Das Haus der Freude. Edith Wharton
die sehr hübsch auf der klaren Linie ihrer Wange zu erkennen war. An diesem Morgen waren keine Fältchen zu entdecken, oder der Spiegel stand in einem glücklicheren Winkel.
Und der Tag erwies sich als Komplize ihrer Stimmung: es war ein Tag wie geschaffen für impulsive Einfälle und Schwänzerei. Die leichte Luft schien voller Goldstäubchen zu sein, unterhalb des taubedeckten Rasengrüns glühten rot die Wälder, und die Hügel am Fluss schwammen in geschmolzenem Blau. Jeder Tropfen Blut in Lilys Adern lud sie ein, glücklich zu sein.
Das Knirschen der Räder riss sie aus diesen Gedanken, sie lehnte sich gegen die Fensterläden und sah, wie der Pferdewagen seine Fracht aufnahm. Es war also zu spät – aber die Tatsache beunruhigte sie nicht. Ein Blick auf Mr. Gryces niedergeschlagenes Gesicht deutete sogar darauf hin, dass es ganz richtig gewesen war, nicht mitzufahren, denn die Enttäuschung, die er so offen zeigte, würde seinen Appetit auf den Nachmittagsspaziergang sicher eher noch anregen. Sie hatte nicht vor, diesen Spaziergang zu verpassen; ein Blick auf die Rechnungen auf ihrem Schreibtisch genügte, um sie daran zu erinnern, wie notwendig er war. Aber bis dahin hatte sie den Morgen für sich und konnte sich gemütlich überlegen, wie sie die Stunden verbringen sollte. Sie kannte die Gepflogenheiten auf Bellomont gut genug, um zu wissen, dass sie das Haus wahrscheinlich bis zum Mittag für sich haben würde. Sie hatte gesehen, dass die Wetheralls, die Trenor-Mädchen und Lady Cressida sicher im Pferdewagen verstaut worden waren; Judy Trenor würde sich wohl die Haare frisieren lassen, Carry Fisher hatte ihren Gastgeber bestimmt zu einer Ausfahrt mitgenommen, Ned Silverton rauchte wahrscheinlich die Zigarette jugendlicher Verzweiflung in seinem Zimmer, und Kate Corby spielte, so viel war gewiss, Tennis mit Jack Stepney und Miss Van Osburgh. Von den Damen blieb also nur Mrs. Dorset, von der sie nicht wusste, was sie vorhatte, und Mrs. Dorset kam nie vor dem Mittagessen herunter: Ihre Ärzte, behauptete sie, hätten ihr verboten, sich der rauen Morgenluft auszusetzen.
Über die verbleibenden Mitglieder der Gesellschaft machte Lily sich keine Gedanken, wo auch immer sie gerade waren, sie würden ihre Pläne nicht durchkreuzen. Diese bestanden zunächst einmal darin, ein Kleid anzuziehen, das ländlicher und sommerlicher im Stil war als die von ihr zuerst gewählte Garderobe, und dann mit raschelnden Röcken die Treppe hinunterzueilen, den Sonnenschirm in der Hand, mit der Zwanglosigkeit einer Dame, die ein wenig Bewegung braucht. Die große Halle war leer bis auf das Knäuel Hunde beim Feuer, die mit einem Blick erkannt hatten, dass Miss Bart für einen Spaziergang gerüstet war, und sich mit freigiebigen Angeboten, sie zu begleiten, auf sie stürzten. Sie schob die erhobenen Pfoten, die das freundliche Anerbieten zum Ausdruck bringen sollten, beiseite und versicherte den freudigen Freiwilligen, dass sie bestimmt gleich Verwendung für ihre Gesellschaft haben würde; dann schlenderte sie durch den leeren Saal zur Bibliothek am anderen Ende des Hauses. Die Bibliothek war nahezu der einzige Überrest des alten Herrenhauses von Bellomont, ein langer, weitläufiger Raum, der noch die Traditionen des Mutterlandes in den klassisch verkleideten Türen, den holländischen Kacheln des Kamins und dem reichverzierten Kamineinsatz mit seinen glänzenden Messingurnen verriet. Einige Familienporträts von hohlwangigen Herren mit Knotenperücke und Damen mit großem Kopfputz und kleinem Körper hingen zwischen den Regalen, in denen reihenweise behaglich abgegriffene Bücher standen, Bücher, die zumeist aus der Zeit besagter Ahnen stammten, und zu denen die nachfolgenden Trenors, soweit man sehen konnte, nichts hinzugefügt hatten. Die Bibliothek von Bellomont wurde in der Tat nie zum Lesen benutzt, sie erfreute sich dagegen einer gewissen Beliebtheit als Rauchzimmer oder als Zufluchtsort für Flirts. Lily war jedoch auf den Gedanken gekommen, dass vielleicht bei dieser Gelegenheit das einzige Mitglied der Gesellschaft, das die Bibliothek wahrscheinlich ihrem ursprünglichen Zweck wieder zuführen würde, sich in diesen stillen Raum zurückgezogen hatte. Sie ging geräuschlos über den dichten alten Teppich, auf dem hier und da ein paar bequeme Sessel standen, und noch bevor sie die Mitte des Raumes erreicht hatte, sah sie, dass sie sich nicht geirrt hatte. Lawrence Selden saß tatsächlich am anderen Ende des Raumes, aber obwohl ein Buch auf seinen Knien lag, wurde seine Aufmerksamkeit nicht von diesem in Anspruch genommen, sondern von einer Dame, deren in Spitze gekleidete Gestalt sich übertrieben schmal gegen das dunkle Polster abhob, als sie sich in einem benachbarten Sessel zurücklehnte.
Lily hielt inne, sobald sie der beiden ansichtig wurde; einen Moment lang schien sie sich zurückziehen zu wollen, aber sie überlegte es sich anders und kündigte ihr Kommen mit einem leichten Schwung ihrer Röcke an, der das Paar die Köpfe heben ließ, Mrs. Dorset mit einem Blick offensichtlichen Missvergnügens und Selden mit seinem üblichen ruhigen Lächeln. Der Anblick solcher Gelassenheit verunsicherte Lily, aber Verunsicherung hieß für sie nur, sich um noch beeindruckendere Selbstbeherrschung zu bemühen.
»Oje, komme ich zu spät?«, fragte sie und legte ihre Hand in die seine, als er ihr entgegenging, um sie zu begrüßen.
»Zu spät – wozu?«, erkundigte sich Mrs. Dorset bissig. »Zum Mittagessen ja wohl nicht – aber vielleicht hattest du eine frühere Verabredung?«
»Ja, allerdings«, sagte Lily zutraulich.
»Wirklich? Bin ich dann vielleicht im Wege? Aber Mr. Selden steht dir vollkommen zur Verfügung.« Mrs. Dorset war blass vor Zorn, und ihre Widersacherin empfand ein gewisses Vergnügen daran, ihre Qual noch etwas zu verlängern.
»Aber Liebste, nein – bleib doch«, sagte sie gutgelaunt. »Ich will dich um Gottes willen nicht vertreiben!«
»Du bist wirklich zu freundlich, aber ich mische mich grundsätzlich nicht in Mr. Seldens Verabredungen.«
Diese Bemerkung wurde mit einem besitzergreifenden Unterton geäußert, der demjenigen, den sie betraf, nicht entging; ein leichtes Erröten der Verärgerung verbarg er, indem er sich bückte, um das Buch wiederaufzuheben, das ihm bei Lilys Kommen heruntergefallen war. Deren Augen weiteten sich auf ganz reizende Weise, und sie lachte leise auf.
»Aber ich bin doch nicht mit Mr. Selden verabredet! Ich war verabredet zur Kirche zu gehen, aber ich fürchte, der Pferdewagen ist ohne mich abgefahren. Ist er schon abgefahren, wissen Sie das?«
Sie wandte sich an Selden, der erwiderte, er habe ihn vor einiger Zeit abfahren hören.
»Ah, dann werde ich wohl laufen müssen; ich habe Hilda und Muriel versprochen, mit ihnen zur Kirche zu gehen. Was, Sie meinen, es sei zu spät, um zu Fuß dorthin zu gehen? Na ja, man soll mir zumindest den Versuch zugute halten können – und noch besser ist ja, dass ich auf diese Weise einem Gutteil des Gottesdienstes entrinne. So brauche ich mir doch nicht mehr so sehr selbst leidzutun!«
Und mit einem strahlenden Kopfnicken für das Paar, das sie gestört hatte, schlenderte Miss Bart durch die Glastüren und trug ihre raschelnde Grazie die lange Flucht des Gartenweges entlang.
Sie nahm den Weg in Richtung Kirche, aber nicht mit sehr schnellen Schritten, eine Tatsache, die einem ihrer Beobachter nicht entging, der in der Tür stand und ihr mit verwundertem Amüsement nachsah. In Wahrheit empfand sie einen schmerzlichen Schock der Enttäuschung. All ihre Pläne für den Tag waren von der Annahme ausgegangen, dass Selden nach Bellomont gekommen sei, um sie zu sehen. Sie hatte, als sie herunterkam, erwartet, ihn dabei anzutreffen, wie er Ausschau nach ihr hielt, stattdessen hatte sie ihn in einer Situation vorgefunden, die durchaus darauf hinzuweisen schien, dass er Ausschau nach einer ganz anderen Dame gehalten hatte. War es vielleicht doch möglich, dass er wegen Bertha Dorset gekommen war? Bertha schien immerhin so weit von dieser Annahme auszugehen, dass sie zu einer Stunde erschienen war, zu der sie sich gewöhnlichen Sterblichen sonst nie zeigte, und Lily sah im Augenblick keine Möglichkeit, Bertha einen Irrtum nachzuweisen. Ihr kam nicht der Gedanke, Selden könnte einfach dem Bedürfnis gefolgt sein, einen Sonntag außerhalb der Stadt zu verbringen: Frauen lernen nie, in ihrer Beurteilung der Männer ohne gefühlsbedingte Motive auszukommen. Aber Lily war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen; Wettbewerb war für sie eher ein Anreiz zum Kampf, und sie überlegte, dass Seldens Kommen – wenn es nicht bedeutete, dass er sich noch in Mrs. Dorsets Fängen befand – ihn so vollkommen unabhängig von ihr zeigte, dass er nicht einmal ihre Nähe fürchten musste.
Diese Gedanken beschäftigten sie derartig, dass sie in ein Schritttempo verfiel, bei dem es kaum wahrscheinlich war, dass sie die Kirche noch vor der Predigt erreichen würde, und schließlich, nachdem sie die Gärten