Die dünne Frau. Dorothy Cannell

Die dünne Frau - Dorothy  Cannell


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doch bitte nicht mitten im Schneegestöber bei eisigem Ostwind. Mr. Haskell hatte meinen Koffer verstaut und hielt mir die Tür auf.

      »Darf ich beim Einsteigen behilflich sein, Schatz?« Er lächelte grimmig. »Ich übe schon mal.«

      »Nein. Sie dürfen den Deckel von diesem Ding zumachen.«

      »Das geht leider nicht. Die Scharniere sind seit Jahren festgerostet. Keine Sorge – Sie werden nicht nass.«

      Als ich mich auf einem sehr feuchten Sitz niederließ, drückte er mir einen rotweiß gepunkteten Sonnenschirm in die Hand, löste die Verriegelung und schon wölbte sich über mir ein riesiger Fliegenpilz. Meine Füße trafen auf eine Wärmflasche, aber auch das besänftigte mich nicht. Ich hätte jetzt in einem gemütlichen Zugabteil sitzen können, indes die Landschaft an mir vorbeiglitt und der Schaffner zum Abendessen in den Speisewagen bat. Es gab nur eine Erklärung: Der Mann, der ruhig an meiner Seite saß und die Straßenkarte studierte, war aus Dartmoor entflohen. Mrs. Swabucher hätte ausnahmsweise auf Sohn Reginald, den Wirtschaftsprüfer, hören und ihre Hausaufgaben machen sollen.

      »Zu Ihrer Linken finden Sie zwei Reisedecken.« Mr. Haskell faltete die Karte säuberlich zusammen, steckte sie in die Ledertasche unter dem Armaturenbrett und setzte das Monstrum in Gang. Es antwortete mit Geheul, das sich zu wütendem Knurren steigerte. Wir schossen vorwärts, verfehlten knapp eine Frau auf einem schwankenden Fahrrad, drückten uns an einem Laster und einem Doppeldeckerbus vorbei und schwammen mit im abendlichen Berufsverkehr, der London vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich lassen wollte.

      »Behaglich, Schatz?« Er hatte kleine, schneeweiße Zähne. Einer stand ein wenig über und betonte das Ebenmaß der übrigen.

      »Ich erfriere.«

      »Wickeln Sie sich die andere Decke um. Mein Problem ist, ich finde dieses Wetter erfrischend und vergesse, nicht alle teilen meine Begeisterung für die Natur im Rohzustand.«

      »Im Zug wäre es sicher zu heiß?«

      »Zum Ersticken.«

      So sollte ich also Einzug in Merlins Schloss halten? Die Finger festgefroren an diesem lächerlichen Sonnenschirm, das Haar schneeweiß und vor der Zeit gealtert? Männer! Und nach so einem hatte ich mich all die Jahre gesehnt!

      »Versuchen Sie, in Bewegung zu bleiben«, sagte er, den Blick fest auf die Straße geheftet.

      »Na toll! Ich stehe auf und jogge um den Rücksitz. Halten Sie ja nicht an, wenn ich über Bord gehe. Ein rascher Unfalltod ist mir lieber als zentimeterweise zu erfrieren.«

      »Ich meinte, wackeln Sie mit den Zehen, wedeln Sie mit den Händen – nicht die mit dem Schirm.« Er blinzelte. »Für diese Fahrt brauche ich beide Augen – die Sicht wird immer schlechter.«

      »Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?« Ich schloss die Augen und sofort wurden mir die Lider schwer. Schnee drückte sie nieder, nicht süßer Schlaf. Eingemummelt in meine Decken kam ich nicht an die Tafel Nussschokolade, die in meiner Handtasche steckte und inzwischen mit klagender Stimme nach mir rief. »Kann ein Mensch in Leichenstarre fallen«, fragte ich, »obwohl er noch lebt?«

      Er schnaubte ärgerlich, fügte dann aber recht sanft hinzu: »Vielleicht hilft es, wenn wir uns unterhalten.« Schmolz der Eisberg? »Um überzeugend zu sein«, fuhr er fort, »muss ich in etwa wissen, wer wer ist auf dem Anwesen, dem wir unseren Besuch abstatten. Ist es ein Landhaus?«

      »Eher ein Schloss. Kein echtes natürlich«, fügte ich hastig hinzu, als ich sah, wie seine Brauen in die Höhe schossen. »Eine Miniaturausgabe, die Onkel Merlins Großvater vor über hundert Jahren erbaut hat. Familienlegenden behaupten, dass er bereits an Altersschwachsinn litt, als die Pläne gezeichnet wurden. Nur jemand im Endstadium der zweiten Kindheit besitzt diese Art Phantasie. Das Haus ist schnurstracks aus dem Märchen entsprungen – jede Menge Türme, efeubewachsene Mauern, ein Schlossgraben, nicht größer als ein Goldfischteich, und sogar ein winziges Fallgitter zum Schutz der Eingangstür, obwohl sie das jetzt offen lassen.«

      »Wiedersehen mit Dornröschen?«

      »Genau. Es gibt sogar ein richtiges Schlossgespenst.«

      »Lassen Sie mich raten. Onkel Merlin höchstselbst?«

      »So ist es. Seine Verworfenheit besteht darin, was er dem Haus angetan oder vielmehr nicht angetan hat. Er hat es verrotten lassen. Streng genommen ist er kein Onkel – mehr ein Vetter zigsten Grades, aber meine Mutter war eine praktische Frau. Sie bestand darauf, die Verbindung zu unserem einzigen begüterten Verwandten aufrechtzuerhalten. Als Kind musste ich ihm jede Weihnachten Bettsöckchen stricken und wurde nur zweimal eingeladen. Beide Male flog ich vorzeitig raus. Er sagte, ich fräße ihm die Haare vom Kopf und für den Rest des Jahres bliebe ihm nur trocken Brot.«

      »Hoffentlich wird das nicht unsere Wochenenddiät.« Bentley Haskell lenkte das Auto um eine rutschige Kurve. Wir näherten uns der Londoner Peripherie. Ich wechselte den Schirmarm und verkroch mich so tief wie möglich in meinen Deckenkokon. Bedauerlicherweise zeigte mein Begleiter keinerlei Frostschäden.

      »Welchen faszinierenden Persönlichkeiten werde ich sonst noch begegnen?«

      »Allen möglichen.« Ich zitterte vor Kälte. »Einem Vierer mit Partnertausch aus dem East End, einem Wunderdoktor, dem kürzlich die Approbation entzogen wurde, weil er …«

      »Wenn Sie rumalbern«, sagte Mr. Haskell durch die Nase, »konzentriere ich mich eben aufs Fahren.«

      Zusammengestaucht saß ich da wie ein dicker runder Wackelpudding, der auf seinem Teller zittert. Großmütig reichte er mir einen Ölzweig.

      »Wohl alles Verwandte?«

      »Da ist Onkel Maurice«, plapperte ich wie ein Kind, das aufsagen muss. »Er ist Börsenmakler und Mitte fünfzig – ziemlich klein mit Schmerbauch, die drei Haare, die er noch hat, kleistert er sich mit stark parfümierter Pomade an. Onkel Maurice riecht man durchs ganze Haus.«

      »Bei Mord ein schönes Indiz. Ist ihm zuzutrauen, dass er den Butler erschlägt?«

      »Wohl kaum. Sonst hätte er schon vor Jahren seine Frau beseitigt, Tante Lulu, ein Puttputt.«

      »Ein was?«

      »Ein Huhn. Tante Lulu könnte man das Gehirn entfernen und keiner würde was merken, sobald die Frisur wieder drauf ist. Sie bohnert ihre Böden stündlich, bügelt das Klopapier, bevor sie es aufhängt, und lebt nur für ihre Friseurbesuche dreimal die Woche. Sie und Onkel Maurice haben einen Sohn namens Freddy. Der kommt nach keinem von beiden. Freddy ist ein Freigeist: stolz darauf, dass er sich nie wäscht, trägt die Haare in einem Pferdeschwanz und lässt sich einen Bart sprießen, der aussieht wie ein alter Scheuerlappen, den der Müllschlucker wieder ausgespien hat. Unser Freddy weiß, was angesagt ist – düst auf dem Motorrad durch die Pampa, hat ein Loch im Ohrläppchen und qualmt Hasch wie ein Drache.«

      »Also angepasster als sein Vater.« Bentley Haskell spähte durch das Schneetreiben nach einem halbverwehten Wegweiser, schlug an der Weggabelung einen scharfen Haken, erwischte Glatteis, kam kurz ins Schleudern und war wieder auf Kurs. Ich fühlte mich wie ein Klumpen Eiskrem, so hart gefroren, dass sich daran jeder Löffel verbiegt.

      »Freddy macht Musik«, schnatterte ich, »so eine Art Garagen-Punk auf Haushaltsgeräten. Gegenwärtig pausiert er. Laut Tante Astrids letzten Katastrophenmeldungen ist der Kuckuck ins Nest heimgekehrt, und die armen Vogeleltern haben nicht die Kraft, ihn rauszuschmeißen.«

      »Tante Astrid?« Mr. Haskells dunkle Augenbrauen zogen sich zu einem konzentrierten Strich zusammen, während wir durch das Städtchen St. Martin’s Mill glitten, vorbei an Fachwerkhäusern, die uns im schwindenden Dämmerlicht beäugten.

      Es hatte endlich aufgehört zu schneien. Ich nahm den Schirm herunter und machte vorsichtig Armbeugen. »Tante Astrid ist Witwe, zieht sich immer zum Abendessen um und wurde noch nie ohne ihre Perlen gesehen. Ich glaube, sie hält sich für eine Reinkarnation von Königin Viktoria – sie spricht von sich stets im Pluralis majestatis. Sieht immer aus, als hätte sie sich gerade auf einen glühenden Feuerhaken gesetzt. Sie


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