Die Zeit berühren. Walter Kaufmann

Die Zeit berühren - Walter  Kaufmann


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ein Scherz das, eine lockere kalifornische Absage. Wo in der Welt telefonierte man auf diese Weise miteinander! Und doch, im Chinesenviertel angelangt, besah ich mir die Telefonzelle von innen und fand tatsächlich auf der Wählscheibe eine Nummer. Skeptisch noch immer, vergaß ich sie alsbald. Die junge Frau aber mit den lachenden Augen ging mir nicht aus dem Sinn und als der Abend kam, stand ich zur verabredeten Zeit vor der Telefonzelle. Irgendwo schlug eine Uhr sieben Mal.

      Nichts rührte sich. Ich wartete. In fünf Minuten, das versprach ich mir, würde ich es aufgeben.

      Ein greiser Chinese, gebückt und runzlig, schlurfte auf mich zu. »You wait for call?« fragte er schrill.

      »No«, versicherte ich ihm in dem Augenblick, als es läutete – wahrhaftig, in der Zelle läutete es. Ich riß die Tür auf, den Hörer von der Gabel.

      »Hallo stranger«, hörte ich sie rufen, und sicher klang meine Antwort weniger selbstsicher als erleichtert. »Stranger no more«.

      Gefängniszelle

      San Quentin 1973

      Hinter Gittern nun schon das zwölfte Jahr, grauhaarig und alt vor seiner Zeit, ein Greis von fünfzig, hatte er jedesmal, wenn ihm wegen guter Führung und Bestarbeit in der Tischlerei vorzeitige Entlassung versprochen worden war, gegen irgendwelche Regeln verstoßen, um die Haftzeit zu verlängern. Er wollte seine achtzehn Jahre bis zum letzten Tag absitzen, denn er fühlte sich schuldig.

      »Reden Sie mit ihm, er wird es Ihnen beichten«, hatte mir der Gefängnisdirektor versichert. »Darauf wartet er bloß.«

      So redeten wir also miteinander, Julio Martinez und ich, und ist mir auch der Ablauf des Geständnisses nicht mehr deutlich, so doch der Tonfall – er sprach gedämpft mit starkem mexikanischem Akzent, und er schaffte es, daß ich mir vorstellte, wie er in jener Nacht nach Hause gekommen war, müde von der Plackerei auf dem Feld und der Arbeit an dem Schuppen, den der Boß unter Flutlicht hatte bauen lassen. Lang nach Mitternacht war es, und die Frau fehlte. Das Haus, eine Holzbaracke am Dorfrand, war verwaist. Er suchte sie, rief nach ihr, und dann streckte er sich auf der Pritsche aus und wartete. Wo mochte sie sein? Nie zuvor war sie ohne seine Billigung weg gewesen, immer hatte sie bereit gestanden mit einem Bottich heißen Wassers, daß er sich wusch, und mit warmem Essen auf dem Herd. Eine Stunde verstrich und eine weitere. Maria blieb verschollen. Es nutzte nichts, daß er über die Arbeit nachdachte, die morgen anlag und wie er die Männer dazu bringen konnte, gegen die Doppelschichten anzugehen, die ihnen aufgezwungen waren, die Hungerlöhne, die Ausbeutung. Wer würde mithalten, wenn er zum Streik aufrief, wer sie unterstützen, falls es dazu kam. Es nutzte nichts, daß er dem nachgrübelte. Wo war Maria? Die Knochen schmerzten ihn, das Kreuz, und mehr als nur die Stiefel von den Füßen ziehen, brachte er nicht zustande. Er war geschafft. Schlaflos lag er da und starrte vor sich hin. Nichts regte sich. Schon war es drei und erst im ersten grauen Licht des Morgens bewegte sich die Tür. Die Frau trat ein, leise trat sie ein, und er erkannte, daß ihr Haar wirr und die Bluse überm Busen zerrissen war. Argwohn durchfuhr ihn. Weibsstück, dachte er, Hure – wo verdammt, hast du dich rumgetrieben, und noch ehe er das laut herausschrie, war er auf den Beinen, stand er vor ihr und – schlug zu. Sie schrie und fiel, prallte mit dem Kopf gegen die Tischkante und blieb liegen. Reglos blieb sie liegen und war tot. Er riß sie an sich, sie hing in seinen Armen wie eine Puppe, schlaff die Arme, der Körper, der Busen entblößt in der Bluse. »Maria«, hauchte er, »Maria« – und noch ehe die Hähne krähten, stellte er sich der Polizei auf dem Revier.

      »Und was hörte ich da – was verdammt, hörte ich da?« fragte er mich.

      Ich schwieg. Er würde es schon sagen.

      »Herumgetrieben«, sagte er dumpf, und es war, als erinnere er sich an ein gestriges und kein zwölf Jahre altes Geschehen. »Nichts davon, und auch mit keinem Kerl hatte sie sich eingelassen. Was ihr zustieß, stieß ihr auf der Demonstration zu, die Bullen hatten sie so zugerichtet, weil sie das Transparent nicht losließ. Und dann war sie verhaftet, vor Morgengrauen aber wieder auf die Straße geworfen worden. So war das – und ich bin schuldig, und werde es sein bis in den Tod. Jesus!«

      »Jesus«, sagte auch ich, aber es war ihm kein Trost, und er blickte noch ins Leere, als ich schon aufbrach.

      Schulweg

      Duissern 1930

      Ich erinnere den Grund nicht, warum ich mich, ein Kind noch, sechs Jahre alt, zur Mittagszeit jenes Tages zum zweiten Mal auf den Weg zur Schule machen mußte. Daß ich dort nicht ankam, weiß ich noch genau.

      Erstaunt war ich auf halbem Weg stehen geblieben. Was trieb der Mann dort oben auf dem Dach der leerstehenden Fabrik, die unser Hauptquartier, Versteck, Spielplatz der Kinder aus der Gegend war, was hatte all die Menschen, Frauen, Männer und Kinder, in den Hof gelockt, warum starrten sie zu ihm hinauf? Ich sah genauer hin und erkannte, daß der Mann kein Schornsteinfeger sein konnte, war er auch schwarz gekleidet, und daß sich vom Fabrikdach zur Ruine des Quergebäudes gegenüber, hoch über den Köpfen der Leute, ein Drahtseil spannte. Ich hörte den dumpfen, rhythmischen Schlag eines Tamburins und blechernes Klirren, und dann zwängte sich aus der Menge eine hagere Frau mit pechschwarzem Haar, wohl eine Zigeunerin, die zu den Klängen des Tamburins tanzte, daß ihre Röcke flogen. Dabei rief sie etwas, das ich nicht verstand, und wies nach oben. Wieder warf ich den Kopf in den Nacken und sah den schwarz gekleideten Mann zu einer Stange greifen und prüfend einen Fuß auf das Seil setzen, bis es heftig zu wippen begann.

      Im Hof drehte sich noch immer die Frau zum Takt des Tamburins im Kreis. Als endlich die Menge zu einem regelrechten Auflauf angeschwollen war, bestieg der Mann mit großer Vorsicht das Seil. Mir war, als hielte er sich beim Vorwärtsschreiten an der jetzt quer zum Körper gehaltenen Stange fest. Auf halbem Weg über dem Hof strauchelte er. Mir stockte der Atem, ich spürte ein Sausen im Kopf, hörte es aufstöhnen in der Menge und schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich ihn mit nur einem Fuß auf dem Seil schwanken. Ich wandte mich ab, wollte seinen Sturz in die Tiefe nicht erleben, und nur dem erleichterten Raunen der Menge entnahm ich, daß er sich zum Dach des Quergebäudes gerettet hatte. Dort stand er jetzt mit ausgebreiteten Armen wie ein großer schwarzer Vogel.

      Die Zigeunerin hatte aufgehört, das Tamburin zu schlagen, drängte sich jetzt sammelnd durch die Menge, die sich aufzulösen begann und lichter wurde, bis nur noch wenige übrig blieben. Ich sah sie das im Tamburin gesammelte Geld zählen und als sie fertig war, hörte ich sie aufschreien – ein empörter, schriller Aufschrei war es.

      »Vier Mark siebzehn – mehr ist sein Leben wohl nicht wert!«

      Die Groschen, die ich spenden konnte, ehe ich bedrückt die Schule Schule sein ließ und nach Hause zurücklief, hatten die Summe auf keine fünf Mark gebracht – genau waren es vier Mark und siebenundvierzig Pfennig.

      Bahnwärterhaus

      Rheinland 1938

      Die Eltern wollten, daß ich von Duisburg nach Köln eine Fahrkarte löse und mein Fahrrad per Zug befördere, und als ich dann die Brodski Brüder, David und Schlomo, am Zielbahnhof traf, waren sie erschöpft von der langen Strecke, die sie ohne mich geradelt waren. Auf dem gemeinsamen Weg rheinaufwärts legten sie schon nach kurzer Zeit eine Rast ein, entfachten hinter der Uferböschung ein Feuer, und während sie sich dort ausruhten, sollte ich auf Quartiersuche gehen.

      Eine Bäuerin, die ich ansprach, wollte uns ihre Scheune nicht lassen, sollten wir doch sonstwo schlafen, und ich hatte das Gefühl, sie witterte etwas. Als sich ähnliches mehrfach wiederholte, ich wieder geringschätzig abgewiesen wurde, kam ich mir gebrandmarkt vor. Mir war, als läge Bedrohung in der Luft. Mißmutig kehrte ich zu David und Schlomo zurück, löffelte schweigend die Suppe, die sie gekocht hatten, und brauchte nichts zu erklären. »Werden wir müssen schlafen im Wald«, sagte Schlomo, und das machte mich nicht gesprächiger. Sein jiddischer Tonfall und wie er und sein Bruder die Worte verdrehten, störte mich plötzlich. Immer noch schwieg ich, und dann spülten sie das Kochgeschirr, packten es weg und löschten das Feuer. Wir radelten weiter. Gegen Abend wurde es kalt und wir froren. Der Wind pfiff, die Dynamos surrten, und das Licht der Scheinwerfer irrte


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