Die Zeit berühren. Walter Kaufmann

Die Zeit berühren - Walter  Kaufmann


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mustert, ist mir noch wach in Erinnerung. So musterte er mich an jenem Novembertag vor dreißig Jahren, als ich ins Haus gelangt war und auf die Möbel zeigte, die Bilder an den Wänden, und ihm den Spottpreis vorhielt, den im Krieg sein Schwiegervater meinem Vater für das Haus und alles, was dazu gehörte, angeboten hatte – ein paar lumpige Tausender, die dann in die braune Staatskasse geflossen, ehe die Eltern nach Auschwitz verschleppt worden waren.

      Zorn packt mich wie damals und er spürt es und wie damals glaube ich in seinen Augen einen Schatten von Furcht zu erkennen, die dann in kalten Trotz umschlägt. Er weiß sich im Recht, fühlt sich eingebettet in eine Ordnung, der ich heute so wenig wie damals beikommen kann. Ich merke, daß er mich abtut, und in der Art, wie er sich wieder seiner Arbeit zuwendet, liegt etwas Verächtliches, Höhnisches. Langsam setze ich das Auto, in dem ich gekommen bin, von der Bordsteinkante ab und fahre davon.

      Im Geiste sehe ich ihn weiter im Vorgarten des Elternhauses Laub harken, sehe ihn Körbe füllen, bis das letzte Blatt verschwunden ist und er nach getaner Arbeit ins Haus zurückkehrt. Ich sehe ihn die Gummistiefel abstreifen, die Overalls, ihn in Socken die Treppe nehmen und ins Badezimmer verschwinden, sehe ihn dort, ein nackter Mann, weißhäutig und blaß, die Goldbrille vor den Augen. Er legt die Brille ab, tastet sich zur Dusche vor, wäscht sich, trocknet sich ab, kleidet sich an im Schlafzimmer der Eltern. Bald schon sitzt er beim Sonntagsbraten im Eßzimmer und später am Nachmittag wird er im Biedermeierzimmer den Kaffee zu sich nehmen.

      Um diese Zeit, noch ist es Tag, doch trüb schon und diesig jetzt im November, stehe ich wieder vor dem Elternhaus – was treibt mich noch einmal hierher, warum widerstehe ich dem nicht? Es wird, das schwöre ich mir, das letzte Mal sein, und gegen die Mauer des Vorgartens gelehnt, bin ich von der Vorstellung besessen, daß meine Gegenwart durch das Gestein ins Haus dringt. Gleich werden sich die Gardinen rühren, wird er sich hinter dem Fenster zeigen, mich hier stehen sehen und es wird ihn treffen. Nichts aber regt sich im Haus. Sonntäglich still liegt die Straße da, bis nach einer Weile aus dem stetig sinkenden Nebel ein Auto sich nähert. Es parkt gegenüber dem Haus, die Scheinwerfer gehen aus und zwei Männer und eine Frau überqueren die Straße. Sie plaudern lachend, verstummen als sie mich sehen und mustern mich befremdet – was will der dort? Das frage ich mich nun selbst, und ich wende mich ab, tauche unter im Nebel – wie ein Täter, der den Tatort flieht.

      Rheindampfer

      Düsseldorf 1989

      Wie hieß das Schiff, dort unten am Kai vor der Altstadt – war es Diana? Ich weiß nur, es war geräumig wie die anderen, ein Fahrgastschiff mit großen Fenstern, durch die ich Männer an Tischen sitzen sah. Es war spätnachmittags am Sonntag, und sie saßen da, tranken Bier aus Büchsen, rauchten und der Rauch lag im Raum wie eine Wolke. Irgendwo lief bunt ein Fernseher und eine Gruppe von Männern starrte stumm auf die Bilder. Sollte ich mich als Reporter ausgeben? Mir schien es einfacher zu behaupten, daß ich unter den hier Beherbergten einen Verwandten suchte, einen Karl Rademacher aus Plauen. Die Frau vom Roten Kreuz, die am Eingang Dienst tat, nahm das auch hin und schickte mich ins Büro zu dem Mann, der die Kartei führte. Karl Rademacher, wann soll der eingetroffen sein – seit dem 9. November oder davor über Prag oder Budapest? Ich entschied mich für einen Tag im November und mein lockeres Rheinländisch, Sprache meiner Kindheit, machte ihn zugänglich. Bereitwillig blätterte er die Kartei durch. Nein, einen Karl Rademacher gäbe es nicht. Doch Moment mal, in einem Abstellraum unter Deck sei noch ein zweiter Karteikasten, der mit den Abgängen. Ob ich kurz warten wolle?

      Während er dorthin verschwand, ging ich durchs Schiff. Die Frau hinterm Eingang blickte fragend auf. Gleich würde ich es erfahren, sagte ich ihr, und da ließ sie mich in den Gemeinschaftsraum. Es war warm drinnen und die Luft stickig. Kurzerhand setzte ich mich an den Tisch neben der Flügeltür. Der Mann dort mit der Bierbüchse war älter als die meisten ringsum, vierzig etwa, mit kleinen Augen im runden Gesicht. Meine Frage nach Karl Rademacher überforderte ihn.

      »Kenne hier keinen und will auch nicht«, sagte er in breitem Sächsisch, und bald hatte ich heraus, daß er aus Radeberg stammte, Fleischer war und er sich, seit die Mutter tödlich verunglückt war, niemandem und nichts zugehörig fühlte – auch Radeberg nicht. Von dort war er verschwunden, sobald das möglich wurde, und nun sei er schon drei Wochen auf dem Schiff und bei den letzten paar Mark vom Begrüßungsgeld.

      »Und dann?« fragte ich.

      Mit klobiger Hand beschrieb er einen Kreis. »Immer so weiter«, sagte er.

      Dabei meinte er seine tägliche Arbeitssuche in der Umgebung, von Fleischerei zu Fleischerei und zurück auf das Schiff, wo er in der Viermannkajüte seine Koje hatte und es Essen gab.

      »McDonald's«, sagte er. »Pappteller und Plaste.«

      »Lebt sich doch einigermaßen«, entgegnete ich.

      »Schon richtig«, sagte er. »Bloß Krach ist auch viel, und Schlägereien. Kommt immer auch mal die Polizei, wegen Ladendiebstahl und so. Kann ja nicht ausbleiben. Aber ich halt mich da raus.«

      Ich sagte ihm das von dem zweiten Karteikasten und woher ich das wüßte. »Müssen ja auch Abgänge gewesen sein.«

      »Abgänge sind«, sagte er. »Bloß ich bin noch hier.«

      Er sagte es stumpf, mit wenig Hoffnung, und flüchtig tauchte auch Radeberg auf – wie von sehr fern aus einer anderen Welt.

      »Hat ja keinen Sinn«, sagte er. »Die Mutter tot, die Wohnung weg. Was soll ich da?«

      Ich schwieg, und hätte auch geschwiegen, wären wir nicht durch den Karteiverwalter vom Roten Kreuz unterbrochen worden.

      »Einen Karl Rademacher aus Plauen hat es hier nie gegeben.«

      »Na dann«, sagte ich zu dem Fleischer aus Radeberg.

      »Na dann«, sagte auch er.

      Wir gaben uns die Hand und ich ging.

      Verlagshaus

      Rostock 1964

      »Diese Frau da mitten im Roman – so untypisch«, sagte der Verlagsleiter, »nichts fehlte, würde man sie streichen.« Und dann zitierte er Shdanow. »Typische Menschen in typischen Umständen.« Er schlug vor, das Kapitel noch einmal zu überprüfen, so wie es im Lektorat redigiert worden sei, also »ohne diese Verrückte, die Protestzettel an Bäume klebt.« Danach hieße es nur noch, die Kürzung abzuzeichnen und der Roman wäre im Plan.

      Ich war die Auseinandersetzungen leid und bereit nachzugeben. Zwei Jahre hatte ich an dem Buch gearbeitet, ich wollte es verlegt sehen, und die Frau, die sich dagegen auflehnte, seit jenem 13. August von ihrem bei der Großmutter in Westberlin gebliebenen Töchterchen getrennt zu sein, gehörte tatsächlich zu den Randfiguren. Sie schien entbehrlich. Auch wenn ich ihren Alleingang mit den Zetteln an Bäumen, für den sie belangt und verhaftet worden war, tilgte, bliebe der eigentliche Handlungsablauf intakt.

      Wie lange würde ich brauchen, das Kapitel durchzugehen? fragte der Verlagsleiter. Ich sagte es ihm, er wies mir ein Zimmer zu, wo ich ungestört sein würde, und eine halbe Stunde später trafen wir uns wieder.

      »Nun«, forderte er sanft. »Wie haben wir uns entschieden?«

      Ich schwieg. Obwohl er meinen Widerstand spürte, blieb er zugänglich. Er lächelte, und lächelnd ließ er mich wissen, er verstünde, daß ich mich gegen den Eingriff sträubte. Und wieder zitierte er, Rowohlt diesmal, einen Verleger, den er schätzte.

      »Wenn ein Manuskript ohne den Autor gekürzt wird, wird es nicht kürzer, sondern länger.«

      Ich atmete auf. Er schien ein Einsehen gehabt zu haben. Schon wähnte ich den Roman samt der gestrichenen Seiten im Plan, und es traf mich hart, als ich sein Lächeln schwinden sah.

      »Wir sind also übereingekommen, daß wir nicht übereinkommen können«, hörte ich ihn sagen.

      »So wird es sein.«

      »Meine Hochachtung«, sagte er. »Ein Autor mit Prinzipien.«

      Zwei Jahre vergeblicher Mühe


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