Das Haus der Freude. Edith Wharton
dass er auffallend brillant oder außergewöhnlich gewesen wäre, in seinem Beruf wurde er von mehr als einem Mann übertroffen, der Lily schon so manches ermüdende Dinner über gelangweilt hatte. Es lag vielmehr daran, dass er sich einen gewissen gesellschaftlichen Abstand erhalten hatte, eine beneidenswerte Haltung, die erkennen ließ, dass er die Vorführung, die sich ihm bot, objektiv betrachtete, dass er Kontakte außerhalb des großen goldenen Käfigs besaß, in den sie alle gezwängt waren, damit der Mob etwas zu gucken hatte. Wie verlockend Lily die Welt außerhalb dieses Käfigs erschien, als sie seine Tür hinter sich zuschlagen hörte! In Wahrheit wusste sie aber, dass die Tür nie zuschlug, sie stand immer offen, aber die meisten Gefangenen waren wie Fliegen in einer Flasche, die, einmal hineingeflogen, nie wieder ihre Freiheit erlangen konnten. Das Besondere an Selden war es, dass er den Weg nach draußen nie vergessen hatte.
Darin lag das Geheimnis, dass es ihm immer wieder gelang, ihre Sichtweise zurechtzurücken. Als sie den Blick von ihm abwandte, merkte Lily, wie sie ihre kleine Welt mit seinen Augen prüfend betrachtete, es war, als ob man die rosaroten Lampen weggeräumt und das Tageslicht eingelassen hätte. Sie sah den langen Tisch entlang und betrachtete eingehend die Menschen, die an ihm saßen, einen nach dem anderen, von Gus Trenor mit dem schweren Raubtierkopf tief zwischen seinen Schultern, wie er einen Kiebitz in Aspik verschlang, bis zu seiner Frau am andern Ende einer langen Reihe Orchideen, die mit ihrer auffällig zurechtgemachten Schönheit an das Schaufenster eines Juweliers erinnerte, wenn es von elektrischem Licht grell beleuchtet wird. Und zwischen den beiden, welch eine Leere die ganze lange Strecke über! Wie öde und banal diese Leute waren! Lily ging sie mit verachtungsvoller Ungeduld durch: Carry Fisher mit ihren Schultern, ihren Augen, ihren Scheidungen, ihrem ganzen Gehabe, als verkörpere sie einen »pikant geschriebenen Zeitungsartikel«; der junge Silverton, der einmal vom Korrekturlesen leben und dabei ein Epos hatte schreiben wollen und jetzt vom Geld seiner Freunde lebte und eine kritische Meinung in Bezug auf Trüffel entwickelte; Alice Wetherall, eine lebendig gewordene Besucherliste, deren glühendste Überzeugungen der Formulierung von Einladungen und dem Schriftbild von Tischkarten galten; Wetherall mit seinem ständigen nervösen Nicken der Zustimmung, seiner Gewohnheit, mit anderen einer Meinung zu sein, noch bevor er wusste, was sie sagen wollten; Jack Stepney mit seinem zuversichtlichen Lächeln und den ängstlichen Augen, eine Mischung aus einem Polizeibeamten und einer reichen Erbin; Gwen Van Osburgh mit all dem arglosen Vertrauen eines jungen Mädchens, dem man immer wieder gesagt hat, es gäbe niemand Reicheren als ihren Vater.
Lily lächelte über die Beurteilung ihrer Freunde. Wie anders waren sie ihr noch vor wenigen Stunden erschienen! Da waren sie Symbole dessen gewesen, was sie gewinnen würde, jetzt standen sie für das, was sie aufgab. Heute Nachmittag schien es so, als seien sie voller brillanter Eigenschaften; jetzt sah sie, dass sie nur auf laute Art nichtssagend waren. Unter dem Glanz ihrer Möglichkeiten erkannte sie, wie armselig das war, was sie erreicht hatten. Nicht, dass sie sich ihre Freunde selbstloser gewünscht hätte, nein, sie wünschte nur, sie wären lebensvoller, interessanter. Die Erinnerung daran, wie sie noch vor wenigen Stunden die Anziehungskraft der Werte dieser Leute gefühlt hatte, beschämte sie. Sie schloss ihre Augen für einen Moment, und die leere Routine des Lebens, das sie gewählt hatte, erstreckte sich vor ihr wie eine lange weiße Straße ohne jede Vertiefung oder Windung; es war schon wahr, sie würde in einer Kutsche die Straße entlangrollen, statt sich zu Fuß dahinschleppen zu müssen, aber manchmal hat der Fußgänger das Glück, eine vergnügliche Abkürzung zu finden, die denen auf Rädern versagt bleibt.
Sie wurde von einem glucksenden Lachen, das aus den Tiefen von Mr. Dorsets magerem Hals zu kommen schien, aus ihren Gedanken aufgeschreckt.
»Also wirklich, sehen Sie sich das an«, rief er und wandte sich mit kummervoller Heiterkeit Miss Bart zu –, »Entschuldigung, aber sehen Sie sich nur meine Frau an, wie sie den armen Teufel da drüben zum Narren hält! Man könnte meinen, sie wäre regelrecht hinter ihm her – und dabei ist es, das versichere ich Ihnen, genau andersherum.«
Auf seine dringende Bitte hin wandte Lily sich dem Schauspiel zu, das Mr. Dorset zu so berechtigter Heiterkeit veranlasste. Es schien ganz offensichtlich so zu sein, wie er gesagt hatte, dass Mrs. Dorset der aktivere Teil der kleinen Szene war; ihr Tischnachbar nahm ihre Annäherungsversuche mit so zurückhaltendem Interesse hin, dass sie ihn nicht einmal von seiner Mahlzeit abzulenken vermochten. Dieser Anblick stellte Lilys gute Laune wieder her, und weil sie wusste, auf welch sonderbare Art Mr. Dorset seine Ehesorgen zu verschleiern pflegte, fragte sie fröhlich: »Sind Sie nicht schrecklich eifersüchtig auf sie?«
Dorset nahm diese witzige Bemerkung freudig auf. »O ja, schrecklich – Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen – hält mich die ganze Nacht hindurch wach. Die Ärzte sagen mir immer, dass eben das meine Verdauung so durcheinanderbringt – dass ich so höllisch eifersüchtig auf sie bin. – Ich kann keinen Bissen von dem Zeug hier essen, wissen Sie«, fügte er plötzlich noch hinzu und schob seinen Teller mit finsterer Miene von sich, und Lily, anpassungsfähig wie immer, wandte ihre strahlende Aufmerksamkeit seiner fortgesetzten Verurteilung von Köchen anderer Leute zu, die noch von einer langen Tirade über die giftigen Eigenschaften geschmolzener Butter ergänzt wurde.
Es kam nicht oft vor, dass er ein so bereitwilliges Ohr fand, und da er ein Mann war, nicht nur ein Dyspeptiker, war es gut möglich, dass er, während er seine Klagen in dieses Ohr goss, nicht unberührt blieb von dessen rosiger Symmetrie. Auf jeden Fall nahm er Lilys Aufmerksamkeit so lange in Anspruch, dass die Süßspeise gereicht wurde, als sie einen Satz auf ihrer anderen Seite auffing, wo Miss Corby, die Komikerin der Gesellschaft, Jack Stepney wegen seiner herannahenden Verlobung neckte. Miss Corbys Rolle war die der Immer-Lustigen, grundsätzlich fiel sie mit einer Kapriole in die Unterhaltung ein.
»Und natürlich wirst du Sim Rosedale zum Brautführer machen!«, hörte Lily sie als Höhepunkt ihrer Prophezeiungen hervorbringen, und Stepney antwortete, als wäre er beeindruckt: »Donnerwetter, das ist die Idee. Was für ein Mordsgeschenk ich dann aus ihm herausholen könnte!«
Sim Rosedale! Der Name, dessen Widerwärtigkeit durch die Verkleinerung noch gesteigert wurde, drängte sich in Lilys Gedanken wie ein lüsterner Blick. Er stand für eine der verhasstesten Möglichkeiten, die von einem hinteren Winkel des Lebens ihren Schatten warfen. Wenn sie Percy Gryce nicht heiratete, könnte der Tag kommen, an dem sie höflich zu Männern wie Rosedale würde sein müssen. Wenn sie ihn nicht heiratete? Aber sie wollte ihn ja heiraten – sie war sich seiner und ihrer selbst doch ganz sicher. Mit Schaudern wandte sie sich von den verlockenden Wegen ab, auf denen ihre Gedanken in die Irre gegangen waren, und setzte ihren Fuß wieder mitten auf die lange weiße Straße … Als sie an diesem Abend auf ihr Zimmer kam, entdeckte sie, dass die letzte Post ihr noch ein neues Bündel Rechnungen gebracht hatte. Mrs. Peniston, die eine gewissenhafte Frau war, hatte sie alle nach Bellomont weitergeschickt.
Also stand Miss Bart am nächsten Morgen auf, voll und ganz davon überzeugt, dass es ihre Pflicht sei, zur Kirche zu gehen. Sie riss sich frühzeitig genug von den Freuden ihres Frühstückstabletts los, klingelte nach ihrer Zofe, die das graue Kleid zurechtlegen sollte und dann noch zu Mrs. Trenor geschickt wurde, um ein Gebetbuch auszuleihen.
Aber Lilys Vorgehen war zu ausschließlich vernunftbestimmt, um nicht den Keim des Widerstands in sich zu tragen. Kaum waren ihre Vorbereitungen beendet, als sich auch schon eine unterdrückte Gegenwehr in ihr bemerkbar machte. Ein kleiner Funken genügte, um Lilys Vorstellungskraft zu entzünden, und der Anblick des grauen Kleids und des geborgten Gebetbuchs warf ein weitreichendes Licht auf die Jahre, die vor ihr lagen. Sie würde jeden Sonntag mit Percy Gryce zur Kirche gehen müssen. Sie würden einen Kirchenstuhl ganz vorn in der teuersten Kirche von New York haben, und sein Name würde einen herausragenden Platz auf der Liste der Gemeindespenden einnehmen. Nach ein paar Jahren würde er fülliger werden, und man würde ihn zum Kirchenvorsteher ernennen. Einmal im Winter würde der Pfarrer zum Essen kommen, und ihr Gatte würde sie bitten, die Besucherliste durchzugehen und zu überprüfen, ob auch keine Geschiedenen darauf stünden, abgesehen von denjenigen natürlich, die ihre Reue dadurch bewiesen hatten, dass sie sich mit jemandem, der sehr reich war, wiederverheiratet hatten. Es war nichts besonders Schwieriges an dieser Reihe religiöser Verpflichtungen, aber sie stand für einen Teil des überwältigenden Bergs von Langeweile, der drohend seinen Schatten auf ihren Weg warf.