Die dünne Frau. Dorothy Cannell

Die dünne Frau - Dorothy  Cannell


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      »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ein Buch geschrieben, ein sehr … anschauliches Buch, sehr … avantgardistisch.« Er suchte nach dem passenden Wort. »Sehr … sinnenfreudig.«

      »Mit diesem Adjektiv schmücken sich eigentlich Weinkenner und Frauen mit meiner Figur. Vielleicht wäre pornografisch treffender?«

      »Der Ansicht bin ich durchaus nicht.« Seine schwarzen Brauen senkten sich in jener arroganten Manier, die Lore-Roman-Helden auf der Stelle zu verwegenen Teufelskerlen macht. Bentley Haskell dagegen sah aus wie ein kleiner Junge, der seinen Ball wiederhaben will.

      »Hat das Meisterwerk schon das Licht der Öffentlichkeit erblickt?«

      »Bitte keinen Hohn. Ich arbeite an der zweiten Fassung.«

      »Ah ja. Der Ruhm lässt also noch auf sich warten. Aber deinen Eltern musstest du es sofort unter die Nase halten, noch bevor es gedruckt ist! Was ist an solcher Ehrlichkeit bewundernswert? Wolltest du zwei alten Leuten neue Schimpfwörter beibringen?«

      Ben war verletzt. »Ich dachte, es gefällt ihnen. Außerdem musste ich ihnen was entgegensetzen. Sie verlangten, ich sollte bei Onkel Solomon arbeiten. Er hat ein Restaurant am Leicester Square.«

      »Ins Familienunternehmen einsteigen, hört sich doch gut an.«

      »Sicher, es war ja auch mal das, was ich wollte. Ich bin in den besten Hotels Europas und der Vereinigten Staaten ausgebildet worden, bis zum Chef. Aber dann letztes Jahr in Paris hat mich das Schreibfieber gepackt und ich habe meine Kreativität in andere Bahnen gelenkt. Es reizt mich nicht mehr, für den Rest meines Lebens am Herd zu stehen.«

      Ein Koch? Gab es für mich kein Entrinnen vom Essen? Mitgefühl für jemand, der einem Cordon Bleu fröhlich den Rücken kehrt, war mir nicht gegeben. »Auch nur halbtags für Onkel Solomon zu arbeiten«, sagte ich scharf, »hätte sich natürlich nicht mit deinem künstlerischen Gewissen vertragen. Ich nehme an, du haust in einer zugigen Mansarde?«

      Ben faltete seine Serviette und warf sie auf den Tisch. »Ich bin nicht am Verhungern, dank der Kultivierten Herrenbegleitung und dank Frauen wie dir.«

      »Du meinst ›sinnenfreudige‹ Mauerblümchen.« Schwerfällig erhob ich mich und ergriff meine Tasche. »Aber du bist so beschissen verklemmt, dass du dich nicht traust, es auszusprechen.«

      »Wie redest du!« Seine entrüstete Stimme folgte mir zum Ausgang. »Meine Mutter hat mir immer verboten, mit Mädchen zu spielen, die fluchen.«

      Der Mann war nicht mal komisch. Wir traten aus der Gasthaustür in die schneidende Kälte, nur unser Schweigen war eisiger. Beim Losfahren fiel ihm die Wärmflasche ein. Er riss das Auto herum und verschwand wieder im Wirtshaus.

      Die zweite Hälfte der Fahrt war doppelt so beschwerlich wie die erste. Die Nacht hatte sich um uns geschlossen, und unsere Scheinwerfer bohrten sich vergeblich in brodelnde Nebelschwaden – wir sahen keine drei Meter weit. Ben war ein guter Fahrer, aber selbst er hatte Schwierigkeiten, nicht im Graben zu landen. Je näher wir der Küste kamen, desto rauer und salziger wurde der Wind. Schnee wehte von den Bäumen und formierte sich zu dicken weißen Polstern. Wahrscheinlich war es gut, dass Ben und ich nicht miteinander redeten. Tante Sybil erwartete uns gegen sieben. Jetzt war es fast halb zehn. Wir fuhren durch das schöne Städtchen Walled Minsterbury und blieben auf Nordostkurs.

      »Wenn wir Chitterton Fells erreicht haben, kannst du mich dann zum Haus deines Onkels dirigieren?« Bens Stimme brach das lange Schweigen mit solch einem Krächzer, dass ich schlaftrunken vor Kälte gegen das Lenkrad kippte und uns ins Schleudern brachte.

      Ben benutzte ein Wort aus seinem Buch (ich konnte es ihm nicht mal verübeln), stieß mich grob mit dem Ellbogen weg und lenkte mühsam wieder geradeaus. »Bevor du uns beide umbringst – weißt du den Weg?«

      Das war meine Bewährungsprobe. Leider bin ich eine von den Unglücklichen, die selbst unter normalen Umständen ihre eigene Haustür nur mit einem guten Stadtplan finden, und dies waren keine normalen Umstände. Ich konnte kaum Ben sehen, geschweige denn einen Wegweiser. »Es wird dir zwar nicht gefallen«, bemerkte ich im Plauderton, »aber ich war mit zwölf das letzte Mal hier … Knurr mich nicht an!« Ich stierte ins Dunkel. »In solchem Wetter strecken Leute ihre Hand aus und sehen sie nie wieder.«

      »Vielen Dank«, kam es höhnisch von dem Unsichtbaren. Das Auto hopste hoch, rutschte aus und glitt ganz langsam gegen einen Baum oder Telegrafenmast oder irgendein anderes vertikales Hindernis, das in den schneegeschwängerten Nebelschwaden nichts zu suchen hatte.

      Nicht oft, aber gelegentlich ist es ein Vorteil, viel zu wiegen. Jetzt trug ich redlich dazu bei, das Auto aus dem Graben zu schieben, zu ziehen und zu locken. Meine Anstrengungen brachten mir ein widerwilliges Lob ein. Ben nannte mich »Kumpel«! Eine Stunde später – meine Füße waren inzwischen zwei Scheiben Tiefkühlfisch – hatten wir das eigenwillige Vehikel auf die Straße gehievt. Schnaufend und schniefend stiegen mein Weggefährte und ich wieder ein.

      Ich war zwar darauf vorbereitet, dass meine Wärmflasche an Unterkühlung gestorben war, aber zu meinem Schreck starb nun auch die Batterie. Der Motor gab einen asthmatischen Huster von sich, stotterte zweimal und verröchelte. Kein Horoskop hatte mir vorausgesagt, dass der Tag so enden würde. Unter einem viel zu dünnen Mantel klatschte mir ein nasser, zerfetzter Rocksaum um die Knöchel, und so stapfte ich eine öde Landstraße entlang, am Arm eines Mannes, der mir noch vor wenigen Stunden wildfremd gewesen war.

      »Durchhalten«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne, »irgendein Dorf erreichen wir bestimmt noch vor Ablauf des Jahrhunderts.«

      Ein Baum ragte uns plötzlich entgegen und ein dürrer Zweig griff nach meiner Wange. Das war zu viel. Ich war fertig – eine gebrochene Frau.

      »Licht in Sicht!«, schrie Ben. Er brach in wildes Kriegsgeheul aus und warf mich fast um, aber dies war nicht der Augenblick für Vorwürfe. Zu unserer Rechten tauchte ein Haus auf, ein nächtlicher Spuk mit funkelnden gelben Augen. Unwillkürlich umarmten wir uns als zwei Kameraden, die tödliche Gefahren bestanden hatten.

      »Auf geht’s, Ellie!« Er drückte meine Hand und wir kämpften uns weiter voran. Wenige Minuten später standen wir vor einem windschiefen Eisentor. »Das Ende der Wildnis!«, jauchzte er.

      »Mehr als das«, sagte ich. »Kein Brieftaubenpärchen hätte uns übertreffen können. Das ist Merlins Schloss.«

      »Man sollte meinen«, grollte Ben, »dass ein Haus dieser Größe sich eine Klingel leisten kann.«

      »Geduld! Onkel Merlins Großvater, der Erbauer dieses mittelalterlichen Phantasiegebildes, hatte eine Abneigung gegen das Naheliegende.« Ich stapfte hinter ihm her durch den Matsch über das Schlossbrückchen und fühlte mich wie eine Tiefseetaucherin, die nach ihren Landbeinen sucht. »Irgendwo links von dir ist ein Wasserspeier, so ein Teufelskopf. Das ist der Türklopfer.«

      »Das hier? Das habe ich für Fäulnisschwamm gehalten! Was mache ich damit? Knalle ich ihm eine?«

      »Dummbeutel! Du reißt ihm die Zunge raus und guckst, wie er mit den Augen rollt.«

      Ben zog eine Fratze und tat wie geheißen. Frierend traten wir von einem Bein aufs andere, während sich im Haus scheppernder Lärm erhob, als ginge ein Stapel Geschirr zu Bruch.

      »Wer ist da?«, fragte eine misstrauische Stimme.

      »Tante Sybil? Ich bin’s, Ellie!«

      »Geh du vor«, sagte Ben wohlerzogen. »Falls du eins über den Schädel kriegst, kann ich Hilfe holen.«

      Ein Riegel knarrte und ein fahler Lichtstreif wurde langsam breiter. »Meine Liebe! Wir hatten schon aufgegeben, auf dich zu warten. Onkel Merlin ist vor einer Stunde zu Bett gegangen.« Tante Sybil spähte kurzsichtig in die Nacht. »Und das ist sicher dein Bekannter. Kommt rein, bevor der Wind die Tür wegbläst. Guter Gott! Ihr seht ja aus …«

      »Bitte«, Ben streckte meiner verwirrten Tante die


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