Kämpferherz. John Eldredge

Kämpferherz - John Eldredge


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oder Hanteltraining. Ich habe auch gelernt, mit den verschiedensten Menschen und mit ihren Eigenarten umzugehen. Es liegt eine eigene Schönheit darin, dieses Abenteuer zu akzeptieren. Sie befreit dich vom Druck des „Ichwill-alles-und-zwar-sofort“.

      Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Aber meinst du damit auch: „Der Weg ist das Ziel“? Dieses Mantra hilft mir überhaupt nicht weiter. Es klingt eher nach Verdrängung als nach der Wahrheit.

      Nein, ich bin kein Anhänger von „Der Weg ist das Ziel“. Das haben Leute erfunden, die nie ihren eigenen Weg gefunden haben und eine Rechtfertigung für ihre Ziellosigkeit brauchten. Es ist ein pubertäres Hirngespinst. Der Weg ist der Weg; das Ziel ist das Ziel. Eine Reise nach Singapur ist etwas anderes als ein Aufenthalt in dieser Stadt. Während des Fluges muss man sich die Hoffnung auf diese Stadt – die Träume und Wünsche – vor Augen halten. So viele Flugstunden können schon brutal sein; man hat das Gefühl, in einer endlosen Reise gefangen zu sein und nie anzukommen. Das Herz sinkt im Sturzflug nach unten, und die einzige Hoffnung, die noch bleibt, ist die, dass bald mal wieder jemand mit Getränken vorbeikommt.

      Natürlich hast du einen Weg vor dir. Aber dieser Weg hat ein Ziel: ein echter Mann zu sein, also über die Weisheit und innere Stärke zu verfügen, eine Frau zu lieben, und zwar dein Leben lang, ein guter Vater zu sein, eine Bewegung anzuführen, über ein Königreich zu herrschen und die Welt zu verändern. Du bist noch in der Ausbildung zum Kämpfer (und gleichzeitig in der Phase des Liebhabers; darauf kommen wir gleich). Dieser Abschnitt deines Lebens hat etwa mit siebzehn oder achtzehn begonnen, und er stellt jetzt deine Hauptaufgabe dar. Der Kämpfer erlernt die Kunst, an seinen Träumen festzuhalten. Und er akzeptiert die Strapazen, die es mit sich bringt, ein Mann zu werden, dem man diese Träume anvertrauen kann. Die Begeisterung des Jungen ist undiszipliniert und richtungslos; ja, er verliert leicht den Mut und auch den Weg.

      Zu den großen Gegnern, die deine Generation besiegen muss, gehört das Anspruchsdenken. Ihr wart die Kinder, die in jedem Fall eine Urkunde erhielten – ob sie nun gewonnen oder verloren oder überhaupt nicht am Wettkampf teilgenommen hatten. Und dafür muss meine Generation sich bei euch entschuldigen. Wir hatten so viel Angst davor, es genauso miserabel zu machen wie unsere eigenen Eltern, sodass wir zu nachgiebig waren und die Spielregeln verweichlicht haben. Wir haben uns zu viel um euer Selbstwertgefühl gesorgt und zu wenig um eure Arbeitsmoral. Ein Junge mit diesem Anspruchsdenken glaubt, das Leben müsse leicht sein, alle Träume sollten wahr werden und jeder bekommt einen Pokal, egal, was er leistet. Und dieser Junge ist ernsthaft schockiert, wenn er – oft sehr schmerzhaft – feststellen muss, dass die Welt ihm keinen Penny schuldet.

      Das erinnert mich an Santiago aus Der Alchimist von Paulo Coelho. Es gehört zu den Büchern, die mich richtig begeistern; ich habe es schon ein paar Mal gelesen. Santiago ist ein junger Mann mit einem Traum von einem vergrabenen Schatz. Er lernt, auf sein Herz zu hören und nach Hinweisen Ausschau zu halten, während er seinem Traum folgt. Das ist tatsächlich im Wesentlichen die Handlung. Es ist eine Geschichte darüber, wie jemand seinen Träumen auf der Spur ist, Zweifel und Rückschläge überwindet, Liebe und Gefahr durchlebt und am Ende seine Träume verwirklicht sieht.

      Ich liebe diese Geschichte auch deswegen, weil ich möchte, dass sie wahr ist – für mich wahr wird. Dass es stimmt: Wenn ich meinem Traum folge, Hinweise beachte und Rückschläge überwinde, dann wird es in meinem Leben Abenteuer und Romantik geben, dann werde ich meinen Schatz finden. Ziemlich am Anfang des Buches schildert Coelho diese wunderbare Hoffnung, damit die Reise beginnen kann. In dem Moment, in dem Santiago sich entscheiden muss, ob er seinem Traum folgen will oder nicht, begegnet ihm Melchizedek, der „Weise“.

      „Alle Menschen wissen zu Beginn ihrer Jugendzeit, welches ihre innere Bestimmung ist. In diesem Lebensabschnitt ist alles so einfach, und sie haben keine Angst, alles zu erträumen und sich zu wünschen, was sie in ihrem Leben gerne machen würden. Indessen, während die Zeit vergeht, versucht uns eine mysteriöse Kraft davon zu überzeugen, dass es unmöglich sei, den persönlichen Lebensweg zu verwirklichen.“

      Kurz zuvor hatte Melchizedek gesagt:

      „[Sie glauben] an die größte Lüge der Welt.“

      „Welches ist denn die größte Lüge der Welt?“, fragte der Jüngling überrascht.

      „Es ist diese: In einem bestimmten Moment unserer Existenz verlieren wir die Macht über unser Leben, und es wird dann vom Schicksal gelenkt. Das ist die größte Lüge der Welt!“8

      Ich empfehle dieses Buch ständig weiter. Einige der besten Gespräche, die ich bisher geführt habe, hatte ich mit Freunden, meist spätabends, wenn wir einfach über unsere Träume geredet haben und davon, dass uns nichts davon abhalten könnte, nach Afrika zu gehen oder eine Firma zu gründen oder die erste Zeitung herauszubringen, die wirklich die Wahrheit berichtet. Wir saßen unter dem Sternenhimmel und hatten das Gefühl, nichts sei unmöglich. Das waren großartige Momente. Aber es ging uns wie Santiago, als er in Tangier beraubt wird: Wir vergessen dieses Gefühl, sobald die Sonne aufgeht, und Zweifel schleichen sich ein. Ich weiß nicht, wie viele von uns die Träume verfolgen, die sie in diesen Nächten so anschaulich beschrieben haben. Es tut mir so leid für meine Freunde. Ich wünsche es jedem von ihnen, dass er sich auf die Spur seiner Träume macht, bevor die Stimme der Bequemlichkeit oder der Angst die Träume „ändert“ (besser gesagt: besiegt). Sonst sind sie weiter auf der wilden Jagd nach allem und jedem in der verzweifelten Hoffnung, dass doch irgendwann das Glück kommt.

      Später, als Santiago seinen Traum fast schon aufgeben will, schenkt uns Coelho eine weitere weise Einsicht: „Wir fürchten uns lediglich vor dem Verlust dessen, was wir besitzen, fürchten um unser Leben oder die Felder, die wir bestellt haben. Aber diese Angst vergeht, wenn wir begreifen, dass unsere Geschichte und die Geschichte der Erde von derselben Hand geschrieben wurden.“9

      Dieser Satz ist einfach genial – und so beruhigend.

      Ich liebe dieses Buch ebenfalls. Bestimmt begeistert dich Der Alchimist, weil die Geschichte eine tiefe Wahrheit bestätigt. Sie flüstert dir eine Verheißung zu, nach der sich unser Herz sehnt: Es ist möglich. Das Leben kann gelingen. Träume können wahr werden. Aber vergiss nicht: Du kennst Santiagos Geschichte nur von außen. Was glaubst du, wie sich das alles für ihn selbst angefühlt hat? Vielleicht ganz ähnlich wie das, was du im Moment erlebst: Manchmal bist du voller Hoffnung, manchmal durcheinander, gelegentlich orientierungslos und ein wenig entmutigt. Wir lieben Santiago, weil er ist wie wir. Und noch etwas: Zu Anfang der Geschichte ist Santiago ein Jugendlicher. Am Ende ist er zu einem jungen Mann geworden.

      Diese Geschichten sind wie Landkarten. Der Blick von außen vermittelt eine Vorstellung von der Beschaffenheit des Geländes und hilft, sich zu orientieren; aber wenn man von der Karte wegschaut auf das, was direkt vor Augen liegt, dann sieht die Sache anders aus. Wie in der Redensart: „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder bewusst machen: In einer großen Geschichte zu leben, daran teilzuhaben, sieht anders aus und fühlt sich auch ganz anders an, als wenn wir einfach von außen zusehen, wie diese Geschichte sich entfaltet. „Der Weg durch die Welt ist schwerer zu finden als der Weg darüber hinaus“, schrieb der Dichter Wallace Stevens.10 Eine zentrale Botschaft von großen Erzählungen – wie Der Alchimist, Der Hobbit, Die Aeneis und andere – lautet: Verzweifle nicht. Verlier nie den Mut. Hüte dein Herz. Der Kampf um ein Leben, das sich lohnt, ist weit mehr Handwerk als Wissenschaft. Es ist das Handwerk des Kämpfers.

      Ich habe eine bemerkenswerte Dokumentation über die Jäger der Dorobo im Süden Kenias gesehen. Die Waffen, die sie verwenden, sind nicht stark genug, um große Tiere zu erlegen. Deshalb stehlen sie die Beute von Löwen. Mit erstaunlichem Mut und bewundernswertem Geschick tauchen sie direkt vor dem Rudel auf, das gerade den Fang verzehrt. Ihr unerschütterliches Selbstvertrauen schlägt die Löwen in die Flucht. Die nächste Szene zeigt die Jäger an einem Feuer, über dem sie eine Antilopenkeule braten, die sie lachend verzehren. Dann sagt einer: „Aber nicht jeder kämpft mit Löwen; manche Leute sind feige.“11

      An diesem Feuer möchten wir auch sitzen – beim Festschmaus derjenigen, die etwas gewagt haben. Dazu braucht es Mut. Denn die Hauptursache dafür, dass Menschen aufgeben und ihre Träume verraten, ist Angst. Es braucht Ausdauer, denn nichts


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