Lehren und Lernen auf der Sekundarstufe II (E-Book). Группа авторов
Koordinationsstelle für Bildungsforschung.
Hans Ambühl
Zur gesamtschweizerischen Verantwortung für die gymnasiale Maturität
Bildungsrechtliche und bildungspolitische Anmerkungen
1Ausgangslage
Die geltenden gesamtschweizerischen Regelungen der gymnasialen Maturität und des gymnasialen Bildungsweges, nämlich das Reglement der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) (1995) bzw. die Verordnung des Bundesrates über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (Schweizerischer Bundesrat & EDK, 1995) sowie der gymnasiale Rahmenlehrplan der EDK (1994), stammen vom Beginn der 1990er Jahre und sind seit 1995 in Kraft. Seither sind grundlegende Entwicklungen vonstattengegangen und teilweise einschneidende Veränderungen eingetreten: Das Wissen hat sich in hohem Tempo vermehrt und ist jederzeit und überall verfügbar geworden; Wissenschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt spielen sich in einem umfassend globalisierten Kontext ab; die Digitalisierung hat alle Lebensbereiche erfasst – die Industriegesellschaft ist zur Informationsgesellschaft geworden.
Die vor bald dreißig Jahren definierten Inhalte und Strukturen des gymnasialen Bildungsweges entsprechen zwangsläufig der dadurch entstandenen Situation nicht mehr, und es ist fraglich, ob sie den gewandelten Anforderungen noch in jeder Hinsicht zu genügen vermögen. Sie müssen überprüft und soweit erforderlich neu ausgerichtet werden – darüber scheint sich mittlerweile ein gewisser Konsens abzuzeichnen. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass die übrigen Bildungsstufen und Bildungsbereiche – namentlich die Studiengänge an den abnehmenden Universitäten, aber auch die zuführende obligatorische Schule – sich im fraglichen Zeitraum verändert haben.
Die im Auftrag von Bund und Kantonen unter der Leitung von Prof. Dr. Franz Eberle vor über zehn Jahren durchgeführte Evaluation der gymnasialen Matura (EVAMAR II) (Eberle et al., 2008) beinhaltete den erstmaligen – und meines Erachtens gelungenen – Versuch, die Anforderungen der universitären Studierfähigkeit in drei Fächern (Erstsprache, Mathematik und Biologie) zu definieren. Die gestützt darauf vorgenommenen Prüfungen der fachlichen Kompetenzen der Maturae und Maturi erbrachten ein grundsätzlich zufriedenstellendes Resultat, wiesen jedoch große Disparitäten und auch gewisse Mängel nach – nicht zuletzt im Bereich basaler fachlicher Kompetenzen, die für praktisch jedes universitäre Studium von Belang sind –, die zu beheben mit zum Ziel der Anstrengungen um eine weiterhin gute Qualität der Schweizer Matura gehören muss. Die von der EDK als Reaktion auf EVAMAR II eingeleiteten Maßnahmen (EDK, 2016) sind ein erster Schritt in diese Richtung.
In den Fokus des bildungspolitischen Diskurses sind überdies vermehrt Fragen der Bildungsgerechtigkeit geraten, nachdem die Quote der gymnasialen Maturandinnen und Maturanden sich zwischen den Kantonen bzw. Regionen noch immer stark unterscheidet – von knapp 15 Prozent eines Jahrgangs bis zum Doppelten (SKBF, 2018, S. 140ff.).2 Diese Disparitäten werfen auf gesamtschweizerischer Ebene auch qualitative Fragen auf, denn die Quote der Maturandinnen und Maturanden korreliert gemäß EVAMAR II mit deren Leistung: je höher die Quote, desto tiefer liegt der Durchschnitt der erzielten Leistung. Es stellt sich daher die Frage: Wie vergleichbar ist im Ergebnis die eine «schweizerische» Matura?
Damit sind schließlich auch Fragen der Governance berührt: Wie wird auf der Ebene des schweizerischen Bildungssystems die Qualitätssorge hinsichtlich der gymnasialen Maturität wahrgenommen und durch wen? Ist die Qualitätssicherung auf systemischer Ebene ausreichend? Fragen, die wenig gestellt und kaum diskutiert werden, obwohl – oder weil? – die gymnasiale Matura seit langer Zeit gesamtschweizerisch normiert und von Kantonen und Bund verantwortet wird. Demgegenüber standen praktisch alle anderen Bildungsstufen und -bereiche seit der neuen Bildungsverfassung von 20063 hinsichtlich einer Harmonisierung ihrer Dauer und ihrer Ziele (Art. 62 Abs. 4 Bundesverfassung)4 und hinsichtlich ihrer koordinierten Governance im Fokus.
Vieles spricht dafür, die aufgeworfenen Fragen rund um die schweizerische gymnasiale Maturität nun anzugehen. Dabei kommt meines Erachtens den inhaltlichen Aspekten Priorität zu, es braucht aber auch prozedurale Klärungen.
2Die inhaltlichen Anforderungen der gymnasialen Maturität mit Blick auf die gewandelten Verhältnisse überprüfen
2.1Prämissen
Das Gymnasium und die gymnasiale Maturität müssen nicht neu erfunden werden. Weder besteht ein generelles systemisches Durcheinander, noch haben wir die Zeit, über Baupläne für irgendwelche Luftschlösser zu debattieren. Vielmehr gibt es Prämissen, über die ein breiter bildungspolitischer Konsens besteht und die den bevorstehenden Arbeiten in aller Klarheit vorangestellt gehören.
Das übergeordnete Ziel der gymnasialen Maturität ist ein zweifaches:
(1.1)Maturi und Maturae sind befähigt, ein universitäres Studium zu absolvieren;
(1.2)Maturi und Maturae sind in der Lage und gewillt, besondere Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen.
Diese (Doppel-)Funktion der gymnasialen Maturität wird in keiner Weise infrage gestellt. Das schweizerische Bildungssystem und das Land sind darauf angewiesen, dass die gymnasiale Maturität sie erfüllt.
(2)Die allgemeinen Bildungsziele, welche dieser Funktion der gymnasialen Maturität entsprechen, sind grundsätzlich in Art. 5 des geltenden MAR bzw. der geltenden MAV in gültiger Weise formuliert. Die Aufgabe von Art. 5 mit dem Titel «Bildungsziel» ist es, auf der normativen Ebene den allgemeinen Bildungsgehalt der gymnasialen Maturität zu beschreiben. Diese Aufgabe erfüllt sein Wortlaut nach meinem Dafürhalten noch immer exzellent. Ich finde darin auch die neuerlich mit der Digitalisierung in den Fokus gerückten Kompetenzen hervorragend umschrieben. Der Artikel will die Allgemeinbildung beschreiben, um die es bei der gymnasialen Maturität im Ergebnis geht, nicht aber «eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung», wie der Artikel – ohne damit Fachlichkeit per se zu negieren – es selbst ausdrückt und wie es meines Erachtens das richtige Verständnis ist. Zum selben Schluss kommt Franz Eberle in seiner einlässlichen Analyse der einzelnen Inhalte von Art. 5 MAR/MAV (Eberle & Brüggenbrock, 2013, S. 10–13). Daher kann ich die Kritik an dieser Formulierung und an Art. 5 MAR/MAV insgesamt, wie sie sich in Peter Bonatis umfassender Analyse der gymnasialen Lehrpläne findet (Bonati, 2017, S. 196), nicht teilen, so sehr ich im Übrigen seinem Postulat nach mehr fächerbezogener Klarheit und Vergleichbarkeit in curricularer Hinsicht zustimme (vgl. nachstehend 2.2).
(3)Die gymnasiale Maturität vermittelt den generellen prüfungsfreien Zugang zu einem Studium an einer schweizerischen Universität und an einer schweizerischen pädagogischen Hochschule (Art. 2 MAR/MAV). Dies ist eine im helvetischen Verständnis des Bildungssystems tief verankerte Konstituente. Sie begründet umgekehrt eine Art Bringschuld der gymnasialen Maturität: Sie hat die universitäre Studierfähigkeit zu erbringen.
(4)Die Zulassung zum gymnasialen Bildungsweg und zur gymnasialen Maturität entscheidet sich an persönlichen Voraussetzungen einzelner Menschen und an qualitativen Leistungskriterien, nicht an quantitativen Steuerungsquoten. Qualitätsorientierung anstelle einer Bewirtschaftung statistischer Quoten: Falls das auch künftig gelten soll, wird es sich freilich mit dem Gebot einer verbesserten landesweiten Vergleichbarkeit verbinden müssen (nachstehend Punkt 4 unter 2.2).
(5)In der Gestaltung des gymnasialen Bildungsweges kommt den Schulen, ihren Leitungen und Lehrkräften eine hohe Eigenverantwortlichkeit zu. Auch diese ausgeprägt partizipatorische Verantwortung vor Ort liegt tief in der schweizerischen Tradition begründet und wirkt zweifellos motivierend und qualifizierend.
(6)Die Gestaltung der formalen Bildungswege erfolgt in unserem mehrsprachigen, kleinräumig strukturierten und nach dem Grundsatz der Subsidiarität funktionierenden Land in Respekt gegenüber den verschiedenen kulturellen Traditionen und Ausprägungen. Ein gewisses Maß an regionalen Unterschieden ist daher auch in Zukunft zu akzeptieren.
2.2Ziele
Diesen Prämissen entsprechend, geht es auch inhaltlich nicht um eine Revolution, sondern um ein Aggiornamento:
(1)Das