps Stuttgarter Familie zu verdanken. Geholfen hat eine mysteriöse Verkettung glücklicher Umstände. Womöglich wäre David Douglas Duncan dem Genie Pablo Picasso nie begegnet, hätte ihn nicht Robert Capa, sein amerikanischer Freund, dem Künstler vorgestellt. Capa, selbst ein berühmter Fotograf, hatte früher mit einer jungen Frau namens Gerda Taro zusammengelebt, und hätte er die 1910 in Stuttgart geborene Tochter eines jüdischen Eierhändlers nicht im Pariser Exil getroffen, wäre er nie der große Robert Capa geworden.

      Capa war aus Ungarn, schlug sich mehr schlecht als recht unter seinem Namen André Friedmann als Fotograf durch, bevor ihn seine Geliebte zum Weltstar machte. Gerda Taro, neunzehn Jahre lang in der Stuttgarter Alexanderstraße zu Hause, erfand nicht nur sein Image, nebenbei machte sie im Schatten seines Ruhms auch selbst großartige Fotos. 1937 fiel sie nach einem Luftangriff von Hitlers Legion Condor bei ihrer Arbeit als Reporterin im Spanischen Bürgerkrieg.

      Der Starruhm seiner Umgebung dürfte Lump, Stuttgart, im Hause Picasso kaum beeindruckt haben. Schließlich war er selbst auf dem besten Weg, in der internationalen Kunstwelt Fuß zu fassen. Allein zwischen dem 17. August und dem 30. September 1957 verewigt Picasso den Dackel fünfzehn Mal in den 44 Skizzen seiner Serie »Las Meninas«. Sollte Lump in diesen Bildern dem einen oder anderen Banausen heute relativ mickrig vorkommen, so ist er doch eine Kunstikone von Weltformat.

      Picasso besitzt mehrere Hunde, als Lump bei ihm lebt, keinen aber liebt er so sehr wie seinen Kurzhaardackel aus Stuttgart. Lump ist das einzige Tier, das der Künstler in die Arme nimmt. Sogar Picassos zweite Ehefrau Jacqueline Roque, so wird berichtet, ist eifersüchtig auf Lump. »Lump ist kein Hund«, sagt Picasso. »Lump ist auch kein kleiner Mensch. Er ist etwas anderes. Er trägt unsere besten und schlechtesten Eigenschaften in sich.«

      Nach sechs guten gemeinsamen Jahren schlägt das Schicksal zu. 1963 erkrankt Lump an der Wirbelsäule, ein typisches Dackelproblem. Seine Hinterläufe funktionieren nicht mehr. Als Duncan den Maler wieder mal in der Nähe von Cannes besucht, sieht er den kranken Hund und bringt ihn sofort zum nächsten Tierarzt. Der Veterinär sagt ihm, es sei nichts mehr zu machen. Lump sei unheilbar gelähmt. Der Fotograf, in zahlreichen Fronteinsätzen gestählt, nennt den Tierarzt einen verdammten Hurensohn, setzt den Dackel spontan auf den Rücksitz seines Autos, einen schwarzen Mercedes SL 300 Gullwing, und fährt noch in der gleichen Nacht nonstop nach Stuttgart. Unterwegs füttert er Lump über die Schulter hinweg mit Erdnussbutter-Keksen. In Stuttgart, notiert er später, »gab es einen berühmten Tierarzt, und als er Lumps Pfoten berührte, wusste er sofort, dass Lump nicht gelähmt war.« Nach einigen Monaten Behandlung bringt Duncan den Hund in sein Haus nach Rom. »Er lief herum wie ein betrunkener Seemann«, schreibt er, »aber er hatte noch zehn Jahre lang ein gutes Leben.«

      Über die Geschichte des Stuttgarter Dackels hat Duncan – er arbeitete oft für Mercedes – 2006 einen Bildband veröffentlicht, das Buch heißt: »Lump the Dog who ate Picasso«. Hinter dem Titel verbirgt sich eine wahre Begebenheit. Einmal zeichnet Picasso ein Kaninchen auf einen Karton, und als Lump den Hasen sieht, erwacht sein Instinkt als Dachshund. Weil aber für die Jagd nicht ausgebildet, verspeist er das Karnickel samt Karton. Seitdem ist er »der Hund, der einen Picasso fraß«. Immerhin hatte diese Aktion mehr Stil als Lumps Angewohnheit, seine Unzufriedenheit mit Picassos Skulpturen auszudrücken – er pisste die Werke mehrfach an. Picasso akzeptierte die Kritik. Lump bezog nie Prügel.

      Nachdem er nach Italien umgezogen war, hat der Dackel seinen Herrn allerdings nie mehr gesehen. Lump starb am 29. März 1973 in Rom. Picasso zehn Tage später in Mougins.

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