Die dünne Frau. Dorothy Cannell

Die dünne Frau - Dorothy  Cannell


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keine Witze gerissen. »Es muss schwer für dich sein, Ellie, eine Cousine wie Vanessa zu haben«, schnarrte sie und schaute dabei über mich hinweg, »aber Gehässigkeit ist nie kleidsam.«

      Freddy zwinkerte mir zu. »Ich mag Ellie, wenn sie kiebig ist. Nicht kleidsam ist dieser scheußliche rote Aufzug. Bist du aus einem Harem entsprungen oder ist der Scheich als Erster geflohen?«

      Tante Astrid redete über uns hinweg. »Felini Senghini gilt unter Eingeweihten als der Modeschöpfer des Jahrhunderts.«

      »Ellie, meine Liebe«, miaute Vanessa, »willst du mir nicht gratulieren?«

      Diese Zumutung wurde mir erspart durch die Ankunft von Tante Sybil mit dem Abendbrottablett. Einen freien Platz dafür aufzutreiben, erforderte einige Findigkeit. Ben eilte zu Hilfe und schob auf dem Büfett zwei Messingleuchter und eine angelaufene Silberschale voll mit Haarnadeln, Zuckerwürfeln und einem grauen Wollknäuel beiseite.

      »Was ist denn los mit dir?«, hauchte er mir ins Ohr. »Ich fange an, mich zu amüsieren.«

      »Gewöhn dir das nicht an«, zischte ich zurück.

      »Soll heißen?«

      »Soll heißen, wenn du nicht aufhörst, dich an Vanessa ranzuschmeißen, kannst du deinem Honorar Ade sagen.«

      Ben besaß die Frechheit, ein erstauntes Gesicht zu machen. Bevor er antworten konnte, schlich sich Freddy von hinten an. »Reden wir ein bisschen über euch zwei, alle blutrünstigen Einzelheiten – wo ihr euch kennengelernt habt und so.«

      Ben und ich schauten uns an, für den Augenblick einte uns ein labiler Waffenstillstand. »Wo war das, Ellie?«, murmelte mein Mitverschwörer, den Mund voll altbackenem Sandwich. »Wir kennen uns … schon eine Weile, und das Drum und Dran … die Einzelheiten sind recht …«

      Und dieser Mann wollte ein schöpferisches Genie sein!

      »Ball der Einsamen Herzen?«, schlug Freddy vor.

      Ich trat Ben fest auf den Fuß und signalisierte ihm, dass er das Fabulieren mir überlassen sollte. Er stöhnte kurz auf, vor Erleichterung oder auch vor Schmerz, denn seine Augen waren etwas glasig, als ich seelenvoll hochblickte. Zur Beruhigung drückte ich ihm noch zärtlich die Hand, was ein leises Autsch auslöste und ein Aufblitzen der weißen Zähne, das er Freddy zuliebe hastig in ein strahlendes Lächeln umwandelte.

      »Ben leidet durchaus nicht an Gedächtnisschwund«, sagte ich, »aber unsere erste Begegnung fand unter recht traurigen Umständen statt. Nämlich auf einer Protestversammlung gegen Kindesmisshandlung vor der Halleluja-Erweckungskirche.«

      »In der Kirche!« Tante Sybil reichte mir einen Krug mit lauwarmem Wasser, um darin die Kaffeekanne aufzuwärmen. »Wie hübsch. Das ist doch mal etwas anderes als diese Discos und Single-Bars. Welcher Konfession gehören Sie an, Mr. Händel?«

      »Haskell. Gläubiger Ath–«

      »Jedes Kind sollte im Glauben erzogen werden«, mischte sich Tante Astrid gewichtig ein und gab Ben zu verstehen, dass sie nicht beeindruckt war. »Warum kann nicht jeder in der Anglikanischen Kirche sein? Was der Königin gut genug ist, ist es mir allemal!«

      Ich vermied sorgfältig, Ben anzuschauen. »Tante Sybil«, fragte ich, »wann werden wir Onkel Merlin sehen?«

      »Wahrscheinlich nicht vor morgen Abend.« Tante Sybil versuchte, drei Leute gleichzeitig mit Kaffee zu versorgen. »Ihr jungen Leute müsst bedenken, dass der arme Merlin nicht jünger wird.«

      »Nicht gerade ungewöhnlich«, murmelte Freddy.

      Glücklicherweise bekam Tante Sybil diesen ruppigen Kommentar nicht mit. Sie fuhr fort: »Der Morgen macht ihm immer zu schaffen. Er sagt, das Licht tut seinen Augen weh.«

      »Verwandelt sich allmählich in Dracula, was?«, witzelte mein unverbesserlicher Vetter. Er und Ben grinsten sich zu wie ungezogene Schuljungs.

      »Ist das die Erklärung für das funzlige Licht überall?« Onkel Maurice ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schweren Schrittes auf dem abgewetzten Kaminvorleger auf und ab.

      »Es tut mir leid, wenn du das Gaslicht bedrückend findest.« Tante Sybil sah tief verletzt aus, als sie sich der Gruppe um den Kaminvorleger zugesellte.

      Ben bot sein charmantestes Lächeln dar. »Ist eine Sicherung durchgebrannt? In einem alten Haus, das so einsam liegt, und bei dem Schneesturm würde mich das nicht wundern.«

      »Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, Mr. Hamlet. Aber wir leiden keineswegs unter Strommangel. Wie ich schon sagte, mag Merlin kein helles Licht; aber der Grund, weshalb er auf dieser Etage keinen Strom benutzt, ist völlig selbstlos. Er mag etwas abgeschieden leben, aber er liest Zeitungen – nicht diese grauenhaften Skandalblätter, die Partnertausch und Geschlechtsumwandlungen herausposaunen, sondern die Times und den Telegraph. Und Merlin meint, auch er müsse einen Beitrag zur Bekämpfung der Energiekrise leisten.«

      »Kokolores!«, donnerte Onkel Maurice. »Da bin ich anderer Meinung.«

      Ben wandte sich um und betrachtete ihn kühl. »Ich finde, der Mann verdient Respekt.«

      »Selbstaufopferung ist schön und gut«, schaltete sich Tante Astrid ein, als hätte sie selbstverständlich das letzte Wort zu diesem Thema, »solange sie nicht fanatisch wird. Wenn Weltraumraketen hin- und hersausen wie Fernlaster, dann besitzt hoffentlich niemand die Unverfrorenheit, von mir den Verzicht auf alles zu verlangen, was zum Leben einer Dame gehört.«

      »Keine Sorge, Tantchen«, tröstete Freddy, »die Zeiten des Außenklos sind lange vorbei.«

      »Müssen denn alle meckern?« Vanessa sprach zum ersten Mal seit langem. (Ohne Zweifel braucht es angestrengte Konzentration, um stundenlang hinreißend auszusehen.) »Ich hatte mir vorgestellt, wir verbringen alle ein himmlisches Wochenende miteinander.« Sie befeuchtete ihre schimmernden Lippen und bedachte Ben mit einem verführerischen Augenaufschlag.

      »Ich meckere nicht«, sagte ich griesgrämig. »Das trübe Licht stört mich nicht. Ich mag es sogar.«

      »Natürlich!«, schnurrte Vanessa. »So sehen wir nur die Hälfte von dir.«

      Schweigen verdickte die Luft, und etwas Düsteres und Finsteres ergriff Besitz von meinem Hirn. »Ach ja? Deshalb muss wohl Ben gesagt haben, er könne gar nicht genug von mir kriegen, als er mir in einer Mondnacht einen Heiratsantrag gemacht hat. Oh, Liebling, tut mir leid.« Ich wandte mich zu meinem neuen Verlobten und senkte entschuldigend meine verkümmerten Wimpern. »Ich weiß, wir wollten mit der entzückenden Neuigkeit warten, bis Onkel Merlin hier ist, aber ich konnte nicht widerstehen. Will uns niemand gratulieren?«

      »Du willst heiraten?«, tönte Tante Astrid, als hätte ich ein heiliges Sakrament obszön entweiht. Der Rest war erstarrt. Meine Verwandten sahen mit ihren offenen Mäulern herzlich komisch aus. Ich wollte schon lachen, da sah ich Bens Gesicht. Richtig schade, dass ihm das keinen Spaß machte. Schließlich bekommt man nicht alle Tage eine neue Verlobte, noch dazu, ohne zu fragen.

      »Ach, das ist hübsch«, sagte Tante Sybil. »Ich selber war ja nie sehr aufs Heiraten aus, aber heutzutage, wo man sich ohne Weiteres scheiden lassen kann, ist natürlich alles viel einfacher. Und jetzt sind wir alle müde, also gute Nacht. Ihr müsst jeder eine Kerze mitnehmen, damit ihr die Treppe rauffindet. Rechts vom Treppenabsatz ist ein Lichtschalter. Ich sehe euch dann morgen früh.«

      »Die Klasse kann abtreten!«, wisperte Freddy und langte nach der größten Kerze. Zweifellos die Macht der Gewohnheit; als Kind hatte er sich immer das Kuchenstück mit der Kirsche drauf geschnappt. Das, das ich haben wollte. An der Tür wandte ich mich um, ob Ben mir wohl folgte, um mir, sobald wir allein waren, den Hals umzudrehen, aber er sagte gerade Vanessa ausführlich Gute Nacht. Wären ihre Kerzen sich noch näher gekommen, wären beide in Flammen aufgegangen. Unter dünnem Gemurmel verspäteter Glückwünsche ging ich verzagt in die Empfangshalle und stieß prompt mit Onkel Maurice zusammen, der mir an der Treppe aufgelauert hatte. Er stellte unsere Kerzen auf ein Marmortischchen und umklammerte meine Hände mit seinen feuchten und schwammigen Fingern.


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