Im Kessel brummt der Bürger King. Joe Bauer

Im Kessel brummt der Bürger King - Joe Bauer


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Er ging durch Intercity-Waggons zweiter Klasse, er sagte kein Wort – und dann / dann, dann / schlich er an die Fräuleins ran. Einem halben Dutzend Mütter hatte er auf diese Weise in den vergangenen Wochen die Zunge aus dem Schlund gebissen. Als ich in Fulda den vertrauten Bahnhof sah, malte ich mir aus, wie es Marius genoss, wenn das Blut einer durchgebissenen Zunge an die Waggondecke spritzte, während sich vor seinen Augen im Zugfenster das Sparbüchsengesicht spiegelte.

      Keiner, das wusste ich, würde den Vampir von Fulda jemals schnappen. Keiner kennt ihn, und ich bin der schweigende Mönch.

      Bürger, zur Sonne!

      Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrte Ex-Menschen,

      heute, im April 2012, begrüße ich Sie zu einem historischen Neubeginn in der Stadt. Willkommen in der ersten Bürgerkolumne.

      Mitten im Bürgerwahlkampf um das Amt des Bürger-Rathauschefs versammelten sich acht Bürgerinnen und Bürger, darunter eine Frau, für ein Zeitungsfoto. In Höhe ihres primären Geschlechtsmerkmals hielten sie Schilder vor ihren Körper: »Bürger-OB Sebastian Turner e.V.«. Damit auch der Bürger-OB wusste, wo er herumstand, packte er sich ebenfalls Propaganda-Pappe vor den Bauch: »Bürgerstadt Stuttgart«.

      Der Schildbürgerverein für zwielichtige Kassenmanöver besteht aus Mitgliedern von CDU, Freien Wählern und FDP – letztere ein Sektiererclub, den der Amtschef des Stuttgarter SPD-Finanzministers neulich auf Facebook als »FD-Pisser« würdigte. Diese verbale Inkontinenz löste eine Bürgerkrieg zwischen FDPennern und SPDeppen aus, beschädigte aber nicht den Ruf des bürgerlichen Lagers. Das bürgerliche Lager ist sowieso eine Latrine. Der »Bürger-OB«-Verein hatte sich bereits vor dem Parteienkrach im Landtag für ein Gruppenbild mit Dame (letzte Reihe) formiert. Der Fotograf sagte: »Alle mal lächeln«, und fertig war der Cheese-Bürger.

      Der gequält grinsende Cheese-Bürger hat mithilfe seines Leithammels aus der Reklamebranche, er heißt Turner, ein neues Berufsbild erfunden: »Bürger-OB« heißt auf Deutsch Bürger-Oberbürgermeister – eine Art Polit-Tampon für alle.

      Unser neuer Mitbürger Bürger-Oberbürgermeister ist eine typische Marketing-Marke. Nach Art des Marketing-Vermarkters hat er den Oberbürgermeister auf den Bürger »runtergebrochen«. Ziel ist es, die Bürger mit der Marke »Bürger-Oberbürgermeister« im gebrochenen Sprachgebrauch der Politiker-Analphabeten »abzuholen« und »mitzunehmen«. So will man verhindern, dass der Bürger als Wähler des Bürger-Oberbürgermeisters »wegbricht«, bevor er selber bricht.

      Der Bürger-Oberbürgermeister versprach den Menschen, als Weltbürger die Stuttgarter Bürgerwelt zu »einen« und zu »entfalten«. Diese bürgernahen Worthülsen bedeuten: designen, leimen, schleimen.

      Liebe Bürgerinnen und Bürger,

      ich bringe meine Freude darüber zum Ausdruck, welche Wertschätzung der Bürger in diesen Tagen erfährt.

      Vor dem Auftritt des Bürger-Oberbürgermeisters hatte der Bürger ein miesen Ruf. Das Bürgertum vom Killesberg bis nach Kaltental galt als Horde protestierender Penner und Anarchisten. Ein Hambürger Journalist schuf gar den Stuttgarter »Wutbürger«, als er sämtliche Teile des Klein- und Spießbürgers in seiner hanseatischen Kloschüssel zusammenrührte.

      Bald darauf brüllte die CDU: Bürger, wehrt euch! Seitdem ist die Bürgerwehr überall. Sie tut so, als sei der Bürger King. Der selbsternannte Bürger-Oberbürgermeister macht uns vor, er befreie den Bürger aus seinem »Wutbürger«-Käfig, kaum dass man in der Stadt den Schlossgarten abgeholzt und den Bahnhof zerstört hat. Auferstanden aus Ruinen ist die Bürger-Rechte – ein reaktionärer Haufen von Grün bis Schwarz.

      Ein anderer Reklametyp hat inzwischen vorgeschlagen, dem werten Bürger das Neue Schloss als Stuttgarter »Bürgerschloss« zu widmen. Das bedeutet: Der Bürger darf hie und da das von seinen Steuern bezahlte Schloss in der Stadt betreten. Seine Freude darüber ist groß, weil er sich die Bürgermiete in den Investorenburgen seiner Bürgerstadt sowieso nicht mehr leisten kann.

      Um auch diese Sauerei im Ton der Marketing-Vermarkter »wegzukommunizieren«, rief der Bürger-Oberbürgermeister gleich noch die »neue Bürgerstadt« aus. Das Würgewort »Bürgerstadt Stuttgart« erleichtert es dem Bürger, die Bürgerstadt Stuttgart vom Tierheim Botnang zu unterscheiden. Zuvor hatte der Bürger-Oberbürgermeister mit einem Witzbold-Witz über das Ross im Stadtwappen seinen Köter für ein Youtube-Videos in die Kamera gehalten. Wow!, entfuhr es dem Hundsbürger. Und der brave Bürger hob das Bein. Endlich wusste der Bürger: Eine Stadt mit Hunderttausenden Bürgern ist eine Bürgerstadt. Und kein Hundezwinger, kein Kirmesplatz und keine Scheißwerbeagentur.

      Wenn das Bürgerschloss eröffnet ist, bitte ich, dem neuen Stuttgarter Gutbürger weitere große Bühnen anzubieten. Um dem Bürgerstadt-Bürger Demokratie unter seinem Bürger-Oberbürgermeister vorzugaukeln, wird in Zukunft nicht genügen, Bürger-Maultaschen und Königsbürger Klopse mit Energie der Firma Bürgergas aufzukochen. Auch das Bürgerhospital signalisiert keine bürgerliche Mitbestimmung – trotz geschlossener Abteilung, wo die Reklamefritzen gut aufgehoben wären.

      Verehrte Bürgerinnen und Bürger,

      wir Bürgerstadt-Bürger haben die Schnauze voll von herrschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Weg mit dem Kaiserschmarrn. Es lebe der Bürgerschwachsinn. Ab sofort heißt die Königstraße Bürgersteig. Das turnt voll.

      Ostendplatz

      Als ich den Müll von der Ballerei auf der Straße sah, war mir noch nicht klar, wo ich ins Jahr 2012 hineinspazieren könnte, ohne gleich am ersten Tag der neuen Saison in die Hundehäufen des Lebens zu treten. Obwohl ich die Silvester-Knallerei nahezu traumlos verpennt hatte, fühlte ich mich etwas angeschossen am Neujahrsmorgen und nahm deshalb den nächsten Weg. Seit die Bahnlinie 4 meinen Heimathafen Hölderlinplatz anfährt, kann ich ohne Umsteigen den Ostendplatz erreichen. Auch die Buslinien 40 und 42 führen vom Westen in den Osten, wohl als Zeichen für mich, endgültig die Seiten zu wechseln.

      Der Ostendplatz, sagte ich mir an diesem Morgen, ist ein guter Platz. Er macht auch an einem Katermorgen bella figura, selbst an einem Neujahrstag, der nicht mehr als ein stinklangweiliger Sonntag war. Wollte ich mich der Geschichte des Ostendplatzes nähern, müsste man eine Zeitungskolumne mit Böllern sprengen. In der Zeit der Arbeiterbewegung, als es noch sozialdemokratische Sozialdemokraten gab, hieß der Ostendplatz bei den Rebellen und Kämpfern nur der »Rote Platz«.

      Tote Plätze gibt es anderswo in der Stadt. Wenn es der Ostendplatz im Lauf der Geschichte zu größeren literarischen Ehren gebracht hat als jeder andere Stuttgarter Platz, dann nicht nur deshalb, weil es sich bei den meisten Plätzen der Stadt um hässliche Asphaltlöcher handelt, um stadtplanerische Missgeburten wie den Österreichischen Platz oder um chaotisch beampelte Straßenkreuzungen wie den Hölderlinplatz; von dessen lächerlicher Kunststoffstele im Joint-Format ganz zu schweigen.

      Manfred Essers 1978 im März-Verlag erschienener »Ostend-Roman« ist heute Legende; unlängst wurde er es neu aufgelegt und Ende vergangenen Jahres kam das Buch des 1995 verstorbenen Schriftstellers bei einer Ausstellung im Literaturhaus zu Ehren. »Auf dem Straßenbahn-Depot am Ostendplatz scheppern die Linien 4 und 8. Die Kurden, die hier in Notunterkünften nahezu auf diesen Schienen hausen, werfen sich im Schlaf«, heißt es im ersten Kapitel.

      Im Straßenbahn-Depot ist heute ein Kinder- und Jugendzentrum untergebracht, es war auch mal Staatstheater-Filiale, damals, als es noch ein Staatstheater mit funktionierenden Bühnen gab. Auf den Straßenbahnschienen scheint keiner mehr zu hausen, und zum Glück blieb in der Nähe das Toilettenhaus mit seiner Pagoden-Architektur von 1920 unversehrt. Einige Male vom Abriss bedroht, steht es heute wie eine Eins neben dem Zeitungskiosk, und solange eine Bedürfnisanstalt und ein Kiosk an einem Ort miteinander harmonieren, hat ein Platz alle Aussichten, als solcher von den Menschen wahrgenommen zu werden.

      An Silvester 2011 wurde, soweit ich den Raketen- und Flaschenschrott beurteilen kann, auch am Ostendplatz hemmungslos geschossen und gesoffen. Das Bedürfnis, Geld anzuzünden und in die Luft zu lassen, erinnerte mich angesichts der Wirtschaftslage an ein Buch meines Berliner Spaziergängerfreundes Klaus Bittermann: »Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol«.


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