Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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      Der Palast der Elektrizität bei der Weltausstellung in Paris, 1900

      Die meisten europäischen Bürger begrüßten den Anbruch des 20. Jahrhunderts mit Optimismus. Sie waren stolz darauf, dass sich ihre Lebensbedingungen stetig verbesserten. Im Sommer 1900 präsentierte die Weltausstellung in ParisParis ermutigende Erfindungen und futuristische Designs, die rund fünfzig Millionen Besucher bezauberten. Die Permanentbauten wie die temporären Pavillons auf dem Marsfeld, ebenso die neu eröffnete Pariser Untergrundbahn, Métro genannt, waren stilistisch eine seltsame Mixtur aus Historismus und Moderne: In ihnen verschmolz eine idealisierte Vergangenheit mit der Art nouveau der Gegenwart. Zu den gezeigten Innovationen gehörten ein gigantisches Teleskop, ein Dieselmotor, eine extrem schnelle Dampflok, daneben Fotografien großer Brücken und anderer technischer Glanzleistungen; ein Laufband verkürzte die Wege zwischen den Ausstellungsorten. Die Hauptattraktion war der Elektrizitätspalast, eine strahlende Demonstration künstlichen Lichts, die schon vorausahnen ließ, was ein französischer Science-Fiction-Zeichner »das elektrische Leben« der Zukunft nannte. Die Weltausstellung und die »Wunder der Wissenschaft und Technik«, die sie so grandios darbot, verstärkten den »Glauben« der Öffentlichkeit »an einen ununterbrechbaren und unaufhaltsamen Fortschritt«.1

      Kritischere Stimmen warnten jedoch davor, dass die »ausgreifende Mechanisierung des Lebens durch den Kapitalismus und den modernen Superstaat« eine gefährliche Krise bewirken werde. Keir HardieHardie, Keir, Führer der Scottish Labour Party, befürchtete ein Wettrüsten zu Lande oder zur See mit neuartigen Waffen und witterte Krieg, während andere sich eher durch den Imperialismus bedroht wähnten. Das Lager der Gesellschaftskommentatoren war gespalten: hier die Kritiker der Dekadenz, denen es vor der »Anarchie der Massen« graute, dort Autoren wie Émile ZolaZola, Émile, die sich über die Profitmacherei in Kaufhäusern und die herzlose Ausbeutung der Arbeiter in den Bergwerken empörten. Der britische Oberrabiner Hermann AdlerAdler, Hermann fürchtete das »Wiederaufflackern rassischer Antipathien und nationaler Animositäten«, während andere Moralisten die »infernalische Selbstsucht« beklagten, die bestimmte »Pseudophilosophen ›Individualismus‹ nennen«. Der Romancier Conan DoyleConan Doyle, Arthur verabscheute die »erregungsfreudige und sensationsgierige Presse ohne Maß und Mitte«, während eine Dame der gehobenen Gesellschaft vor der zunehmenden »Laxheit im Bereich der Ehemoral« warnte. Einige scharfsichtige Beobachter spürten, dass unter der dünnen Schicht der Zivilisation immer noch die »schrecklichste und bösartigste Form der Barbarei« lauerte.2

      Ungeachtet solcher Vorahnungen schauten die meisten Kommentatoren des fin de siècle doch hoffnungsfroh in die Zukunft; sie schlossen einfach von bisherigen Fortschritten auf kommende. Ingenieure prophezeiten, dass aufregende wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen auch das neue Jahrhundert kennzeichnen würden. Sozialreformer waren zuversichtlich, dass verbesserte Methoden des Ackerbaus, gründlichere Hygiene und soliderer Wohnungsbau den Menschen ein längeres und angenehmeres Leben bescheren könnten; endlich müssten sie Hunger und Kälte nicht mehr fürchten. Intellektuelle und Künstler erwarteten, dass der Zuwachs an Meinungsfreiheit und der größere Raum für Experimente ihnen ermöglichen würden, die Grenzen der bisher anerkannten Wahrheiten und Geschmäcker zu überschreiten. Geschäftsleute äußerten die Gewissheit, dass nun die Kolonialkonflikte gelöst würden und Europa friedliche Zeiten bevorstünden, so dass Handel und Warenaustausch über Grenzen hinweg sich intensivieren ließen. Sogar die Führer der Arbeiterbewegung proklamierten: »Das neue Jahrhundert gehört uns!« Mochte der Soziologe Werner SombartSombart, Werner auch eher besorgt auf die völlige Veränderung aller Lebensweisen schauen – es gab viele Gründe zu glauben, dass der weitere Fortschritt sämtliche verbliebenen Probleme beseitigen werde.3

      Die vielversprechende Moderne

      Der Schlüsselbegriff, der diese elektrisierende Fortschrittsvorstellung einzufangen suchte, war der Terminus »Moderne«. Eingeführt hatten ihn die Dichter des französischen Symbolismus in den 1870er Jahren, um ihre künstlerische Abkehr vom realistischen Stil zu rechtfertigen; schon bald fand er als Schlagwort breite Verwendung, wann immer Veränderungen initiiert werden sollten. Ein Jahrzehnt später übernahmen bestimmte Mitglieder der Berliner Literatenszene das Etikett und legitimierten so ihre Bewegung, den Naturalismus, dessen Ausdrucksmittel, wie sie meinten, erlaubten expressiver und kritischer über das »moderne Leben« zu schreiben. Auch in anderen Bereichen bedienten sich Avantgardisten dieses Begriffs und sprachen etwa von »moderner Kunst«, wenn sie mit atonaler Musik oder abstrakter Malerei experimentierten. Bürgerliche Intellektuelle, denen es um Reformen im Lebensstil der Mittelklasse ging, griffen das Wort ebenfalls auf; Wissenschaftler und Erfinder benutzten es, um ihre Entdeckungen zu propagieren. Und so wandelte sich »Moderne« denn am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Lieblingsbegriff intellektueller Kreise, der die Idee suggerierte, hier breche man mit Traditionen, indem man neue Möglichkeiten erkunde.1 Bezog sich die Bezeichnung ursprünglich nur auf innovative Impulse, wurde die Parole »Moderne« nun ein allgemeines Codewort für Fortschritt im Sinne von Befreiung.

      Das Adjektiv modern markiert prinzipiell einen Gegensatz zur Vergangenheit. Ebendies aber macht den Terminus wandelbar, weshalb es stets schwerfiel, seine exakte Bedeutung zu erfassen. Wörterbüchern zufolge wurde der Begriff in der Renaissance geprägt, um die damalige Epoche von früheren Epochen zu unterscheiden, da sie sich abkehre vom klassischen Erbe der Antike, doch auch von der Periode dazwischen, in der religiöser Aberglaube und politische Konfusion geherrscht hätten, also jenem Zeitraum, den wir als das Mittelalter kennen. Dass der Terminus sich allein durch die Differenz zu einer vorherigen Ära bestimmt, bewirkte, dass er selbst kaum festen semantischen Gehalt bekam; wer ihn definieren wollte, musste sich ja auf die Gegenwart beziehen, und die bildete gleichsam ein bewegliches Ziel, da sie sich ständig veränderte. Dank dieser Fluidität konnten in der Geschichte immer wieder kulturelle Avantgarden, nur weil sie mit der Tradition zu brechen beabsichtigten, behaupten, sie seien »modern«, gleichgültig, welchen Stil sie gerade praktizierten. In Philosophie und Politik hieß »modern« oft auch, progressiv-aufklärerische Ansichten zu vertreten, eine weltlich orientierte Einstellung, die für rationales Denken und gesellschaftliche Verbesserungen eintrat.2 Dass diese Konnotationen beliebig ineinanderflossen, hat die weite Verbreitung des Terminus beschleunigt, denn letztlich blieb offen, was eigentlich genau damit gemeint war.

      In ihren Untersuchungen zur raschen Transformation Europas um 1900 haben Sozialwissenschaftler wie Émile DurkheimDurkheim, Émile eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution formuliert, die auf den Prozess der Modernwerdung besonderes Gewicht legte. Als Hauptfaktoren dieser »Modernisierung«, so der neue Fachbegriff, identifizierten sie zentrale Umbrüche in der Entwicklung Europas, darunter die wissenschaftliche, die industrielle und die demokratische Revolution. Darin sahen sie ein Geschehnismuster, das sie zu einem normativen Konstrukt verallgemeinerten; das faktische Ergebnis der Entwicklung Europas erhoben sie zu einem Ideal, das überall auf der Welt erreicht werden sollte. Der Soziologe Talcott ParsonsParsons, Talcott exportierte das Modell in die Vereinigten Staaten und erklärte das genannte Resultat zum »höchsten Ziel des amerikanischen Liberalismus«; das Konzept »definierte« optimistisch »einen universellen historischen Prozess, durch den sich traditionelle Gesellschaften zu modernen wandelten«. Während des Kalten Krieges wurde diese Modernisierungstheorie der demokratische Gegenentwurf zur marxistischen Ideologie. Hauptmotor der Modernisierung sei demnach die ökonomische Entwicklung, der zuliebe der dynamische Geist des Kapitalismus entfesselt werden müsse, der dann eine Wachstumsphase nach der anderen bewirke. Lehrbücher erhoben das Konzept geradezu in den Rang eines soziologischen Determinismus, dem zufolge ein universeller Prozess der Veränderung abläuft, der zwingend zu dem bekannten Ende führt; das westliche System ist dabei Maßstab und Entwicklungsziel.3

      Diese Verengung der Modernisierungstheorie auf eine Ideologie des Kalten Krieges provozierte harsche Kritik aus verschiedenen Richtungen. Einige Globalhistoriker schlagen schon vor, den Begriff gänzlich fallen zu lassen: Er beziehe sich unterschwellig allein auf europäische Erfahrungen, sei also gar zu »eurozentrisch«. Postkoloniale Anthropologen wiederum – eine ihrer Parolen lautet »Europa als Provinz« – wenden ein, dass offener Rassismus und rücksichtslose Ausbeutung die vorgeblich humanen Ziele des imperialen Modernisierungsprojekts unterminiert hätten. Gleichzeitig betonen Wissenschaftler und Philosophen


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