Silbergrau mit Wellengang. Andrea Reichart
gehalten hatte und ich begriff, dass ich einen mächtigen Fehler gemacht hatte, hatte sich ein eiserner Ring um meine Brust gelegt, nun flog er lautlos auseinander und ich atmete tief ein und aus.
Ich spürte, wie ein Lächeln über mein Gesicht glitt, als Lisbeths Finger meine Zehen berührten, als ihre Hand sie warm und fest umschloss.
Ich hatte mich eigentlich immer für kitzelig gehalten, aber als sich ein Lachen in meiner Brust bildete, das an die Oberfläche drängte wie eine glucksende Quelle, hatte dies nichts mit kitzeliger Überempfindlichkeit zu tun, sondern eher mit Glück, das sich einen Weg bahnte in meine Augen, in meine Stimme, in meine Ohren. Alle meine Sinne vibrierten.
Ich hielt die Augen geschlossen und wünschte mir, Lisbeth würde nie mehr aufhören, meinen Fuß mit ihrem nach Melone duftenden Frauenrasierschaum einzureiben. Aber genau in diesem Moment tat sie es doch.
Fast wollte ich enttäuscht den Kopf heben, der mir in meiner Entspannung tief auf die Brust gesunken war, da nahm sie meinen linken Fuß in ihre Hände.
Warum nur tat sie dies für mich?
Die Antwort lag auf der Hand.
Ich war so aggressiv und angespannt gewesen, seit wir Rolf aus der Klinik wieder mitgenommen hatten, da hatte sie zu recht befürchtet, ich könnte nicht nur die Kontrolle über mich, sondern auch über den Bus verlieren. Dass sie das nicht zulassen konnte, verstand sich von selbst. Dass sie zu dieser ungewöhnlichen Methode griff, um mich wieder runterzuholen, war alles andere als selbstverständlich.
Während ihre Hände die Innenseiten meiner Ballen massierten, durchflutete mich Dankbarkeit.
Wie war es nur möglich, dass mich dieses magere Althippie-Weibchen so überraschen konnte? Ich hatte ihr nicht genug Verstand zugetraut, von eins bis zehn zu zählen. Oder von siebzig bis achtzig.
Und jetzt saß ich auf einer Bank auf einem namenlosen französischen Rastplatz südlich von Nirgendwo und hatte das tiefe und dringende Bedürfnis, die alte Frau vor mir in die Arme zu nehmen.
Ich konnte mich gerade noch beherrschen. Stattdessen legte ich den Kopf mit geschlossenen Augen tief in den Nacken und stöhnte noch einmal leise auf.
„Danke“, flüsterte ich.
„Gern geschehen“, sagte sie, dann nahm sie das Tuch, das sie mitgebracht hatte, und trocknete erst den einen und dann den anderen Fuß.
Ich öffnete die Augen, traurig, dass es vorbei war. Der Duft von Melone stieg in meine Nase und fast ein wenig widerwillig beugte ich mich vor, um mir die verschwitzten Strümpfe überzustreifen und meine Schuhe wieder anzuziehen.
Lisbeth stand auf und schüttelte ihre spindeldürren Beine. Der lange buntgeblümte Rock, der ihr fast bis zu den Fesseln ging und aussah, als habe sie ihn nach Woodstock in ihren Schrank gehängt, um ihn für diese Fahrt erst wieder herauszuholen, wippte leicht.
Aus allen Richtungen kamen die anderen zurück, als habe Lisbeth ihnen ein stummes Signal gesandt.
Ich sah mich um. Schorschi und Bea stützten Rolf, damit er wieder in den Wagen klettern konnte.
Als ich die wenigen Schritte zum Bus ging, glaubte ich für einen Moment, ich müsste tanzen, so beschwingt und frei fühlte ich mich. Ich wackelte mit den Zehen. Sobald wie möglich würde ich mir Sandalen holen, wie die anderen sie trugen. Mir doch egal, was die Leute sagten.
Als ich gerade einsteigen wollte, meldete sich meine Blase und ich überlegte, doch lieber schnell noch ein Gebüsch aufzusuchen. Leise pfeifend stampfte ich über die kleine Wiese und suchte nach einer Stelle, die etwas weniger stank als alle anderen.
Als ich zurückkam, pfiff ich noch immer. Das Wohnmobil, an dem ich vorbeiging, wippte nicht mehr. Da hatten zwei miteinander ihren Frieden gefunden. Schön für sie.
Als jeder auf seinem Platz saß, schloss ich so leise wie möglich die klemmende Seitentür des Busses.
Lisbeth stieg ein und schloss die Beifahrertür.
Wie durch ein Wunder sprang der Bus beim ersten Versuch an.
„Siehst du?“, sagte Lisbeth schelmisch. „Ich hab dir doch gesagt, er spürt das, wenn der Fahrer gut drauf ist!“
Kapitel 2
Als wir bereits mehr als dreizehn Stunden unterwegs waren – die Pausen mitgerechnet –, und insgesamt elfhundert Kilometer hinter uns gebracht hatten, wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Bett.
Ich konnte froh sein, dass die Seniorengang nicht zu geizig gewesen war, die französischen Autobahngebühren in ihre Planung einzubeziehen, denn sonst wären wir vermutlich noch auf einer Landstraße herumgeeiert, auf der Suche nach kostenlosen Schleichwegen Richtung spanischer Grenze.
Lisbeth hatte ihre Route genauestens ausgearbeitet und kannte sie als Einzige. Warum sie mich nicht in die Unterlagen blicken ließ, erschloss sich mir nicht. Immer wieder musste ich warten, bis sie mir sagte, wie es weiterging.
Jetzt war es wieder soweit.
„Lisbeth?“
Erstaunt stellte ich jedoch fest, dass sie schlief. Tief und fest. Und ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass die anderen es ihr gleichtaten.
Es half alles nichts, ich musste eine Entscheidung treffen, und die fiel zugunsten einer Übernachtung aus. Niemand erwachte, als ich klammheimlich von der Autobahn fuhr.
* * *
Ich fuhr so lange weiter, bis ich endlich das Meer roch, dann suchte und fand ich ein Motel. Meine menschliche Fracht schnarchte friedlich, während ich unser Gespann parkte. Nach nur wenigen Minuten konnte ich vier Doppelzimmer unser Eigen nennen. Ich würde mir mit Rolf das Zimmer teilen, dann konnte ich ihn im Auge behalten.
„Wacht auf, wir steigen hier aus!“, rief ich leise und öffnete ohne viel Federlesen die Beifahrer- und dann die Seitentür.
„Was?“ Lisbeth blinzelte mich verschlafen an.
„Raus aus dem Wagen und ab in die Zimmer“, bestimmte ich und wartete, bis sich alle aufgerappelt, ihre Knochen sortiert und den Bus verlassen hatten. Bibbernd standen sie um mich herum in der frischen Nachtluft.
„Lisbeth und Bea, hier sind eure Schlüssel. Schorschi und Sonja, ihr nehmt das dritte Zimmer. Rolf, du kommst mit mir.“
Noch während sich die anderen zu orientieren versuchten, hievte ich eine Reisetasche nach der anderen aus dem Hänger.
Es dauerte eine Weile, bis sich alle mit ihrem Gepäck zurückgezogen hatten.
Der Blick, den Lisbeth mir zuwarf, war vernichtend. „Diese Übernachtung war nicht eingeplant“, knurrte sie, während sie mir und ihrer Reisetasche zu ihrem Zimmer folgte.
„Geht auf mich. Bis morgen!“ Schon war ich wieder draußen.
Ich schloss den Bus ab, unsicher, ob ihn nicht ein einigermaßen motiviertes Eichhörnchen knacken konnte wie eine hohle Nuss. Dass jemand den Anhänger ausräumen würde, war eher unwahrscheinlich. Jeder meiner Reisebegleiter hatte ein Minimum an Möbeln mitnehmen dürfen, einen Stuhl oder einen Sessel, einen kleinen Wandspiegel oder ein Tischchen. Alles Dinge, die einen Diebstahl nicht lohnten. Nein, der Hänger war sicher. Zufrieden ging ich zurück zu meinem Domizil.
Rolf quälte sich in unserem Zimmer bereits unbeholfen aus seinen Sachen.
„Warte“, sagte ich und half ihm, die Schuhe auszuziehen.
Mit einem erleichterten Stöhnen ließ er sich auf das Bett sinken.
Nachdenklich fühlte ich seinen Puls. Angesichts seines Übergewichts war er so, wie ich vermutet hatte.
Ich besorgte ihm ein Glas Wasser und wartete, dass er seine Medikamente schluckte. Kaum war er auf das Kissen zurückgesunken, seufzte er tief und schlief ein.
Ich jedoch ging erst einmal unter die Dusche.