Die dünne Frau. Dorothy Cannell
ein Reibeisen von der Arbeit und fand den Brief auf der Fußmatte. Meine Wohnung lag im obersten Stockwerk eines düsteren viktorianischen Hauses. Es wurde von einer geisterhaften Hauswirtin verwaltet, die immer, wenn die Wasserhähne tropften, unauffindbar war, bei Fälligwerden der Miete jedoch plötzlich Gestalt annahm.
Nachdem ich meinen Mantel an den Haken neben der Wohnungstür gehängt und den Regenschirm so drapiert hatte, dass er meine Geranien bewässern konnte, strebte ich der Küche zu und tat, was ich in Zeiten der Heimsuchung immer tue – ich öffnete die Kühlschranktür. Diesmal war ich versucht, hineinzukriechen und die zudringliche Welt einfach auszusperren. Doch das hätte keins meiner Probleme gelöst. Das Ergebnis wäre eine Neuauflage vom Besuch Puh des Bären bei dem Kaninchen gewesen, der nach Verzehr eines üppigen Mahles bekanntlich in der Tür stecken blieb und eine Woche lang ausgehungert werden musste, in welcher Zeit das praktische Kaninchen seine Beine als Handtuchhalter benutzte. Meine Beine sollte niemand als Handtuchhalter benutzen! Also tat ich etwas anderes Tröstendes und sehr Puh-Bärenhaftes. Ich häufte Baguettebrot und sechs Liebesknochen auf einen Teller, klemmte mir Mrs. Biddles Beste Erdbeermarmelade unter einen Arm und schnappte mir die Butterdose. Dann packte ich meine Beute auf den gescheuerten Holztisch neben die Morgenzeitung mit den Kaffeeflecken und das vom Kater umgestoßene Usambaraveilchen, steckte eine Kerze in eine Colaflasche und entzündete sie mit Schwung. Ich verdrückte zwei Liebesknochen und vier Scheiben krosses Brot dick mit köstlicher gelber Butter bestrichen. So gestärkt las ich noch einmal die Einladung in Merlins Schloss – mein Spitzname für den Wohnsitz meines verknöcherten Oheims. Der richtige Name war irgendwas Banales wie Fliederheim oder Villa Immergrün, was zur Verschrobenheit des Hauses überhaupt nicht passte.
Der Brief war natürlich nicht vom hohen Herrn selber zu Papier gebracht worden. Solche Aufmerksamkeit hätte mir ja ein übertriebenes Gefühl von Wichtigkeit geben können. Tante Sybil, die bei dem alten Schatz lebte und jede seiner Schrullen vergötterte, hatte das Schreiben in ihrer wunderlichen viktorianischen Handschrift verfasst, mit hauchfeinen Schleifen und Schnörkeln wie gesenkte Wimpern. Ich hatte Angst, auf das Papier zu atmen, damit die Schrift nicht verschwand. Das gesellige Wochenende sollte am Freitagabend, dem dreizehnten Februar, beginnen und am Sonntag nach dem Vier-Uhr-Tee zu seinem (zweifellos unverzüglichen) Schluss kommen. Eine Ablehnung dieser noblen Einladung wurde offenbar für undenkbar gehalten. Falls ich in Herrenbegleitung käme, war ich gebeten, Tante Sybil zu verständigen, damit ein getrenntes Schlafzimmer vorbereitet werden konnte.
Herrenbegleitung – was für ein reizendes Wort! Da denkt man an Strandpromenaden, an Zylinder und wirbelnde Spazierstöcke und an herrliche junge Männer mit schlimmen Hintergedanken. Die letzte Herrenbegleitung, die mir zuteil wurde, war ein Krankenpfleger, der mich an jenem Abend, als ich mir auf der Jagd nach einem Taxi den Fuß verstaucht hatte, in die Ambulanz rollte. »Iss noch einen Liebesknochen, Ellie!« – »Habe nichts dagegen.« Dicke gelbe Creme troff mir von den Fingern. Ich wischte einen Klecks von der Zeitung, und da stand es in großen fetten schwarzen Lettern, extra für mich:
KULTIVIERTE HERREN- UND DAMENBEGLEITUNG
Höchst seriöses Institut. Nie mehr allein ausgehen!
Wenn sonst niemand kann, rufen Sie uns an.
»Und du wirst ermordet«, sagte ein feines Stimmchen in meinem Ohr.
»Weswegen?«, sagte ein anderes feines Stimmchen. »Du hast kein Geld. Du bist keine Schönheit.«
Ich verputzte den letzten Liebesknochen, was sehr bedauerlich war. Wie viel würde es kosten, einen Mann übers Wochenende zu mieten? Zweifellos einen Batzen. Aber ich hatte Mutters Geld. Ich kaufte mir selten etwas zum Anziehen oder Sachen für die Wohnung. Als Innenarchitektin zog ich meinen Lustgewinn daraus, anderer Leute Häuser zu möblieren. Wählerisch zu sein war mein Beruf. Diese Fertigkeit konnte ich jetzt darauf verwenden, einen Mann auszusuchen, einen, der jede Saloneinrichtung schmückend ergänzte. Hochgewachsen sollte er sein und elegant, mit fein geschnittenen Zügen und einem Paar dunkler, sardonisch geschwungener Augenbrauen. Ich war solchen Exemplaren schon oft begegnet: zwischen den Seiten höfischer Liebesromane; sie hatten so artige Namen wie Julian St. Trope oder Eduard Van Heckler und galten als perfektes Accessoire junger Damen, die einen guten Eindruck machen wollten.
»Blöde Gans.« Ich zerknüllte die Zeitung und räumte den leeren Teller ab. »Du würdest an jemand namens Fred Potts geraten, der ohne Steuerkarte an der Haustür Bohnerwachs verkauft.« Wie aufs Stichwort klingelte es. Es war mein Mitbewohner Tobias Katertier. Ein ausgesprochen spießiger Kater, der sich weigerte, die Feuerleiter zu benutzen und durchs Fenster zu kommen. Er pflegte auf dem Tischchen im Flur vor meiner Wohnung zu thronen und so lange auf die Klingel zu stupsen, bis bei mir der Groschen fiel und ich aufmachte.
Tobias war nicht allein. Meine Nachbarin von unten, Jill, kam hinter ihm herein, was ihm nicht passte. Tobias mag keinen Besuch. Seine finstere Miene sagte: »Schmeiß die Hexe raus.« Er schnupperte angewidert an seinem Fressnapf und stolzierte davon, um in meinem winzigen Wohnzimmer seine Krallen am Sofa zu schärfen. Die arme Jill sah wirklich ein bisschen hexenhaft aus. Sie hatte ihr kurzes Stoppelhaar einmal zu oft gefärbt (sie benutzt die Alle-zwei-Tage-Sorte), und es war jetzt schmutzig grün, was sich mit ihren Augenbrauen biss.
Ich habe versucht, Jill zu hassen, weil sie winzig ist mit einem großen W (eins achtundvierzig), weniger wiegt als ich bei meiner Geburt, immer ihren nicht vorhandenen Bauch einzieht und ständig davon redet, dass sie unbedingt abnehmen muss. Aber sie ist auch nett mit einem großen N.
Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, schleuderte ihre Zwergschühchen von den Füßen, stellte eine Flasche Pflaumenwein auf den Tisch, streckte ihre mageren Ärmchen über den Kopf und sagte, sie sei total erschöpft. Was mich nicht wunderte. Sie bringt Frauen, die Angst haben, abends alleine vor die Tür zu gehen, Selbstverteidigung bei und hat einen Judohieb drauf, der Mr. Universum krachend durch drei Stockwerke befördert hätte und wieder zurück.
»Puuh! Was für ein Wetter. Und dieser Wind! Ich bin praktisch nach Hause geflogen. Zeit zum Aufwärmen. Hol zwei Becher, Ellie-Schatz, und wir kriegen beide einen Schuss von dem Pflaumen-Gaumen-Traum.«
»Macht’s dir was aus, alleine zu trinken?« Ich holte ein Glas aus dem Geschirrschrank, auf dem Ein Geschenk aus Blackpool stand. »Ich möchte nämlich nicht, dass meine Liebesknochen gerinnen.«
»Was ist los? Du siehst sowieso schon sauer aus.« Jill füllte ihr Glas und sah mich durchdringend an. Sie bildet sich ein, Amateurpsychiaterin zu sein, und hat sich in den letzten drei Jahren durch meine Neurosen gearbeitet. Bis jetzt hat sie mir Gruppentherapie verordnet, Meditation, Knüpfarbeiten, Yoga und eine Brieffreundschaft mit einem Guru.
Ich gab ihr die Einladung und genehmigte mir eine doppelte Dosis Andrews Lebertinktur.
»Na und? Hört sich zwar nicht an wie die aufregendste Fete des Jahres, aber immerhin ein Wochenende am Meer. Langweilig, aber harmlos.«
»Du kennst meine Tante Astrid nicht oder ihre teure Tochter, die betörende Vanessa, von klein auf zum Männermagneten herangezogen – keine Spur von Hirn, aber wer merkt das schon?«
»Miau!« Jill fuhr mit dem Finger auf dem Rand ihres Glases entlang und goss sich noch einen Schluck ein.
Tobias steckte ein Ohr um die Ecke, kam zu dem Schluss, dass er nicht gemeint war und zog sich wieder zurück.
»Bosheit ist eine der wenigen Freuden in meinem Leben. Ich rauche nicht, ich trinke kaum, und ich habe keine losen Affären mit Männern, die lediglich nach meinem Körper lechzen.«
»Wenn du nicht für sechs futtern würdest, gäb’s noch Hoffnung. Hör auf, dir leidzutun. Ich kann nur immer wieder sagen, wenn du mitmachst, mache ich eine Abmagerungskur. Zusammen packen wir’s. Frühmorgens zur U-Bahn joggen und zurück, während der Arbeit Gymnastik und pro Tag drei klitzekleine Mahlzeiten – ohne Schummeln!«
»Vielen Dank, Jill, aber die Nummer mit Tomaten, Essig und altbackenem Kuchen halte ich nicht noch mal durch. Außerdem ist eh schon alles zu spät. Die Galaveranstaltung ist nur noch drei Wochen hin. Und schlag bloß nicht vor, ich soll die Einladung ablehnen. Die wissen doch alle,