Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
Flandern mit. Als Leutnant14 ritt er ein Pferd, seine Liesel, mit dem er sich besonders verbunden fühlte. Aus den Gefahren der Etappe wurde er wie träumend herausgeführt: »Eine blonde Frau und gesunde Kinder standen vor mir, die wollte ich doch gesund erhalten.«
Auf dem Rückmarsch hatte er eine Begegnung mit einem niederrheinischen Mädchen, dessen reines und schlichtes Wesen es ihm angetan hatte. Dieses Erlebnis ließ ihn so schnell nicht los. Es ist kennzeichnend für ihn, wie es ihn umtrieb und belastete, ob er dem Mädchen nicht doch Hoffnungen gemacht hätte, und er nicht ruhte, bis er ihr Verständnis fand und das gute, klare Verhältnis von einst sich auf unsere jeweiligen Familien übertrug. Diese Arbeiterfrau trauerte mit mir um den »allzeit hochverehrten und geliebten Paul«.
Man wüsste gern mehr darüber, wie Paul Schneider den Weltkrieg erlebt, was er dabei durchgemacht, empfunden und gedacht hat. Aber es existieren darüber keine schriftlichen Aufzeichnungen. In dem ersten der beiden Tagebücher, die uns erhalten sind, finden wir nur eine kommentarlose Auflistung der Kriegseinsätze, die er, zuerst an der Ostfront, dann vor allem in Frankreich und Flandern, bis zuletzt mitgemacht hat. In der Eintragung vom 19. Dezember 1918 deutet er lediglich an, wie er die Demobilisierung15 erlebt hat. »Wie gegrüßt wurde …, was alles gesprochen wurde, man mag’s nicht aufschreiben.« Er reibt sich daran, wie einige Soldaten mitten in der Niederlage sich »mit ihren Maitressen« ein luxuriöses Leben machten. »Froh war ich, als ich den Entlassungsschein in der Tasche hatte.« Zu Weihnachten 1918 kehrte P. S. nach Hochelheim zum vereinsamten und vom Kriegsausgang tief bekümmerten Vater zurück.
Hier eine kurze Erinnerung an historische Vorgänge im Zusammenhang mit dem Ende des Ersten Weltkriegs:
Die Entscheidung in Richtung Niederlage fiel für Deutschland und Österreich, als am 6. April 1917 die USA Deutschland und kurz darauf Österreich den Krieg erklärten. Zugleich wurde immer deutlicher, dass eine deutsche Niederlage die Regierung der Hohenzollern in Deutschland stürzen und revolutionären Einflüssen aus Russland Tür und Tor öffnen würde. General Erich Ludendorff setzte in dieser Situation auf eine letzte Großoffensive im Frühjahr 1918. Von ihr erhoffte er den Sieg der deutschen Waffen und die Rettung Deutschlands aus höchster Gefahr. Zugleich setzten die alliierte Kriegspropaganda, Missernten und Hunger (Steckrübenwinter 1917!), Mangel an Kleidung, auch an Verbandszeug im Heer, Seuchen, Typhus, Ruhr, Tuberkulose dem deutschen Volk bedrohlich zu.
Die große Offensive gegen die alliierten Gegner Deutschlands, die am 21. März 1918 losbrach, scheiterte an starken französischen und englischen Gegenangriffen, die von amerikanischen Truppen unterstützt wurden. Dazu kam die erschreckende Wirkung englischer Panzer, der sogenannten Tanks, auf deren Abwehr das deutsche Heer nicht vorbereitet war. Die deutschen Truppen wurden weit zurückgeworfen. Die Heeresleitung musste alle weiteren Offensivpläne aufgeben. Ein Kompromissfriede war nun nicht mehr denkbar. Österreich, das als Deutschlands Verbündeter den Weltkrieg mit durchgestanden hatte, kündigte, unter dem Eindruck der unumgänglichen Niederlage, am 27. Oktober 1918 die Waffenbrüderschaft mit Deutschland, um einen sofortigen Waffenstillstand und Separatfrieden zu suchen.
Erst jetzt, aber nun ganz plötzlich und fast panisch, drängten General Ludendorff und Paul von Hindenburg auf einen schnellen Waffenstillstand, der freilich, in dieser Eile geschlossen, einer Kapitulation gleichkam. »Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volk und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von braven Soldaten das Leben«, schrieben sie mit Hindenburgs Unterschrift an die deutsche Regierung. Diese konnte nun nur noch um Waffenstillstand bitten. »Wir sind dem Diktat des Gegners preisgegeben«, sagte Hindenburg in einem letzten Kriegsrat am 9. November 1918. Deutschland müsse den Waffenstillstand annehmen, wie immer er ausfalle.
Die deutsche Waffenstillstandsdelegation unter der Leitung des Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger, der am 8. November 1918 im Wald von Compiègne von dem französischen Marschall Foch die Bedingungen des Waffenstillstands16 aufdiktiert wurden, fügte sich, starr vor Entsetzen, in das Unvermeidliche. Zugleich fand in Deutschland im November eine weitgehende Revolution statt. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD (radikal-linke SPD), rief am 9. November in Berlin den Generalstreik aus. Der letzte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden, verkündete – ohne dass der Kaiser sie bestätigt hätte – die Abdankung der Hohenzollern und übergab sein Amt an den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SPD, Friedrich Ebert. Philipp Scheidemann, der sozialdemokratische Staatssekretär, rief die Republik aus. Kaiser Wilhelm II verzichtete daraufhin auf seinen Thron, entband Offiziere und Beamte von ihrem Eid und ging in die Emigration nach Holland. Derweilen drohte mit Kriegsende und akuter Hungersnot immer aggressiver der Einfluss des Bolschewismus aus dem Osten. In dieser Situation blieb der deutschen Delegation keine andere Wahl: In der Nacht vom 10. auf den 11. November unterzeichnete sie den Waffenstillstandsvertrag.
Die Verluste an Menschen waren auf beiden Seiten der kriegführenden Parteien unvorstellbar hoch. Etwa drei Millionen Soldaten waren auf deutscher und österreichischer Seite gefallen, dazu kamen von der verbündeten Türkei etwa vierhunderttausend Tote. Russland beklagte mindestens zwei Millionen Kriegstote, Frankreich fast anderthalb Millionen, England eine Million, die USA hunderttausend Tote. Auch waren durch Luftangriffe im Lauf der Kriegsjahre immer mehr Zivilpersonen betroffen. Der Krieg war zuletzt »total« geworden.
Wie hat Paul Schneider diese Niederlage emotional erlebt? Wir müssen davon ausgehen, dass es ihm ging wie fast allen Personen, die aus evangelischen Pfarrhäusern kamen. Sie hatten den Krieg als von Franzosen, Engländern, Russen aufgezwungen verstanden, hatten sich »für König, Volk und Vaterland!« freiwillig zu den Waffen gemeldet – oft mit der Motivation »Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde« (Johannes 15,13). Sie hatten die Worte »Gott mit uns« auf dem Koppelschloss des deutschen Soldaten ernst genommen. Nun, in der Niederlage, nach so vielen Verlusten und unter derart schmählichen Bedingungen, bedrückten sie Zorn und Trauer. Sie hatten größte Mühe, die Niederlage in ihrem Glauben an den gerechten Gott unterzubringen und zu verarbeiten.
Dazu kam das Ende der Monarchie in allen Teilen Deutschlands samt dem Abschied vom Kaiserreich. Die Monarchien waren – bei allen gelegentlichen Konflikten zwischen Hofprediger und Monarch – nach dem Modell des »landesherrlichen Kirchenregiments« durch Jahrhunderte wesentliche Stützen und Schutzmächte der Kirchen gewesen. In mehreren Teilen Deutschlands versuchten jetzt – freilich mit kurzfristigem Erfolg – Kommunisten, die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Sozialdemokratie und Zentrum gingen weithin aus den harten und zum Teil blutigen Konflikten als politische Sieger hervor. Beide Kräfte standen den im evangelischen Pfarrhaus Aufgewachsenen fern. Dazu kamen der Versailler Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet werden musste, die maßlosen Reparationsforderungen der Siegermächte, die Deutschland fast bis zum Ende des Jahrhunderts in eine Art Schuldknechtschaft versetzen sollten und durch die an einen Neuaufbau deutscher Wirtschaft nicht zu denken war; die Abtretung von Elsaß-Lothringen, des oberschlesischen Industriegebiets, der Provinzen Posen und Westpreußen, des Memellandes, des Saargebiets und der deutschen Kolonien sowie die Beschränkung des deutschen Heeres auf hunderttausend Mann. All das hat den national eingestellten Deutschen tief deprimiert.
Noch heftiger waren der Schmerz und die Empörung über den Artikel 231 des Versailler Vertrages, die These von der alleinigen Schuld Deutschlands am Weltkrieg, mit der begründet wurde, dass allein Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle entstandenen Verluste und Schäden verantwortlich seien. Vor allem dieser »Kriegsschuldparagraf« demütigte die Deutschen und gab bald alten und neuen nationalistischen Bewegungen Auftrieb. Auch in kirchlichen Kreisen wurde »die Kriegsschuldlüge« als Schmach empfunden. Sie vor allem bewirkte es, dass Nationalisten in völliger Verdrehung der Tatsachen die »Dolchstoßlegende« aufbrachten. Dieser zufolge ist die »Heimat«, besonders kommunistische und sozialdemokratische Politiker, der heldenhaft kämpfenden deutschen Armee mit einer Art »Dolchstoß« in den Rücken gefallen. Dadurch hätten sie ihren endgültigen Sieg verhindert. Hauptsächlich die Dolchstoßlegende trug dazu bei, dass Politiker, die im November 1918 den Waffenstillstand geschlossen hatten, bald als »Novemberverbrecher« bezeichnet wurden.
Nach dem Kriegsende war es aus mit Pauls