Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
Streiter Gottes in den Sielen sterben. Ein Christ und Glaubensmensch wird ja geistlich immer jünger und frischer und geläuterter und bewährter für den Dienst seines Herrn«.29 Karl Dieterich war als künftiger Schwiegervater für Paul Schneider ein interessanter, anspruchsvoller und gewichtiger Gesprächspartner. Im Übrigen war er ein musisch vielseitig tätiger Mann, besonders was das Dichten und das Dirigieren des Chores betrifft; auch der Ahnenforschung gab er sich hin.30
Noch wichtiger als Gegenüber wurde für P. S. Karl Dieterichs Frau Marie, Gretels Mutter. Sie zog ihre zehn Kinder auf und betreute ihren epileptischen Sohn Konrad bis zu dessen Tod im Jahr 1940. Sie war von lebenserfahrener Güte und wurde für P. S., der seine eigene Mutter so früh verloren hatte, bald eine Art Ersatzmutter, was seine zahlreichen Briefe an sie zeigen, in denen er sie auch zur Mitwisserin seiner kirchenpolitischen und politischen Konflikte machte. Immer wieder drückt er in seinen Briefen dieser zweiten Mutter seine große Dankbarkeit aus.
So schreibt er besonders eindrücklich im Blick auf beide Schwiegereltern am 18. Februar 1927, fünf Tage nach dem Tod des Schwiegervaters, an Marie Dieterich: »Wie bist Du eine so starke, liebe und tapfere Mutter! … Wie müssen wir Kinder alle Dir dankbar sein, dass Du, die Nächstbetroffene, so aufrecht und gottvertrauend uns vorangehst! So bist Du doch noch bei uns, nachdem der liebe Vater von uns gegangen ist. Darf auch ich mich ja zu seinen Kindern zählen? So viel Vertrauen und Liebe habe ich ihm ja zu danken. Vielleicht ist unter dem, was mir von Menschen geschenkt wurde, Vaters Vertrauen das Größte und Beste geworden nebst Gretels herzinniglicher und Deiner mütterlichen Liebe und nebst der doch wieder so andersartigen Liebe meiner Eltern … Ich darf es Dir vielleicht hier sagen, was ich mit Worten Dir nicht hätte sagen können, weil ich meine, es tröste Dich: dass ich Vater lieb gehabt habe; Ihr seid mir ja beide wahrhafte Eltern geworden.«31
Was Gretel, die Jüngste, betrifft, so zeigen frühe Fotografien, dass sie einen natürlichen Charme hatte. Wie schön sie war, sehen wir auch auf einem bemerkenswerten Holzschnitt des Künstlers Fritz Franck, der sie als »Eva mit dem Apfel« beim Oberufener Paradeisspiel darstellt, das in den frühen Zwanzigerjahren in verschiedenen Stadtkirchen durch das Studentenwerk aufgeführt wurde. Jeder, der sie kannte, erinnert sich gern ihrer frischen, direkten Herzlichkeit. Es fällt nicht schwer, sich zwischen ihr und dem Studenten Paul im schönen Tübingen eine Liebesgeschichte vorzustellen.
Gretel und Paul haben, da sie sangeslustig waren und beide gute Stimmen hatten, unterwegs gern miteinander gesungen. Etwa ihr Lieblingslied »Ännchen von Tharau« und andere. Gretel lebte, so sagte sie im Gespräch, in ihren jungen Jahren gern nach dem Vers von Ludwig Uhland:
Singst du nicht dein ganzes Leben,
sing doch in der Jugend Drang,
nur im Blütenmond erheben
Nachtigallen ihren Sang.
Von Heims32 »Ethik« ist Paul tief erfasst, sein bisheriges Leben in seiner »Eitelkeit« liegt vor ihm, die innere Unruhe und Sehnsucht nach der Ruhe in Gott nimmt zu. Im Wintersemester 1921 ist er wieder in Marburg. An einem Vorweihnachtstage dringt ein Strahl des ewigen Lichts33 in seine Seele, es hebt ein großes Freuen an, und er zehrt lange von diesen »seelischen Erregungen und Bewegungen«; das Wissen davon, dass Gott Licht werden lassen kann, bleibt in ihm.
Innerhalb des Wingolf kam es immer wieder zu Konflikten, bis die Verbindung im Sommer 1921 »diesmal aus eigener Initiative das Band zwischen sich und mir zerschnitt, da ich Kommentformen und Institutionsformen, ›die Grundlagen des Verbindungslebens‹, als reformbedürftig angegriffen habe. In der Hauptsache war es der Trinkkomment34. Ich von mir aus hätte drum ruhig in der Verbindung bleiben können, bin nun aber doch froh, Zeit und Kraft für andere Dinge frei zu haben« (Tagebuch). Aus dem Gießener Wingolf trat Paul 1933 aus. Er verweigerte in Ablehnung des Arierparagrafen35 – in einer »christlichen« Verbindung – den arischen Nachweis.
Die Frage, wie Paul Schneider zur Studentenverbindung Wingolf stand, und besonders die Frage, ob er aus ihr ausgetreten ist, wurden in den letzten Jahren mehrfach von Wingolfiten bearbeitet. Deutlich ist, dass P. S. in Marburg nach erheblichem Zögern in die Verbindung eingetreten ist.36 Im Tagebuch finden wir am 4. Oktober 1919 die Information, er habe sich im Wingolf aktiv gemeldet und er trage nun »das grün-weiß-goldene Band und Mütze. War’s recht für mich? Ich weiß es heute noch nicht. Allzu reges geistiges Leben ist, glaube ich, in der Verbindung nicht drin. … Es wäre das Turnen in den Vordergrund zu rücken, Frühschoppen wäre zu beseitigen, Fernbummels in Wanderungen umzuführen und endlich den Bierkomment abzuschaffen.« Er stellt dann fest: »Merkwürdigerweise sind es Leute, die einen weniger straffen Korporationsstandpunkt vertreten, an die ich mich anschließe.«
Offenbar hat im Gießener Wingolf in den Jahren 1919 bis 1921 eine verstärkt christliche und soziale Richtung vermehrt Zulauf bekommen. Das hat dort zu einer zunehmenden Innerlichkeit geführt. Einen anderen Eindruck macht der Marburger Wingolf in diesen Jahren. Die Trinksitten sind in Marburg intensiver gepflegt worden, als sie in Gießen überhaupt erlaubt waren. Bierspiele, d. h. Wetttrinken, waren beim Wingolf in Gießen verboten, nicht aber in Marburg.37 Mit Blick auf seine Erfahrungen mit dem Marburger Wingolf schreibt P. S. am 4. Juni 1920 an den Wingolf Gießen, er bitte um Verständnis dafür, dass er aus dem Wingolf austreten müsse. Es sei ihm klar geworden, wie fremd er dem Korporationsgedanken sei. Sie wüssten ja, dass er von Anfang an ein Mitläufer, wenn nicht gar ein Hemmschuh gewesen sei. Schließlich lässt er durchblicken, er werde sich in Marburg der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft« anschließen.
Im Dezember 1920 finden wir in P. S.s Tagebuch »Gedanken für Gießener Kneipe«. Offenbar war er trotz seines Austritts doch bei der »Weihnachtskneipe« des Wingolf dabei. Er wollte dabei folgende Gedanken vortragen: Er habe den Marburger Wingolf verlassen müssen, weil dort die Korporation »Alleinherr und Tyrann« und das Christliche zur Farce geworden sei. Das sei wohl nicht nur in Marburg so. »Was gilt uns höher? Christentum oder Korporation? Ist das Christentum uns nur das Kleid, um unserer Korporation Form damit zu umfangen?« Erst wenn sie durch den Heiligen Geist zu lebendiger Gemeinschaft gelangen wollten, hätten sie das Recht, sich »christliche Verbindung Wingolf« zu nennen. P. S. bot dem Wingolf seinen Wiedereintritt an. Er fügte hinzu: »Je mehr wir zu einer Bruderschaft von Christen zusammenwachsen, umso unwesentlicher wird uns das Korporationskleid.«
Am 16. Januar 1921 teilt P. S. dem Wingolf-Konvent in Gießen mit, dass er wieder in Marburg aktiver Wingolfit sei. Ausführlich begründet er, was ihn damals zum Austritt veranlasst habe: Er habe die strenge korporative Zucht als zu freiheitsverkürzend empfunden und habe in ihr »das menschliche und das christliche Moment« vermisst. Auch habe er darin das »Züchten von Klassengeist und ein Hemmnis unserer sozialen Entwicklung« gesehen.
Er sehe jetzt aber in der korporativen Freiheitsbeschränkung eine Erziehung zur Selbstüberwindung und zu gemeinschaftlicher Arbeit. Er stehe durchaus auf dem Boden der Korporation. Dass ihm »eine persönliche Vorliebe für gewisse freideutsche und Wandervogelgepflogenheiten« bleibe, für die er sich auch künftig – natürlich ganz im korporativen Rahmen – »aus Gründen der Vernunft und der Gesundheit einsetzen werde«, das stehe auf einem anderen Blatt. Solange die Korporation sich keine Übergriffe in ihr fremde Gebiete wie z. B. »in allgemeinmenschliche, auch allgemeinstudentische Fragen, und vollends auf das religiöse Gebiet« leiste (P. S. meint wohl: solange sie das Gewissen des Einzelnen achte), bejahe er durchaus die Unterordnung. Er fügt hinzu: »Gesundheit und gesunde Grenzen der Korporation scheinen mir überall da gewährleistet zu sein, wo der Religion, bei dem christlichen Wingolf dem Christentum, der erste Platz eingeräumt wird.«
Den Gießenern teilt er mit, auf ungefähr die gleiche Erklärung hin habe ihn der Marburger Wingolf wieder aktiviert. Offenbar wurden aber in Marburg P. S.s kritische Auffassungen über das Verbindungsleben bald nicht mehr akzeptiert. Am 14. Juni 1921 schreibt er an seine Mutterverbindung in Gießen: »Liebe Brüder! Herzlichen Gruß zuvor! Ich teile Euch hierdurch mit, dass der Marburger Wingolf mir den Rat zum Austritt erteilt hat mit der Begründung, dass er andere Ansichten habe als ich. Es handelt sich um meine Stellungnahme gegen den Trinkkomment und Bierkonsum des Marburger Wingolf. … Ich bemerke noch, dass ich selbst mein Bleiben