Die Zeit berühren. Walter Kaufmann

Die Zeit berühren - Walter  Kaufmann


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weinte. Natürlich ließ ich mich aufhalten, natürlich fragte ich ihn nach seinem Kummer – aber er antwortete nicht gleich. »Was zahlen Sie Bill, daß er Sie an den Wochenenden zu den Kirchen fährt?« fragte er schließlich. Ich sagte es ihm. Er putzte sich die Nase, wischte sich mit dem Handrücken die Augen und nahm dann aus seiner Brieftasche eine Fünfpfundnote. »Nehmen Sie das, ich bitte Sie, und mieten Sie sich jemand anders – und jeden Freitag komme ich mit dem Geld.«

      Das schlug ich aus, suchte mir aber einen neuen Fahrer. Bald glänzte das Haus am St. Vincent Place wieder von innen, wie zuvor aßen wir zu dritt in der Gemeinschaftsküche, doch erst als sich meine Freundin bei uns einlud und wir zu viert aßen, war Henry ganz der alte. Er sang beim Servieren, warf uns allen freundliche Blicke zu und wirkte gelöst wie in den Tagen, als er mit Bill Harvey eingezogen war.

      Albury

      Australien 1943

      Plötzlich, wie seltsam, trug mir der Wind die Klänge erhabener Musik zu. Zwischen sanften braunen Hügeln und über Steppengras, wo Känguruhs weideten, war ich an jenem Sommertag in Alburys Hinterland zu den Ufern des Murray gelangt, und dort, im Schatten der Trauerweiden, erkannte ich, was ich hörte – Beethovens Eroica. Ich ging den Klängen nach, sie führten mich zu einem Pfad, der vom Fluß durch Unterholz in eine Lichtung mündete. Da sah ich ihn mit dem Rücken gegen den Stamm eines Eukalyptusbaumes vor einem schlichten Holzhaus sitzen, neben sich eines jener alten Grammophone mit Trichter und Handkurbel, ein »Die-Stimme-seines-Herrn«-Grammophon – selbst der kleine Hund fehlte nicht. Nur daß dieser Hund nicht wie der auf dem Firmenzeichen war, sondern ein Spitz. Der junge Mann war blaß für einen Australier vom Lande, mit schmalen Schultern, langarmig und langbeinig, und wie er da saß, wirkte er kränklich, überaus sensibel, verletzlich auch – Augen voller Sanftheit, ein zu weicher Mund und Haar so seidig, jeder Windhauch bewegte es. Er sprach mit sanfter Stimme. Was er zur Begrüßung sagte, hat sich mir eingeprägt, auch, wie er es sagte. Sein Name sei Colin Cartwright, und es bedeutete ihm viel, daß ich kannte, was er da auf dem Grammophon spielte. Noch mehr bedeutete es ihm, daß ich aus dem Land der Geburt jenes großen Tonmeisters stammte, dazu noch im Rheinland nicht weit von Bonn aufgewachsen war. Von Hitlerdeutschland schien er nur begrenzte Vorstellungen zu haben – man hatte dort zum Krieg gerüstet und nun war er ausgebrochen. Von den Verfolgungen, die dem Krieg vorangegangen waren, konnte wenig zu ihm gedrungen sein. War nicht auch Menuhin Jude und Bruno Walter, und musizierten sie nicht noch in Deutschland? Nicht mehr, schon lange nicht – er nahm das zur Kenntnis und es stimmte ihn bedenklich. Als ich erfuhr, daß er zuweilen an der Lokalzeitung als Korrektor aushalf, wunderte ich mich über seine Weltfremdheit. Begriff er denn nicht, was er da korrigierte? Doch schon, versicherte er, aber vom Weltgeschehen sei da nicht viel zu finden und es verlange ihn auch nicht danach. Was er erführe, genüge ihm und ich, der an dem Schicksal meiner Eltern litt, an den Nachrichten von Verschleppung und Mord, und jeder Kunde vom Verlauf des Krieges nachging, brachte dafür wenig Verständnis auf. Gleichzeitig aber erweckte seine Hingabe an deutsche Musik Sehnsucht in mir, Vorstellungen von einem Deutschland, das ich nie gekannt hatte. Es tat mir gut, wie er die Namen Bach, Beethoven, Brahms sprach, und später, als ich erfuhr, daß er unheilbar krank sei, verstand ich sehr wohl, warum er Einsichten über den Ort des Schreckens, der Deutschland in jenen Jahren war, nicht in sich aufkommen ließ. Bach, Beethoven, Brahms – seit jener Begegnung traf ich niemand mehr, dem jene Musik ein solcher Born von Hoffnung war. Denke ich an Colin Cartwright, höre ich, wie damals an den Ufern des Murray, Beethovens Eroica und folge im Geiste dem Pfad, der mich zu ihm führte.

      Warren Street

      New York 1961

      Ich hatte es wissen wollen, und so war ich an jenem Morgen noch vor Tagesanbruch zur Warren Street aufgebrochen. Ich kam zu spät. Vor mir hatten sich schon viele auf den Weg gemacht, Schwarze zumeist, waren die ausgehöhlten Steinstufen hinauf durch den Eingang gelangt, und sie alle belagerten jetzt das triste, mehrstöckige Haus, streunten durch die Korridore, die dunkel gefliest und schlecht beleuchtet waren, hockten auf Bänken unter den Tafeln mit Stellenangeboten und warteten. Über allen lastete das Schweigen, die Männer blickten einander kaum an – und wenn irgendwer von mir Notiz nahm, dann mißtrauisch. Was will der hier, wo kommt der her? Eine Stunde später wußte ich, was ich geahnt hatte – als Weißer galt ich mehr. Ich hätte nur zu lügen, hätte dem Arbeitsvermittler, der mich, Zigarre zwischen den Lippen, mit einem Kopfnicken herbeiwinkte, nur zu bestätigen brauchen, daß ich als Tellerwäscher erfahren sei, und ich wäre dem Schwarzen, der sich dazugedrängt hatte, auf jeden Fall vorgezogen worden.

      Als ich, vorbei an den Polizisten, wieder auf die Straße trat, hatte es zu schneien begonnen. Schneidender Wind wirbelte mir den Schnee ins Gesicht, und obwohl es nun hell war, machte ich nur verschwommen die sich nähernden Gestalten in dem weißen Wirbel aus – bald würden auch sie, wie zuvor die anderen, mit suchendem Blick die Stellenangebote prüfen und dann in stumpfer Ergebenheit gegen die Wände der Korridore gelehnt oder auf den Bänken warten. Tellerwäscher, Fabrikhilfsarbeiter, Packer …

      Als ich wenige Tage später in frostiger Nacht in dem zerlumpten Obdachlosen, der auf dem Rost vor dem Warenhaus in der aufsteigenden Warmluft lag, den Mann erkannte, der den mir angebotenen Posten ergattert hatte, fragte ich ihn, wie es kam, daß er schon wieder auf der Straße gelandet war. Er spuckte aus, als ich ihn ansprach, und verscheuchte mich.

      Dandenongs

      Melbourne 1949

      Ich ertrug sie nicht. Keine Woche ertrug ich die Einsamkeit jenseits der Stadt in den Hügeln. Meine Gedanken zogen Kreise, und ich sah mich in einen Strudel von Ansätzen gerissen – schreibe ich dies so, jenes anders? Formulierungen kamen und gingen, bis nichts mehr ging und meine Abgeschiedenheit wie eine Strafe auf mich wirkte. Bald würde ich dem Ort den Rücken kehren, wo mir das Lachen der Kukaburras in den Zweigen der Bäume wie irre Laute klang und mich die Schwärme bunter Sittiche erschreckten, wenn sie plötzlich mit rauschendem Gefieder in den wolkenlosen Himmel stiegen. Nachts, wenn der Mond schien, die Vögel und alle Tiere schwiegen und nur die Grillen tausend und abertausendfach zirpten, empfand ich die Einsamkeit stärker als am Tag. Ich floh. Zur Stadt zurückgekehrt, unter dem Gewölbe der großen Bibliothek, wo ringsum an den grünen Tischen im Lichtschein der Lampen die Leute Bücher lasen, hoffte ich auf eine Wende. Aber noch immer brachte ich nur Ansätze zustande, füllte meine Kladde mit Versuchen, bis ich erkennen mußte, daß was ich schreiben wollte noch unklar war. Aber ich harrte aus, kehrte täglich zur Bibliothek zurück und mied die Außenwelt, mied den Hafen, wo vier Schauerleute aus der Gang, zu der ich gehörte, meinen Teil der Arbeit taten, damit ich frei sei für das Schreiben. Sie waren es, Tim O'Leary, Jim Warren, Harry Mclntosh und Larry Jenkins, die eine ausrangierte Straßenbahn gefunden und erstanden, sie entrostet, mit einer dem Busch angepaßten Tarnfarbe gestrichen und innen so umgebaut hatten, daß man dort an einem Stehpult schreiben, auf einer Liege schlafen und rund um einen Tisch auf Bänken sitzen konnte. Regale für Konserven und Getränke hatten sie eingebaut, einen Holzkohlenherd und zwei Wassertanks, deren Inhalt bei sparsamer Nutzung drei Wochen reichen würde. Und als das getan war und sie die Straßenbahn hinter einem Trekker vom Hafen quer durch die Stadt über kurvenreiche Straßen hoch in die Dandenongs geschleppt und auf einem Plateau mit weiter Sicht aufgebaut hatten, erklärten sie, dies sei nur in zweiter Linie ihre Wochenendbleibe, vorrangig gehöre sie mir. Drei Wochen lang sollte ich fürs erste hier bleiben und dann, in Abständen, immer wieder drei, bis das Buch, an das sie glaubten, geschrieben wäre. Ich aber hatte nicht durchgehalten und würde sie, um das nicht eingestehen zu müssen, weitere zehn Tage zu meiden haben – und das, unter den Umständen, schien mir eine lange Zeit.

      Hafen

      Rio de Janeiro 1962

      Es gab Huren die Menge am Hafen, Frauen aller Hautfarben, und nicht wenige dabei, die Blickfänge waren – seidene Kleider, bunt und eng, daß Busen und Schenkel sich abhoben, Schmuck im Haar, Münder und Augen kraß geschminkt. Eingeprägt aber hat sich mir von allen die Unansehnlichste, ein Mulattenmädchen knabenhaft in Jeans, knabenhaft die Gestalt, schwach nur hoben sich die Brustwarzen im schwarzen Turnhemd ab. Sie bewegte sich linkisch, es war, als wüßte sie nicht wohin mit den Armen, die lang waren,


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