Die dünne Frau. Dorothy Cannell
zum Auftanken«, sagte er.
»Benzin oder Nahrung?«
»Weder noch«, zügelte mich Mr. Haskell, während mir Visionen von Rührei mit Pommes durch den Kopf tanzten. »Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen, wenn wir Ihre Wärmflasche aufheizen.«
»Durchaus nicht«, schoss ich zurück. »Sie hat sich schon vor Stunden in einen Grabstein verwandelt. Aber wenn das da drüben ein Gasthaus ist, werde ich reingehen und mich bei einem dicken, saftigen Steak und Meeren von dampfendem Kaffee auftauen. Sie können machen, was Sie wollen, hier draußen Schneemann spielen oder mitkommen.«
Der arme Mr. Haskell sah hin- und hergerissen aus. Aber das Fleisch war schwach, denn er hielt unter dem knarrenden Gasthausschild, auf dem passenderweise Zur Zuflucht stand, entriss mir die Wärmflasche und stieß seine Tür auf. »Ich hoffe, Sie zahlen«, fauchte er, klopfte sich den Schnee von den Armen und stapfte ums Auto, um mir herauszuhelfen.
»Bleibt mir was anderes übrig? Sie entwickeln sich zu einem sehr kostspieligen Bedarfsartikel, Mr. Haskell.« Meine Würde litt etwas darunter, dass ich mich fest an seinen Arm klammern musste, damit mir nicht die Beine wegrutschten. »Mein Mantel« – zehn Jahre war er alt – »ist völlig ruiniert, und wenn Sie nicht auf die hirnrissige Idee gekommen wären, in Ihrem Frischluftauto zu fahren, säßen wir jetzt beide kuschelwarm in Merlins Schloss und könnten Tante Sybils köstlichen Kochkünsten zusprechen.«
»Was Sie nicht sagen. Nach Ihrer Beschreibung hatte ich eher den Eindruck, sie serviert sehr tote Fledermäuse in sehr kalter Suppe.«
Seine Vorstellung kam der Wahrheit ziemlich nahe, was meinen Zorn weiter anfachte. Wutschnaubend erreichten wir die Tür. Drinnen würdigten wir uns keines Blickes und gaben, während sich um uns kleine Pfützen bildeten, dem irritierten Mädchen hinter der Theke zu verstehen, dass wir einen Tisch für zwei brauchten. Die Antwort war patzig, aber ich schaute stur geradeaus.
Bald saßen wir vor einem prasselnden Kaminfeuer, um uns glänzte gut geputztes Messing vor handgeschnitzter Täfelung. Es war unmöglich, sich der besänftigenden Wirkung von so viel Achtzehntes-Jahrhundert-Charme zu entziehen. Ich beschloss zu vergessen, welch Wurm Mr. Haskell war.
»Gemütlich, nicht?«
»Reichlich übertrieben, die Altertümelei. Warum läuft das Mädchen da mit einer Lockenwickelhaube und im Nachthemd rum?«
»Die Kellnerin? Das ist kein Nachthemd, das ist die Tracht der Kammerzofen am Hofe Karls des Zweiten. Haben Sie Angst, sie enthüpft ins Bett, bevor wir bestellen können?«
Wir entschieden uns beide für Steak mit Champignons. Es war hart, auf die Kartoffeln zu verzichten, aber er sollte doch mein Problem für eine Drüsenstörung halten. Unser Essen kam, es brutzelte auf irdenen Tranchiertellern.
»Miss Simons«, sagte er und nahm die Gabel zur Hand, »ich schlage vor, wir üben uns in der Benutzung des Du, damit wir uns im Schloss nicht verplappern.«
Behutsam spießte ich einen Pilz auf. »Ihre Sorgfalt im Detail ist beeindruckend. Sehr professionell. Ist Ihr Rufname Bentley oder haben Sie eine Kurzform, Benny?«
»Ben«, sagte er frostig, »und Ellie, kommt das von Ellen?«
Ich schnitt ein Stück Fleisch ab, schob es auf dem Teller hin und her, zerschnitt es noch einmal.
»Von Ellen also nicht.«
»Da wir angeblich eng befreundet sind, werden Sie es erfahren müssen. Mein richtiger Name ist Giselle.« Ich schaute auf und erwischte ihn dabei, wie seine Lippen zuckten. Ob die Kellnerin was merken würde, wenn ich ihn mit der Gabel erstach und das blütenweiße Tischtuch Blutflecken bekam? Zu meiner Überraschung wurde sein Gesicht ernst und er berührte meine Hand.
»Eltern können sehr unreif sein. Solche Höhenflüge der Phantasie sind für Kleinkinder hübsch, die in ihren Stühlchen ruckeln und brabbeln, aber auch Herzblättchen und Heideröschen werden erwachsen. Namen sollten zur Ansicht vergeben werden – mit Umtauschrecht nach Entfaltung des Verstandes.«
»Danke.« Meine Stimme gab einen rauen Ton von sich. Ich werde unsicher, sobald Leute, besonders Männer, nett zu mir sind. »Mutter hat es gut gemeint, die Arme. Sie träumte davon, ich würde in ihre Fußstapfen treten und in einem duftigen rosa Tutu umherflattern.«
»Deine Mutter ist Tänzerin?«
»War. Nur in der Gruppe an kleinen Stadttheatern. So viele Pirouetten und Arabesken, und dann stolperte sie, als sie die Bahnhofstreppe runterrannte; genau wie ich kam sie immer zu spät. Inzwischen ist sie seit zehn Jahren tot.«
»Tut mir leid. Und dein Vater?«
»Irgendwo auf der Suche nach sich selbst. Momentan ist er Landwirt und Schafzüchter in Neusüdwales. Zuletzt hatte er zwei – Schafe, nicht Bauernhöfe – und wie ich Papas Pech kenne, nimmt das Mutterschaf die Pille. Eigentlich ist er toll; nächstes Jahr versucht er’s vielleicht als Feuerwehrmann oder Zirkusclown.«
»Was meine Theorie untermauert, dass Eltern, sie mögen noch so liebenswert sein, die wahren Kinder sind.« Ben ließ sich von der Kellnerin mit der Morgenhaube einen Kaffee servieren. Sie umschwänzelte ihn in sattsam bekannter Manier. Zeit, Mr. Haskell daran zu erinnern, dass er im Dienst war. Ich hatte ihn zur Genüge mit spritzigen Einzelheiten aus meiner Familiengeschichte – ausgenommen Vanessa – versorgt, jetzt war Bentley T. Haskell dran.
Er begann seine Erzählung mit der Eröffnung, er sei von seinen Eltern verstoßen, enterbt und zum Teufel gejagt worden. Wieder ein Familienstammsitz verloren? Dieser entpuppte sich als Gemüseladen in Tottenham. Ich sah die armen Eltern mit ihren verarbeiteten Händen vor mir, wie sie den aus der Art geschlagenen Sohn mit Kohlköpfen zur Tür hinausbombardierten, abriegelten und ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« anbrachten. Aber warum?
Sein Vergehen war interessant. Mami und Papi konnten sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn praktizierender Atheist war.
»Praktizierend?«
»Ich war Mitorganisator einer Protestversammlung vor der Halleluja-Erweckungskirche. Das ist eine von diesen giftigen engstirnigen Sekten, die Ketzer immer noch am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden. In diesem Fall hatten sie sich geweigert, ein kleines Kind in geweihtem Boden zu bestatten. Wenn das Religion sein soll, kann ich darauf verzichten.«
»Deine Eltern sind fromm?«
»Sehr. Vater ist orthodoxer Jude und Mutter stramme Katholikin. Eines muss man den beiden lassen, sie führen eine großartige Ehe. Seit vierzig Jahren verzehren sie sich in missionarischem Eifer und versuchen, sich gegenseitig zu bekehren. Wir haben eine Mesusah in der Haustür und auf dem Kaminsims eine Jungfrau Maria. Mutter behauptet, sie habe Vater schon vor Jahren beim Haarewaschen getauft und er nennt sie vor seinen Freunden immer Ruth, obwohl sie Magdalene heißt.«
»Dann staune ich, dass sie bei dir so schnell aufgegeben haben. Hinter deiner Vertreibung muss doch mehr stecken als nur die Halleluja-Erweckungs-Demo. Was für Sünden hast du noch begangen?«
Ben hielt nach der Kellnerin mit der Rechnung Ausschau und sagte dabei in liebenswürdigem Tonfall: »Und ich staune, dass du beim Gehen nicht über deine Nase fällst. Wie kommst du dazu, mir Missetaten zu unterstellen?«
Fasziniert beobachtete ich, wie die Kammerzofe auf seinen leisesten Wink hin angedackelt kam. Mit nervtötender Langsamkeit steckte sie das Geld ein, das ich hingelegt hatte. Endlich verzog sie sich schweifwedelnd.
»Heraus damit!«, rief ich. »Die Spannung schlägt mir auf den Magen. Was hast du angestellt, die Tochter vom Bürgermeister entführt? Die Leihbücher nicht zurückgegeben?«
»Mein Kardinalfehler war, als einziges Kind geboren zu werden. Meine Eltern hatten alles auf eine Karte gesetzt. Als ich zur Welt kam, war Mutter fast vierzig. Danach war es aus mit dem Kinderkriegen.«
Hatte wahrscheinlich Angst, die arme Frau. »Dann ist deine Mutter nicht mehr die Jüngste?«, soufflierte ich listig.
»Sie geht auf die siebzig zu.«