Die dünne Frau. Dorothy Cannell

Die dünne Frau - Dorothy  Cannell


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entronnen waren! Außerdem hatten Freddy und Ben die meisten verdrückt! Ich klopfte energisch das Kissen auf und genoss meinen Zorn. Wenn Tantchen nicht kochen konnte, was war schon dabei, vom Bäcker ein paar Bratwürstchen im Schlafrock zu holen und vielleicht noch Blätterteigpasteten? Mein Magen fluchte und jubelte abwechselnd. Jedenfalls schien er entschlossen, mir keine Ruhe zu gönnen.

      Eine Lichtspirale erhellte das ansonsten dunkle Zimmer: Mondlicht, vom Schnee zurückgeworfen. Diese Beleuchtung reichte zum Ablesen der Uhr. Halb drei. Noch Stunden bis zum Frühstück, und ich setzte in dieses Mahl keine großen Hoffnungen. Klumpiges Porridge und kalter Tee waren keine ausreichende Ernährung für eine Frau im Wachstum. Ich kletterte aus dem Bett und fröstelte in der kalten Luft. Das Feuer hatte längst den Geist aufgegeben, und es wunderte mich nicht, dass das rote Ungetüm immer noch eher nass als feucht war. Was sollte ich anziehen? In meiner Unterwäsche die Treppe hinabzusteigen kam nicht in Frage. Es gab keine größere Pein, als von Ben in Taillen-BH und Schnürkorsett erwischt zu werden. Ich tappte im Mondlicht umher und fand den Kleiderschrank. Sein Inneres stank nach Mottenkugeln und alten Zeitungen, enthielt aber nichts außer einem Paar Knöpfstiefel und einem Federhut, den ich zuerst für einen toten Vogel hielt. Das reichte nicht, um mich zu bedecken. Meine Hand ertastete auf einer Seite ein Bord, und meine Suche wurde belohnt. Unter einer Staubschicht lag etwas, das sich als Tagesdecke entpuppte. Sie schien aus Chenille und gottlob für ein Doppelbett gedacht.

      Vorsichtig öffnete ich meine Tür und spähte in den Flur. Mehrere Fenster, besonders ein großes mit farbigem Glas oberhalb der Treppe, warfen unheilvolle Schatten, die an den Wänden entlangkrochen. Nur die Aussicht auf heißen Toast mit Butter und eine anständige Tasse Tee trieben mich voran. Eine der ermutigenden Theorien über schwere Leute besagt, dass ihr Schritt leicht ist. Ich hoffte inständig, dass sie stimmte. Den schmalen Läufer hatte ich überquert und musste nun die Treppe in Angriff nehmen. Meine Toga verrutschte und ich steckte sie wieder zusammen. Ich kam mir vor wie ein Ozeanriese, der in flaches Gewässer vom Stapel läuft. Also schön sachte!

      Die Küchentür schüttelte sich und schwang nach innen auf. Mit dem ersten Griff fand ich den Lichtschalter. Die schwache Birne gab wenig Licht. Der Rest des Hauses mochte deprimierend sein, die Küche war schlimmer. Schmuddeliges graues Linoleum und lachsrosa Wände. Wenig hilfreich war auch die Versammlung altersschwacher Küchenschränke, denen fast alle Farbe und etliche Türen fehlten. Das Gewirr angelaufener Kupferleitungen, das vom altmodischen Boiler die Wände hochlief, hing voller schmieriger Wischlappen und fleckiger Geschirrhandtücher. Ob Tante Sybil sie manchmal verwechselte? Selbst jemand mit geringen hausfraulichen Instinkten musste sich hier ekeln. Ich betrachtete den Raum aber auch mit professionellem Blick. Ausmaße und Proportionen der Küche waren gut, auch die Fenster waren groß und gingen nach Süden. Unter dem ekelhaften Linoleum befand sich wahrscheinlich ein Steinfußboden. Schon stellte ich mir die Küche vor, wie sie hätte sein können, mit marineblauem Herd, zu warmem Glanz polierten Kupferpfannen, vielen Grünpflanzen, die die Vorhänge ersetzten, und einer cremefarbenen Tapete mit marienblauen und korallenroten Akzenten.

      Die Vision entschwand und ich starrte auf Berge schmutzigen Geschirrs, die den Tisch, das Ablaufbrett und andere Flächen bedeckten. Kein Wunder, dass Onkel Merlin gedämpftes Licht wollte.

      Ich bin nicht dafür, per Gesetz vorzuschreiben, dass jeder Haushalt vollkommen steril zu sein hat. Tobias hatte mein Sofa zerfetzt und manchmal machte ich eine Woche lang nicht das Bett. Aber dieser Dreck war unerträglich. Gott sei Dank war der Boiler noch heiß. Ich kramte tapfer in den Spinnweben unter dem Ausguss und fand einen aufgeweichten Karton mit einer Dose feuchtem Scheuerpulver und einer Schachtel Seifenflocken. Damit musste es gehen. Geschirrspülmittel stand offenbar nicht auf Tante Sybils Liste lebensnotwendiger Dinge. Ich hievte meine Bettdecke hoch, band sie im Genick zu einem dicken Knoten, beschwor sie, nicht runterzurutschen, und machte mich daran, den Unrat aus dem Ausguss zu graben.

      Zwei Stunden später war das Geschirr gespült, getrocknet und möglichst ordentlich in die Schränke gestellt. Der Tisch hatte recht gut auf das Schrubben angesprochen. Die Hälfte der Farbe war dabei abgeblättert, aber was darunter zum Vorschein kam, sah sauber aus. Ich füllte einen Eimer mit heißem Wasser, goss eine ganze Flasche Bleichmittel (so alt, dass der Deckel völlig zerfressen war) hinein, nahm mit den Fingerspitzen die Lappen von den Leitungen und sah zu, wie sie in den Dämpfen versanken.

      Ich unterdrückte ein Gähnen und plinkerte ein paarmal heftig, um meine Augen daran zu erinnern, dass ich noch wach war. Wie wollte ich Tante Sybil meine Einmischung erklären? Vielleicht würde sie ja denken, die Heinzelmännchen seien da gewesen. Ich verbiss mir noch ein Gähnen, füllte den Wasserkessel, stellte ihn auf den frisch gescheuerten Herd und zündete das Gas an. Endlich kam ich dazu, die Märchentür zu öffnen.

      Die Speisekammer war wiederum ein Raum, der altmodischen Charme hätte ausstrahlen sollen. Ihre Marmorborde waren für Schinken und Käselaibe gebaut worden, für Schweinesülzen und -pasteten. Sie hätte Düfte verströmen sollen, die von kulinarischen Köstlichkeiten kündeten. Die Wahrheit war, sie stank. Geruch von ranzigem Fett mischte sich mit Gestank von verdorbenem Fleisch und Mäusekötteln. Überall lagen Krümel, und verschüttete Milch war zu einer gelben Kruste angetrocknet. Bis auf ein halb verzehrtes Huhn, eine Schüssel mit sauer gewordenem Pudding und einen Korb mit keimenden Kartoffeln war sie wie die Speisekammer der Eltern von Hänsel und Gretel – leer.

      Ich fand den Brotkasten. Er war aus Metall mit einem gut schließenden Deckel, also entnahm ich ihm ohne allzu großes Misstrauen ein Brot, ging hinaus und schloss hinter mir die Tür. Der Kessel pfiff, ein gellendes Schrillen, bei dem mir einfiel, dass ich noch den Tee finden musste. Es schien den Kessel zu ärgern, dass ich seinem Ruf nicht sofort folgte, denn das Geräusch wurde tiefer, ein bedrohliches Gepolter, das die Kasserollen auf dem Brett über dem Herd tanzen und die Tassen auf ihren Haken unter den Schränken klingeln ließ. Ziemlich viel Getöse für einen Kessel. Eher wie von einer Dampflok! Ich drehte das Gas ab, der Lärm ging noch ein Weilchen weiter, ehe er sich legte. Donnergrollen? Aber der Streifen Himmel, den das Küchenfenster freigab, war recht klar. Wahrscheinlich kam der Krach vom Heißwasserbehälter, der sich wieder aufgefüllt hatte. Wo war die Teedose?

      Zurück in die Speisekammer. Ich öffnete die Tür, mir war, als bewegte sich etwas. Mäuse? Ich mochte sie zwar nicht, aber wenn ich nicht endlich meine Tasse Tee bekam … Eine Gestalt wuchs aus den Schatten; mit ausgestreckten Armen und flatterndem weißem Gewand kam sie langsam auf mich zu. Der Geist von Merlins Schloss! Mein Schrei endete in einem Quieken, über das jede Maus sich scheckig gelacht hätte. Ich vermochte nicht, das Gesicht der Erscheinung zu erkennen, denn eine weiße Zipfelmütze bedeckte den Kopf. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Sie lachte, ein entsetzliches, halbersticktes, heiseres Gelächter … Jede jugendliche Heldin, die ihr Pulver wert war, wäre jetzt in Ohnmacht gefallen. Ich schaffte es fast; ich stolperte über die Chenille und ging bis neun zu Boden, wobei ich das Gespenst stöhnen hörte: »Himmel, es ist Aphrodite.«

      Eigentlich hätte mich der beißende Geruch von Riechsalz zu mir bringen müssen. Doch solches Glück war mir nicht beschieden. Jemand hatte mich unter den Achseln gepackt und zerrte mich über den holperigen Fußboden, was mir den Popo aufschrammte und das letzte bisschen Mut raubte.

      »Herr im Himmel, lieber würde ich einen Ochsen schleppen.« Ben! Wie kam der denn hierher? Er war doch nicht das Speisekammergespenst. »Das muss reichen.« Er lehnte mich an die Wand wie einen Sack Mehl. »Wenn ich sie auf einen Stuhl hieve, hole ich mir einen Bruch – einen doppelten.«

      Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht! Aber sobald ich die Arme bewegte, nahm die Chenille endgültig Reißaus. Die einzige Möglichkeit, es ihm heimzuzahlen, war, mich bei der Kultivierten Herrenbegleitung über ihn zu beschweren. Eine andere Stimme sprach, eine neblige, bellende, unmenschliche Stimme.

      »Was wollen Sie von mir – Mitleid? Sie ist doch Ihr Schatz. Ein Mann, der sich mit einer doppelt so großen Frau einlässt, sollte an der Stelle, wo sonst das Gehirn sitzt, wenigstens Muskeln haben. Hören Sie auf, rumzutändeln wie eine Narzisse im Wind und bringen Sie sie wieder zu Bewusstsein, wenn sie welches hat. Kippen Sie den Eimer da über ihr aus. Sieht aus, als hätte sie hier rumgefummelt und die naturgegebene Unordnung durcheinandergebracht. Verdammte Einmischung.«

      Das


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