Silbergrau mit Wellengang. Andrea Reichart
„Ich könnte es versuchen“, warf Bea ein. „Wir hatten früher einen Wohnwagen, mein Mann und ich. Ich weiß, wie man mit Anhänger fährt.“
Rolf lachte auf. „Du, Bea? Du kotzt doch schon, wenn wir an einer grünen Ampel losfahren. Wie willst du denn die restlichen zwölfhundert Kilometer schaffen? Also ehrlich!“
Erschrocken sah Bea Lisbeth an. „Wirklich? Noch zwölfhundert Kilometer?“
„Wenn wir den direkten Weg nehmen, ja“, sagte sie. „Wenn wir an der Atlantikküste entlangfahren und den Jakobsweg nehmen, dann wirds mehr.“
„Wo sind wir überhaupt?“, fragte Sonja.
Lisbeth zuckte die Schultern. „Irgendwo zwischen Bordeaux und Bayonne, schätze ich. Oder, Alexander?“
„In der Nähe von Bayonne“, erwiderte ich und wunderte mich, dass die anderen den Atlantik nicht rochen. Ich hatte ihn schon in der Nase, seit ich die Augen aufgeschlagen hatte.
Während sie über meine Nachfolge hinterm Steuer diskutierten, ließ ich mir endlich das Frühstück schmecken. Als sie sich alle gegenseitig so demoralisiert hatten, dass selbst die unerschütterliche Sonja jeden Moment vor Verzweiflung in Tränen auszubrechen drohte, war ich mit dem Essen fertig. Ich klopfte nun meinerseits mit einer Gabel gegen meine Tasse.
„Ich mache euch einen Vorschlag“, sagte ich, als sich alle Blicke mir zugewandt hatten und das Murmeln verstummt war. „Ich fühle mich zwar ein wenig komisch, so, als würde ich eine Erkältung ausbrüten, aber das wird sicher nicht so schlimm. Ich fahre euch zunächst bis Santiago de Compostela. Das dürften so etwa siebenhundert Kilometer sein. Da rennt ihr dann alle ein bisschen im Kreis herum und betet und danach fahren wir weiter, die Nacht durch nach Faro. Dort setze ich euch an der Finca ab, ihr leiht mir den Bus, damit ich zu der Beerdigung komme, und ich bringe ihn euch ein oder zwei Tage später wieder vorbei. Was haltet ihr davon?“
Die Art, wie Lisbeth mich ansah, schickte mir eine Gänsehaut über die Arme. So hatte mich meine Grundschullehrerin angesehen, als ich in der zweiten Klasse eine ungewöhnlich schwere Matheaufgabe im Handumdrehen gelöst hatte. Wie Fräulein Sachse damals schien Lisbeth jetzt zu überlegen, ob ich gerade pfuschte oder wirklich so schlau war.
Ich konnte nicht anders, ich streckte ihr grinsend die Zunge raus.
Schmunzelnd nahm ich das leichte Aufblitzen in ihren Augen und das kaum wahrnehmbare Zucken ihrer Mundwinkel zur Kenntnis.
* * *
Als wir zu Ende gefrühstückt hatten und uns kurz darauf alle mit unserem Gepäck am Bus trafen, brach die Sonne durch die morgendliche Wolkendecke. Es würde ein wunderbarer Sommertag werden, warm aber nicht zu heiß.
Ich half, die Taschen wieder im Anhänger zu verstauen, und bat meine Fahrgäste, in den Bus einzusteigen.
„Finger an die Nasen“, rief ich, und als alle grinsend ihre Nasen berührten, hämmerte ich mit einem energischen Ruck die störrische Seitentür ins Schloss. Ein kritischer Blick auf den Schleichplatten hinten links am Hänger ließ mich allerdings seufzen.
Lisbeths Blick war meinem gefolgt. „Keine Sorge, der Wirt sagte, die nächste Tankstelle sei direkt da vorne um die Ecke.“
„Gut“, nickte ich, „in die Richtung gehts auch zur Grenze.“
„Ja“, sagte sie leise, als hätte sie plötzlich doch Angst vor dem, was vor ihr lag.
Kapitel 4
Santiago de Compostela glich einem Irrenhaus.
Es dauerte eine Weile, bis ich es begriff: Am Straßenrand zu parken, konnte ich vergessen, es gab einfach keine freien Parkplätze, nirgends – schon gar keine, in die der Bus mit Anhänger gepasst hätte.
Und ich dachte, die kämen hier alle zu Fuß hin! Jakobsweg. Pilgern! Nicht fahren!
Falsch gedacht.
„Lass uns mal den Wohnmobilstellplatz anfahren“, schlug Schorschi vor. Er wies auf ein Hinweisschild und beugte sich dabei zwischen mir und Lisbeth nach vorne. Kaum hatte er den Kopf auf meiner Höhe, nieste er.
„Entschuldigung“, nuschelte er, drehte sich wieder weg und zog dabei geräuschvoll die Nase hoch.
„Hier, ein Taschentuch“, hörte ich Sonja.
„Gib mir auch mal eins“, bat Bea und nieste ebenfalls.
„Au weia, geht das jetzt von vorne los?“, fragte Sonja. „Ich dachte, ihr wärt alle wieder gesund?“ Man hörte die empörte Krankenschwester heraus. „Alexander, Lisbeth, kurbelt bitte eure Fenster wieder hoch!“
„Ich dachte, ich hätte es hinter mir.“ Schorschi schnäuzte sich vernehmlich.
Als hätte er damit ein geheimes Zeichen gegeben, begann plötzlich jeder zu hüsteln.
Ich hatte die Hand bereits an der Fensterkurbel, überlegte es mir aber plötzlich anders. Frische Luft war jetzt das Letzte, worauf ich verzichten wollte, obwohl ich ziemlich sicher war, dass ich mich bei den anderen längst angesteckt hatte.
Neben mir rieb sich Lisbeth mit einer heftigen Handbewegung über die Nase. Ihr Fenster hatte sie bereits geschlossen, jetzt warf sie mir einen vorwurfsvollen Blick zu und nickte auffordernd. Ich beschloss, es zu ignorieren.
„Ihr wart krank?“, fragte ich stattdessen.
Sie zuckte die Schulter. „Die meisten von uns. Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten, da kann das vorkommen.“
„Ich hatte sogar eine schwere Bronchitis!“, rief Bea fröhlich von hinten, dann hustete sie.
Na großartig! Da fuhr ich seit Stunden bei geöffneten Fenstern und Durchzug die spanische Atlantikküste entlang und niemand hatte es für nötig befunden, mich darauf hinzuweisen, dass dies eigentlich ein Bus voller Rekonvaleszenten war?!
Bea hustete erneut, diesmal heftiger. Ich sah förmlich die Viren in den mikroskopisch kleinen Speicheltröpfchen von hinten heransausen und einen Moment in der Luft verharren, auf der Suche nach einem vielversprechenden Wirt. Sicherheitshalber presste ich die Lippen zusammen.
Was ich jetzt brauchte, war mentale Stärke. Ich musste schließlich auf eine Beerdigung und dann nach Irland!
Mürrisch steuerte ich den Bus vor die Schranke des großen Stellplatzes, zu dem mich die Gruppe schließlich lotste. Drei Euro am Tag fand ich okay, noch mal zwölf extra, wenn man über Nacht blieb. Aber das wollten wir ja nicht. Ich würde heute Abend nach Faro weiterfahren, vermutlich die ganze Nacht hindurch. Mit einem Bus voller alter Menschen, die nun scheinbar gar nicht mehr aufhören wollten, zu schniefen und zu hüsteln.
* * *
Du bist was du denkst.
Innerlich ausgeglichen bleiben wie eine Qualle im Koma, dann konnte einem die Welt nichts anhaben. Wenn ich erst die Vorstellung zuließ, dass mich die Erkältung erwischen würde, dann wäre es um mich geschehen. Glaubte ich aber fest daran, dass sie mir nichts anhaben konnte, dann erwischte sie mich auch nicht.
Eine gemeinsame Freundin hatte Cordula und mir im Laufe unserer Ehe Hunderte von Büchern zu diesem Thema geschenkt. Und ich hatte sie alle gelesen, die meisten allerdings nur, weil sie so doof waren, dass ich mich beim Lesen halb totlachte.
Weder Cordula noch ich waren früher esoterisch veranlagt gewesen, aber ihre beste Freundin dafür umso mehr. Moni ließ keine Gelegenheit aus, alles Mögliche an uns auszuprobieren. Und Cordula ließ es geschehen.
„Nur zur Sicherheit“, meinte sie dann pragmatisch. „Stell dir vor, da ist was dran!“
Meiner Frau zuliebe machte ich jeden Unsinn mit, den Moni vorschlug.
Sie schleppte Räucherstäbchen an und wir nebelten die Wohnung damit ein.
Moni brachte Cannabis