Ich kann mir die Arbeit nicht leisten. Rainer Voigt

Ich kann mir die Arbeit nicht leisten - Rainer Voigt


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Sommer suchte eine in seiner Nähe, eine in der großen Stadt. Einmal konnte er ihr so besser helfen, wenn Hilfe gefordert war, zum anderen dachte er damals noch leichtgläubig, dass seine Kinder von der Oma verwöhnt werden könnten. Je mehr Zeit sie hatte, umso mehr Argumente erfand sie, dass es für sie unzumutbar wäre, den Enkeln mal ein Mittagessen zuzubereiten. „Ich soll wohl für die Enkel kochen? Dann kommt jeder zu einer anderen Zeit und ich muss die ganze Zeit das Essen warm halten. Und dann mäkeln sie vielleicht, weil ihnen mein Essen nicht schmeckt.“ Den Umzug bewältigte er nahezu allein. Der Balkon ihrer neuen Wohnung in der großen Stadt glich einem Garten. Über 30 Tomatenpflanzen versorgten sie mit Gemüse. Dazu kamen nahezu alle Küchenkräuter und jede Menge Blumen. Die Beschaffung der Blumenerde, deren Entsorgung im Spätherbst, alles waren Aufgaben für Frank-Peter Sommer. Aber zunehmend wurde sie bösartig. Zuerst gegen seine Kinder, dann gegen seine Ehefrau, selbst den Hausmeister zeigte sie mehrfach bei der Polizei an, weil dieser angeblich über die Feuerleiter Steine2 von ihrem Balkon geklaut haben sollte. Fast täglich vermutete sie Einbrüche in ihren Keller und wusste sofort den oder die Schuldigen. Nur gab es am Keller keinerlei Einbruchspuren. Zentimeterdick lag der Staub am Metallprofil über der Tür. Trotzdem sicherte sie ihren Keller fortan zusätzlich mit einer monströsen Eisenkette und einem weiteren Sicherheitsschloss. Unabhängig davon erzählte sie weiterhin von ständigen Einbrüchen und Diebstählen. Einen nach dem Anderen ihrer einstmals guten Bekannten vergraulte sie auf diese Art und Weise. Selbst ihre langjährige Klöppelfreundin aus dem Erzgebirge, die wöchentlich lange mit ihr telefonierte, geriet wegen aus dem Zusammenhang genommener Gesprächsfetzen in die böse Schublade, wurde als Erbschleichering denunziert und der Kontakt gemieden.

      Mit unendlicher Geduld hatte seine Mutter früher neben ihrer Arbeit in drei Schichten in einem Braunkohletagebau Handarbeiten gemacht. Sie strickte Pullover, knüpfte Netze aus dicken Wollfäden, nähte aus Stoffresten Taschen und hatte sich, unterstützt durch einen Zirkel, sehr gut in die schwierige Klöppeltechnik eingearbeitet. Wahre Wunderwerke entstanden so unter ihren Händen. Das führte aber andererseits dazu, dass sie sich mit allen Dingen, die sie für brauchbar hielt, bevorratete, was später noch zu lesen sein wird. Mit der Rente hatte sie auch dafür mehr Zeit.

       Klöppelarbeiten

      Während Frank-Peter Sommer händeringend nach Arbeit suchte, erhielt er eines Tages die Hiobsbotschaft, dass seine Mutter, die jetzt in Leipzig unweit von ihm wohnte, in der Uniklinik lag. Mehrere Tage hatte er sie nicht besucht, was eigentlich nicht ungewöhnlich war. Oft genug meldete sie sich nach einiger Zeit, wenn größere Einkäufe zu tätigen waren oder sie anderweitig Hilfe brauchte. Frank-Peter Sommer erfuhr, dass ihr Zustand bedenklich war und wurde in die Uniklinik gebeten. Dort teilte man ihm mit, dass sie einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt erlitten hatte und etwa zwei Tage in ihrer Wohnung gelegen haben musste, bis auf dem Hof spielende Kinder ihr Wimmern hörten und Hilfe riefen. Die kommenden 48 Stunden würden entscheiden, ob sie überleben wird. Sie überlebte, würde jedoch nach Einschätzung der behandelnden Ärztin nie mehr selbstständig laufen und sich selbst versorgen können.

      Völlig unvorhergesehen kam dieser Zusammenbruch nicht. Seit geraumer Zeit war sie sehr eigen, mied Kontakte zu Frank-Peters Frau und seinen Kindern, sah immer und überall nur das Böse. Alle um sie herum würden sie bestehlen und ihr nach dem Leben trachten. Er ahnte, dass dieses eine Form ihrer Altersdemenz war und wunderte sich, dass die Hausärztin, mit der seine Schwester bereits telefoniert hatte, keine Möglichkeit sah, diesen Krankheitsverlauf zu verlangsamen. Scheinbar das Gegenteil war zu befürchten. Immer dann, wenn seine Mutter von der Hausärztin kam, gab es neuen Streit. „Die Ärztin hat auch gesagt, dass der Hausmeister mich beklaut“. Oder: „Ich soll meine Schwiegertochter nicht mehr ins Haus lassen!“ Frank-Peter Sommer besuchte sie in der Regel wöchentlich, auch wenn seine Besuche manchmal in Streit ausarteten. Seine Mutter erzählte in einer besserwisserischen Art irgendeine Geschichte, die wirklich nicht stimmte. Widersprach er nicht, kam bei nächster Gelegenheit: „du hast ja auch gesagt“ oder etwas in einer ähnlichen Art. Später musste er feststellen, dass sie alles, was gesagt wurde, auf winzige Zettelchen aufschrieb und somit beim nächsten Gespräch bestens vorbereitet war. Widersprach er, belehrte sie ihm, dass er nicht lügen solle oder dass er nicht die Meinung seiner Frau vorbringen solle. Sie diskutierte nicht ungeschickt solange, bis sie Recht bekam, auch wenn sie während der Diskussion oftmals ihren Standpunkt änderte. Es wurde immer schwieriger, mit ihr auszukommen. Frank-Peter Sommer half in dieser Situation, dass er sich im Internet intensiv mit der Demenz beschäftigte. Als er verinnerlicht hatte, dass dieses eine Krankheit ist, konnte er besser damit umgehen. Jetzt lag sie, dem Tode näher als dem Leben, in der Uniklinik.

      Das große Glück in dieser Situation war, dass Frank-Peter Sommer die vorläufige Betreuung übernehmen und mit einem Attest der Uniklinik sofort die Pflegestufe eins beantragen konnte. Diese wurde auch umgehend, wenn auch vorläufig, genehmigt. Das ist nicht unbedingt alltäglich, wie es in manchen TV-Sendungen aufgedeckt wurde. Einen ganzen Tag telefonierte er eine Liste mit allen im Umfeld verfügbaren Pflegeheimen ab, die er von der Uniklinik erhalten hatte. Meistens erhielt er sofortige Ablehnungen, andere gaben an, dass vorübergehend alles belegt sei, aber das kann sich täglich ändern. Allerdings gibt es eine lange Warteliste. Am Ende des Tages hatte er Glück. Kurzfristig konnte er für seine Mutter einen Platz in einem Pflegeheim organisieren, wo sie bereits eine Woche später einzog. Nun lag sie, die eigentlich mehr vom Leben erwartet hatte, in einem Pflegeheim, nicht mehr in der Lage, ein Buch zu lesen oder eine Fernsehsendung zu verfolgen. Die durch die Demenz zunehmend in eine mehr oder weniger heile, zumindest aber in eine eigene Welt entrückte Dame begann auch im Pflegeheim zum Problemfall zu werden. Doch davon später mehr.

      Seit über einem Jahr besuchte er nun wöchentlich, gelegentlich auch öfter, die betagte Dame im Pflegeheim. Nach einer sehr schweren Anfangsphase ging es ihr zunehmen besser, vermeintlich besser. Sie konnte sogar die Mediziner „überzeugen“, dass sie, obwohl überwiegend bettlägerig und auf einen Rollstuhl angewiesen, nicht die Pflegestufe II benötigt. Wenn das Personal mit ihr mehr üben würde, könnte sie längst wieder laufen, ließ sie die Ärzte bei der Einstufungsbegutachtung stolz wissen. Dabei schaffte sie es auch erstmals allein vom Bett in den Rollstuhl zu kommen. Zu einem regelrechten Zusammenbruch kam es, als Frank-Peter Sommer ihr offenbaren musste, dass dieses Zimmer nun ihr zuhause sei. Sie würde nie mehr in ihre Wohnung kommen. Für die alte Frau brach eine Welt zusammen. Sie schluchzte herzzerreißend und er vermochte nicht, ihr angemessen Trost zu geben. Frank-Peter Sommer oblag es in dieser Situation, ihre Betreuung dauerhaft zu übernehmen und die Wohnung aufzulösen. Zu dieser Zeit konnte Frank-Peter Sommer eher froh sein, von jeglicher organisierter Arbeit freigestellt zu sein, denn die Wohnungsauflösung erwies sich, wie später noch berichtet werden wird, zumindest für einige Monate als regelrechter Volltimejob. Man hat die Wahl, nahezu alles aus einer Wohnung wegzuschmeißen oder aber zumindest zu sichten, wichtige Dinge für die Nachwelt aufzubereiten und zu verschenken und erst dann wegzuschmeißen, wenn wirklich keine Verwendung mehr gegeben ist. Letzteres erschien Frank-Peter Sommer in Würdigung an seine Mutter und deren langem Arbeitsleben als die bessere Alternative. Trotzdem bemühte er sich auch in dieser schweren Zeit redlich um Arbeit.

      Frank-Peter Sommer hatte vor seiner Arbeitslosigkeit fast zwei Jahre lang in einer mittelständischen Firma gearbeitet, die Schaltschränke produziert. Nach kurzer Montagetätigkeit in dieser Firma, die ihm durch eine Zeitarbeitsfirma vermittelt worden war, kam er mit dem Meister Karlheinz Jungnickel ins Gespräch. Karlheinz Jungnickel las in seiner Mittagspause immer Bücher. „Was für Bücher liest du da“, fragte er ihn. „Eigentlich alles“, antwortete er, „nur gut muss es sein“. Bei diesen Gesprächen erfuhr Karlheinz Jungnickel von Frank-Peter Sommers Computerkenntnissen und seiner Qualifikationen und delegierte ihn ins Büro, wo gerade ein Engpass bei der Computerbearbeitung der Revisionsunterlagen eingetreten war. Mit kurzer Anlernzeit konnte er mithalten, weil er mit einem ähnlichen Computerprogramm bereits Erfahrungen hatte. Später wurde er gebeten, eine Bewerbung zu schreiben. Von sich aus wäre


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