Die dünne Frau. Dorothy Cannell

Die dünne Frau - Dorothy  Cannell


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      »Ich bin dem Gärtner begegnet«, sagte ich.

      »Ach, der! Wohnt in dem Häuschen beim Eingangstor. Klippenblick heißt es.« Sie zog die Nase hoch, vielleicht machten die Bleichdämpfe aus den Tüchern ihr die Nebenhöhlen frei. »Bei dem schlechten Wetter gestern Abend wird es dir nicht aufgefallen sein. Warum Merlin diesen Jonas behält, ist mir ein Rätsel. Dauernd fehlt ihm was. Aber so sind die Männer – nur glücklich, wenn sie was zum Jammern haben. Mit Merlin ist das natürlich eine andere Geschichte.« Ihre von der Bleichlauge verschrumpelten Hände wanderten zu ihren Haaren und richteten eine Strähne.

      »Jonas’ Husten hat sich ziemlich echt angehört und damit läuft er draußen rum.« Ich schälte mich aus meinem Mantel.

      »Will nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und wenn’s keine Erkältung ist, dann ist es was anderes. Letzten Sommer war es der Stuhlgang und davor Krampfadern. Nicht ein Unkraut im Garten gejätet, außer um irgendeinen Heiltrank zu brauen. Und Merlin bestand darauf, dass ich Jonas morgens, mittags und abends heißen Tee davon brachte.« Ihr Unterkiefer zitterte. »Als ob ich nicht genug zu tun hätte, ohne hypochondrische Dienstboten zu verwöhnen. Ja, ich weiß, wir haben unsere Verpflichtungen gegenüber dem Proletariat – und wenn Jonas der Butler wäre oder zumindest irgendwas Sauberes, würde es mir auch nicht so viel ausmachen.«

      So etwas von blasiertem Dünkel! Langsam fragte ich mich, ob Onkel Merlin hinter der Maske des bösartigen Einsiedlers nicht doch ein oder zwei lobenswerte Charakterzüge besaß. Wenigstens behandelte er jedermann mit gleicher Verachtung, und er schien an Jonas zu hängen. Oder war das nur, weil der Mann ihm zur Unterhaltung diente? »Onkel Merlin muss doch froh darüber sein, dass seine eigene Gesundheit unverwüstlich ist«, regte ich an.

      Tante Sybil fixierte mich mit einem Blick, der sagte »Was weißt du schon davon?« Sie schälte Kartoffeln und zog eine regelrechte Schau ab. Unter dem Ansturm ihres Messers flogen die Schalen in alle Richtungen. Meine Hilfe wurde kategorisch abgelehnt, nur sie allein wusste, wie Onkel Merlin sein Gemüse mochte.

      »Der Arme, er ist einsam«, sagte sie. »Er und Jonas sind wie Pech und Schwefel, stecken ständig die Köpfe zusammen über Kreuzworträtseln oder Spielkarten. Ich mache mir Sorgen, denn« – sie fixierte mich mit ausdruckslosen, wässerigen Augen – »abgesehen vom Klassenunterschied hat Jonas für mein Gefühl keinen guten Einfluss auf Merlin. Er bringt ihn zum Lachen, ja manchmal dazu, sich völlig albern aufzuführen. Sehr unschicklich! Sein Vater, der selige Onkel Arthur, sagte nie mehr als ›Holen!‹ und ›Bringen!‹ zur Dienerschaft. Aber ich habe so wenig Zeit, mich hinzusetzen, wo ich das ganze Haus in Ordnung halten muss, und er gehört schließlich, wie man so sagt, einer neuen Generation an.«

      Onkel Merlin voll im Trend? Unter Anpassungsdruck?

      »Jonas sah ziemlich harmlos aus«, sagte ich.

      Tante Sybil schniefte und wütete weiter mit ihrem Messer. Das Mittagessen war noch ein Erlebnis, das man besser rasch vergisst, denkwürdig allein, weil ich mehrere Pfunde abnahm. Vanessa mit Schmollmündchen war verführerischer denn je, mein Verlobter verdrossen und Onkel Merlin beehrte uns nicht mit seiner Anwesenheit. Tante Sybil verkündete, als bereite sie uns eine große Freude, dass er zum Tee herunterkäme.

      Der Nachmittag neigte sich zur Dämmerung. Die Standuhr in der Halle schlug vier, und prompt gingen die Verwandten in Stellung. Tante Sybil drückte sich bei der Tür herum wie ein begeisterter Fan, der seinem Idol an der Bühnenpforte auflauert. Aus der Halle ließen sich langsame, gedämpfte Schritte vernehmen. »Da kommt er«, rief sie. »Mein lieber Merlin, ich habe sie mit dem Tee nicht ohne dich anfangen lassen. Wir haben alle auf dich gewartet.«

      »Das glaube ich gerne.« Onkel Merlins Stimme war kräftig, obwohl er sich schwer bei Tante Sybil aufstützte, eine graue, schattenhafte Gestalt im Halbdunkel. »Eine Bande von Aasgeiern seid ihr, alle miteinander«, schnaubte er giftig. »Stürzt euch auf mich, um mir das Fleisch von den morschen Knochen zu hacken, aber ich lege euch alle rein, jeden von euch. Noch bin ich nicht tot, und wir wollen mal sehen, wer zuletzt lacht.«

      »Was für ein böser alter Mann«, sagte Tante Astrid und erstickte fast, so heftig zog sie an ihren Perlen. »Wahrscheinlich vermacht er alles einem Katzenasyl. Er gehört in eine Anstalt.«

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