Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Konrad H. Jarausch

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch


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sich durch harte Arbeit voranzubringen, wie sie Samuel Smiles 1859 in seinem Bestseller Self-Help (dt. Hilf dir selbst) feierte, motivierte zahllose Individuen zur Selbstoptimierung, was einen gewaltigen Energieschub freisetzte. Die Suche nach besseren Chancen verstärkte auch die Migration, vom Lande in die expandierenden Städte ebenso wie über den Atlantik in die Neue Welt. Die wachsende Ruhelosigkeit, die nun die Europäer ergriff, war eine wichtige psychologische Motivation für ihre Dynamik.5

      Ein letzter, oft vergessener Faktor war das zunehmende Streben nach Rechtsstaatlichkeit, das schließlich zur Festschreibung der fundamentalen Menschenrechte führte. Selbst absolutistische Monarchen wie der Preußenkönig Friedrich der GroßeFriedrich der Große sahen ein, dass der Handel kaum gedeihen und der Frieden zwischen den Religionen schwerlich aufrechterhalten werden konnte, wenn nicht die Gültigkeit von Verträgen außer Frage stand, die Sicherheit des Eigentums gewährleistet war und der Gesetzgeber bindende Toleranzregeln schuf. In einer Reihe von Kämpfen zwischen Herrschern und Beherrschten, wobei die Französische Revolution und die späteren kontinentalen Revolutionen besondere Merkzeichen setzten, errangen die Untertanen gewisse Bürgerrechte, die sie vor den verheerenden Zumutungen des Staates schützten. Die Redefreiheit eröffnete nun eine öffentliche Sphäre, während die Versammlungsfreiheit die Bildung einer pluralistischen Zivilgesellschaft erleichterte. In Verfassungen verankert, ermöglichten diese schwer errungenen Bürgerrechte erst der Mittelklasse und schließlich auch dem Proletariat, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Obwohl dieser Bürgerstatus nach wie vor in den Bereichen des Sozialen, des Rassischen und des Geschlechts eingeschränkt blieb, lebten doch die meisten europäischen Männer nicht mehr unter einer Willkürherrschaft und fühlten sich um 1900 immerhin so sicher, dass sie sich in öffentliche Angelegenheiten einzumischen wagten.6

      Unter diesen Bedingungen entwickelte sich ein neuer Typus politischer Ordnung, genannt Nationalstaat. Er unterschied sich grundlegend von den Ordnungen in der übrigen Welt. Während Osteuropa noch von Imperien beherrscht war – dem russischen, dem habsburgischen und dem osmanischen –, die sich aus verschiedenen Ethnien und Religionen zusammensetzten, wandelten sich im Gefolge der Französischen Revolution die westlichen Monarchien in neuartige, homogenere politische Gefüge, deren jedes beanspruchte, nur aus einer einzigen Nation zu bestehen. Dieses nationale Ideal bezog sich auf eine gemeinsame Sprache, eine ähnliche Vergangenheit und ein Zugehörigkeitsempfinden der Bürger, das alle bisherigen inneren Unterschiede transzendierte. So entstand ein Staatswesen aus einem Guss, das eine feste Herrschaft über ein bestimmtes Territorium innehatte, mit einer einzigen Verfassung, einem Gesetzeskorpus und einem Münzsystem ebenso wie einem Binnenmarkt, was Wachstum und Handel erleichterte. Diese imaginäre Gemeinschaft erschien italienischen und deutschen Intellektuellen so attraktiv, dass sie versuchten, die fragmentierten Fürstentümer ihres Landes ebenfalls zu einem neu zu schaffenden Nationalstaat zu einen.7 Indem sie ihre Bürger mobilisierte, wurde diese neue politische Organisationsform nicht nur mächtiger als die traditionellen Imperien, sondern es gelang ihr auch, Kolonien in Übersee zu erwerben.

      Der Erfolg des Modells Nationalstaat beruhte zum Teil auf seiner Fähigkeit, Ressourcen zu erschließen. Das ermöglichten ein neuartiger effizienter Verwaltungsapparat und ein allgemeingültiges Steuersystem. Vor der Revolution wurden noch Ämter ge- und verkauft, oder es herrschte Korruption wie bei den Osmanen. Das administrative Korps des Nationalstaats hingegen galt als kompetent und unparteiisch, weil seine Angehörigen vom Staat besoldet wurden und Pensionsprivilegien innehatten. Eine Einstellung bei den Behörden setzte voraus, dass der Betreffende eine universitäre, zertifikatbelegte Ausbildung in Jura oder einer anderen Disziplin durchlaufen hatte; nicht mehr familiäre Beziehungen oder politische Patronage entschieden darüber. Ferner wurden Steuern jetzt nicht mehr willkürlich festgelegt, sondern basierten auf objektiven Kriterien, was die erzielbaren Einnahmen so verlässlich einschätzbar und transparent machte, dass die Regierungen vorausplanen konnten. Im Gegenzug bekamen die Bürger innerstaatlichen Frieden und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. So weit das Ideal – es wurde nicht immer erreicht, aber die Bürokratisierung der Verwaltung erwies sich doch als effizienter und berechenbarer als frühere Praktiken. Dies ermöglichte dem Nationalstaat, sein Wirken auf immer mehr und immer neue Gebiete auszudehnen.8

      Ein zweiter Pfeiler des europäischen Nationalstaats war ein reformiertes Militär, das es ihm erlaubte, eine nie dagewesene Schlagkraft gegen seine äußeren und inneren Feinde aufzubieten. Im Gegensatz zum kostspieligen Söldnertum des Ancien Régime beruhte das revolutionäre Konzept des ›Bürgers in Uniform‹ darauf, dass alle wehrfähigen Männer Militärdienst leisten mussten. Bei Angriffen von außen konnten so mit begrenzten Kosten ganze Massenarmeen ausgehoben werden, und der Staat erhielt Gelegenheit, seinen Rekruten ihre nationalen Pflichten einzutrichtern. Gleichzeitig ermöglichten technische Innovationen – etwa die Repetierbüchse, das Maschinengewehr, die Handgranate und die schwere Artillerie – es den europäischen Soldaten, viel mehr Gegner zu töten als mit Musketen und Bajonetten. Ähnlich verlief die Entwicklung im maritimen Bereich: Dank Kanonen- und U-Booten sowie Panzerschiffen ließ sich auch der Krieg zur See mit mehr Durchschlagskraft führen, befähigten sie doch zu Attacken auf Ziele, die fern der heimatlichen Basis in Übersee lagen. Schließlich maximierten die Generalstäbe durch akribische logistische Planung die Effizienz von Truppenbewegungen. Diese Umstände, zusammengenommen, bildeten die Grundlage der militärischen Überlegenheit Europas.9

      Die internationale Ordnung, in der diese europäischen Staaten dominierten, bestand aus einem informellen »Nichtsystem«, das den Nationen die Möglichkeit ließ, miteinander zu konkurrieren. Nachdem Versuche, die Hegemonie zu erlangen, gescheitert waren – zuletzt derjenige NapoleonsNapoleon Bonaparte –, blieb der Kontinent in mehrere Dutzend unabhängige Staaten fragmentiert. Die Führungsrolle unter ihnen hatten die Großmächte Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich-Ungarn und Russland inne, deren informelles Ensemble man als »Pentarchie« [›Fünferherrschaft‹] bezeichnet; jede davon nahm bestimmenden Einfluss auf ihre Nachbarländer. Das Gefüge war stets flexibel genug, um auch Neuzugänge aufzunehmen, wobei ein dynamischer newcomer wie Preußen bzw. Deutschland schon einmal ein älteres, schwächelndes Mitglied wie Spanien verdrängen konnte. Die Briten nannten dieses System balance of power, ›Gleichgewicht der Kräfte‹; denn sie achteten sorgfältig darauf, dass keiner der Kontinentalstaaten stark genug wurde, um ihr Imperium herauszufordern. In gleicher Absicht – der Sicherheit zuliebe – suchte der deutsche Reichskanzler Otto von BismarckBismarck, Otto von stets ein Bündnis mit zwei anderen Staaten der Pentarchie. Konflikte zwischen kleineren Ländern oder den Großmächten wurden durch internationale Kongresse oder diplomatische Verhandlungen gelöst, und zwar gemäß dem Prinzip, dass, wenn ein Staat einem anderen Staat Gebiet wegnahm, der letztere eine Kompensation erhielt.10 Das System hatte nur eine fundamentale Schwachstelle: Seine Neujustierung erforderte Krieg.

      Zwar waren die führenden europäischen Staaten inzwischen mit nie dagewesener Macht ausgestattet, aber gleichzeitig schufen diese dynamischen Entwicklungen auch enorme Spannungen, die jeden Augenblick zu eskalieren drohten. Scharfsichtige Kritiker wiesen auf die Vielzahl der ungelösten Konflikte hin und zeigten sich besorgt, dass es bald zu einer Krise kommen könnte. Beim Aufteilen der Welt gerieten koloniale Gebietsansprüche mehrfach miteinander ins Gehege, so im SudanSudan, während einheimische Völker beispielsweise in IndienIndien gegen die Fremdherrscher zu rebellieren suchten. Daheim lieferten sich Industrielle und Grundbesitzer, die von der Ausbeutung der Arbeitskraft profitierten, einen erbitterten Klassenkrieg mit dem Proletariat, das sich nun in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierte. In der Öffentlichkeit schürte die Sensationspresse nationalistische Hassgefühle, indem sie andere Länder herabwürdigte, während Agitatoren hässliche Rassenvorurteile mobilisierten. In den östlichen Imperien versuchten nationale Befreiungsbewegungen derweil, sich der Dominanz der jeweiligen Zentren zu entwinden, indem sie lautstark Selbstbestimmung einforderten.11 Um die Jahrhundertwende war Europa also ein sich rasch entwickelnder Kontinent mit einer enormen Machtfülle, aber nicht minder eine von tiefen Klüften durchzogene Gesellschaft, die schließlich seine Länder zerreißen sollten.

      Ambivalenzen des Fortschritts

      Mein Buch baut zwar auf Untersuchungen anderer auf, doch präsentiert es eine eigene Interpretation der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, wobei es besonders


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